Wenn der Müllkalender vorgelesen wird
Ein Berner Unternehmen sorgt dafür, dass die städtischen Abstimmungsunterlagen barrierefrei sind. Davon profitieren nicht nur Menschen mit Beeinträchtigung.
Wer blind ist oder eine Sehbehinderung hat, kann sich von einer Computerstimme vorlesen lassen, was auf dem Bildschirm zu sehen ist. Handelt es sich um gewöhnlichen Fliesstext, klappt das – bis auf wenige eigentümliche Betonungen – meist gut. Kritisch wird es, wenn zum Beispiel Grafiken abgebildet sind. Welche Funktion erfüllen sie im Dokument? Welchen Inhalt sollen sie vermitteln? Wenn diese Information nicht hinterlegt ist, werden die Grafiken nicht vorgelesen. Als ob sie gar nicht existieren würden.
Mit diesem Problem hat der Berner Thomas Kunz, der seit 20 Jahren in der IT arbeitet, seine Marktlücke gefunden. Und das kam so: Im Rahmen eines Projekts beim Kanton Bern hatte er Kontakt mit einem blinden Mitarbeiter. «Einerseits fand ich es toll, dass der Kanton Menschen mit Behinderung einstellt. Gleichzeitig sah ich, mit wie vielen Hürden der Kollege konfrontiert war.» Unter anderem mit schlecht aufbereiteten Web-Inhalten und elektronischen Dokumenten. «Mich hat umgetrieben, wie sich diese Situation verbessern lässt.»
2018 gründete er zusammen mit seiner Frau Tatjana und mit Alena Bachmann, einer Freundin der Familie, die MyPAR GmbH. Eine Agentur für digitale Barrierefreiheit mit dem Fokus auf PDF-Dokumente. Heisst: Alle Menschen, auch solche mit einer Behinderung, sollen von den Vorteilen der Digitalisierung profitieren und PDF-Dokumente selbständig nutzen können. Zum Beispiel kommt es darauf an, dass die Dokumentstruktur im Hintergrund korrekt hinterlegt ist und die Farben ein ausreichendes Kontrastverhältnis aufweisen.
Personen und Unternehmen können ihre nicht barrierefreien PDF-Dokumente MyPAR schicken und erhalten sie nach wenigen Tagen aufbereitet zurück – nun barrierefrei. Firmensitz ist in Heimberg, die Büros befinden sich seit Anfang Jahr in der Nähe des Bahnhofs Bern.
Zu den Kund*innen von MyPAR gehört die Stadt Bern. Sie hat unter anderem ihren Entsorgungskalender aufbereiten lassen. In der alten Version hielt das Vorleseprogramm unter anderem die Reihenfolge der Inhalte nicht ein. An welchem Tag in welchem Stadtteil Abfuhr ist, liess sich nicht heraushören. Auch einige Abbildungen, wie zum Beispiel korrekt entsorgter Müll aussieht, wurden ursprünglich ganz ausgelassen. Solche Mängel werden nach einer barrierefreien Aufarbeitung behoben.
Auch alle ihre Abstimmungsbotschaften lässt die Stadt Bern bei MyPAR barrierefrei überarbeiten. «Abbildungen von Karten sind jeweils schwierig. Da muss im Hintergrund klar definiert werden, welche Informationen eine Karte vermitteln will», sagt Alena Bachmann. Gerade am letzten Abstimmungssonntag gab es einen solchen Fall: Auf einer Karte war das Viererfeld rot eingezeichnet. «Vorgelesenen wurde dann, wo in der Stadt sich die Fläche befindet und wie sie erschlossen ist von der Autobahn her», sagt Thomas Kunz.
Was brauchen Menschen mit Behinderungen, damit sie gleichberechtigt am Arbeits- und Sozialleben teilhaben können? Was können wir alle zu einer inklusiveren Gesellschaft beitragen und was sind die Herausforderungen dabei? Diesen Fragen widmet sich die «Hauptstadt» in einem Schwerpunkt zu Inklusion.
Wir schreiben unter anderem über selbstbestimmtes Wohnen mit Assistenz und die entsprechende Gesetzeslage im Kanton Bern und sprechen mit einer Person im Autismus-Spektrum über Begrüssungsrituale und die Deutung von Gesichtsausdrücken. Nach dem Grundsatz «Nichts über uns ohne uns» arbeiten Journalist*innen mit und ohne Behinderungen an diesem Schwerpunkt mit. Längerfristig planen wir auch zu anderen Themen Texte aus der Perspektive von Journalist*innen mit Behinderungen zