«Für immer uf üs»
Das Frühlingskonzert der Musikgesellschaft Ostermundigen ist wie ein Familienfest, man kennt sich. Könnte diese dörfliche Vertrautheit einer Gemeindefusion mit der Stadt Bern standhalten?
Die Musikgesellschaft Ostermundigen hat zum Frühlingskonzert geladen. In den Tellsaal. Seine Adresse steht nicht auf dem Veranstaltungsflyer, Google Maps kennt ihn nicht, das Publikum findet den Weg trotzdem. Eine Stunde vor Konzertbeginn stellen sich die ersten Besucher*innen vor den Kassentisch im Foyer. Rasch sind sie im Gespräch miteinander.
Am Anschlagbrett sucht das Ortsmuseum nach Gegenständen, die Ostermundigens Geschichte geprägt haben. In einer Vitrine glänzt ein silberner Pokal des Mundiger Wirte-Cups von 1991, daneben steht auf einem Plastiksockel das Buch über die Steinbruchbahn Ostermundigen. Hinter der verschlossenen Saaltüre wiederholen die Musiker*innen ein letztes Mal kritische Stellen.
Keine halbe Stunde später ist der Grossandrang an der Kasse vorbei, bezahlt wurde bar oder mit Twint. Die Masse hat sich in den Saal verschoben, an die fünf langen und vier kurzen Tische, die Platz für insgesamt rund 150 Menschen bieten. In der Luft hängt der Geruch einer Dorfbeiz. Ein Blick auf die Speisekarte verrät den Auslöser: die Schweinswurst für fünf Franken. Die Cake-Stücke à zwei Franken können es nicht sein, sie sind einzeln verpackt in Zellophan-Folie, jede Sorte ist mit einer Zutatenliste versehen, verfasst in der Handschrift der jeweiligen Bäckerin.
Doris Reber schiebt sich durch die Tischreihen, schüttelt Hände und umarmt Körper. Seit 31 Jahren spielt die 50-Jährige Bassklarinette in der Musikgesellschaft Ostermundigen (MGO), seit letztem Jahr ist sie zusätzlich Präsidentin des Vereins. Pünktlich um 20 Uhr schliesst sie die Saaltüre. Als sie zurück bei ihren rund 50 Mitmusiker*innen ist, spazieren sie aus dem Seiteneingang auf die Bühne.
Die Noten spielt Doris Reber ab dem iPad. Im Leben abseits der Musik arbeitet sie in der Informatik des Bundesamts für Zoll und Grenzsicherheit. Das Video-Gespräch am Tag vor dem Konzert findet zwischen zwei Sitzungen statt.
«Die Donnerstagabende sind mir heilig» sagt Doris Reber. Hätte Herzblut einen Klang, würde es so tönen wie sie diesen Satz ausgesprochen hat. Ihr fällt kein Beispiel ein, was passieren müsste, um eine Probe der MGO zu verpassen. Dort trifft sie Jugendfreund*innen und Familie: Ihr 82-jähriger Vater spielt mit, ebenso ihre beiden Kinder, 23- und 25-jährig.
Als die MGO während Corona nicht proben durfte, war es «eine harte Zeit» für Doris Reber. Zwischendurch waren Proben mit zehn oder fünfzehn Leute erlaubt, immerhin; später dann grössere, mit Trennwänden zwischen den Musiker*innen. «Die haben wir gemeinsam gebaut. Einer unserer Musiker ist Schreiner und zeigte uns, wie es geht.»
Auf der Bühne haben die Musiker*innen den ersten Marsch gespielt. Nun begrüsst Doris Reber das Publikum, namentlich Gemeindepräsident Thomas Iten sowie die «Vertreter der Behörden und die Delegationen der Gastvereine» und die Presse.
Vier Lieder stehen in der ersten Hälfte auf dem Programm. Vor jedem erklärt Ansagerin Livia Zwahlen, wie es zu interpretieren sei. Die eigene Fantasie darf pausieren. Unter anderem geht es um eine «florentinische Signora» die ihren Partner mit einem solch gewaltigen Wortschwall übergiesst, dass dieser kaum was zu melden hat. «Ist halt so», kommentiert Zwahlen, Gelächter im Saal.
Die Präsidentin hat Fusionserfahrung
Doris Reber ist eine erfahrene Führungsperson: Von 2011 bis 2015 präsidierte sie die Gemeinde Schlosswil. Dass Schlosswil per 1. Januar 2018 mit Grosshöchstetten fusionierte, habe sie zu einem grossen Teil in die Wege geleitet, sagt Reber. Obwohl sie inzwischen in Lyss wohnt, verfolgt sie konstant, wie sich das Dorf ihrer Kindheit seit der Fusion verändert.
Negative Auswirkungen der Fusion habe sie bisher noch keine entdeckt. Sie ist gespannt, wie sich der Wegzug der Schule per August auswirkt. «Es wird wohl ruhig werden im Dorfkern rund um das Schulhaus, das würde ich sehr fest bedauern.» Erleichtert ist sie, dass der Kirchen- und der Männerchor weiterhin an den gleichen Orten und zu den gleichen Zeiten proben wie vor der Fusion und wie gewohnt ihre Konzerte spielen. «Die Grenze wurde vergrössert, aber der Dorfgeist ist der gleiche geblieben.»
Das stimmt Reber zuversichtlich für eine allfällige Fusion von Ostermundigen mit der Stadt Bern, zumindest betreffend des Vereinslebens. «Wichtig wäre, dass wir weiterhin ein Probelokal hätten und einen Konzertsaal, welchen wir zu einem fairen Betrag mieten könnten. In der Stadt Bern ist dies praktisch ein Ding der Unmöglichkeit», sagt sie. Aktuell stellt die Gemeinde der MGO dieses gratis zur Verfügung. Dafür spielt die MGO an Gemeindeanlässen wie dem Herbstmärit oder der Feier zum 1. August.
Gross ein Thema seien die Fusionsverhandlungen in der MGO aber nicht. «Bei Informationsveranstaltungen ist immer jemand von uns dabei. Und sonst zählen wir auf die Blasmusikfreunde im Gemeinderat.»
Im Tellsaal ist Pause. Einige Musiker*innen zieht es zu den Tischen, wo ihre Bekannten sitzen. Dass sich dort drei Generationen versammeln, ist keine Seltenheit. Andere Musiker*innen verkaufen Lösli, zwei Franken das Stück. Eine klassische Tombola mit Gaben der Käserei und Metzgerei gibt es aber nicht. Auf Ovo-Schöggeli kleben Nummern, im Anschluss an das Konzert werden die neun Preise verlost. Der Hauptpreis: Eine Übernachtung inklusive Frühstück in einem Bed and Breakfast in Ferenberg für eine Person.
Junge Frauen in roten T-Shirts mit der Rückenaufschrift «Büezer» servieren Rivella, Bier und Kaffee an die Tische. Sie spielen in der Jugendmusik Ostermundigen. Ein gänzlich weiblicher Verein? Nein, sagt eine der Nachwuchsmusikerinnen. Die Knaben hätten sich einfach nicht gemeldet, als Servicepersonal für das MGO-Konzert gesucht wurde.
Blaue Männer
Die zweite Hälfte des Abends beginnt mit einer Darbietung, für die das Wort «originell» erfunden wurde. Drei Männer in türkisfarbenen Softshelljacken und dunkelblauen Gesichtsstrümpfen trommeln auf Abflussrohre. Ostermundigens Interpretation von «Drumbone» der Blue Man Group. Bevor die drei Perkussionisten ihren regulären Platz in den hinteren Reihen einnehmen, wird ihnen ihr Sondereinsatz mit Schokolade verdankt.
Später richtet Dirigent Mario Bürki das Wort an das Publikum und freut sich «wie es fägt», nach zwei pandemiebedingten Ausfällen endlich wieder ein Frühlingskonzert spielen zu können. Die Frühlingsfrische spiegelt sich auch in den Kleidern der Musiker*innen: Zu schwarzen Schuhen und Hosen tragen sie bunte T-Shirts. «Ein Farbtupfer», sagt Doris Reber. Passend zur Saaldekoration: Von dessen Wänden hängen ausgerollte Krepppapier-Bögen. Gelb, orange, rot, pink, violett, blau, türkis, grün.
Dunkle Klänge haben in diesem Rahmen keinen Platz. Dissonanzen sucht man vergebens, eher wähnt man sich in einem bunten und überladenen Disney-Film. Unterhaltung eben. Und zwar öffentliche: Weil das Licht im Saal nur während ganz leisen Stellen gedimmt wird, ist zumindest die vordere Hälfte der Tische stets erhellt. Ein verträumtes Versinken in die Klangwelten ist nicht möglich, ohne sich den Blicken des Publikums preiszugeben. Wobei das vielleicht gar nicht so entblössend wäre – man kennt sich ja.
So verwundert es nicht, dass Dirigent Mario Bürki den Titel der zweiten Zugabe auf Ostermundiger Verhältnisse umgetitelt hat. Aus Patent Ochsners «Für immer uf di» wurde: «Für immer uf üs».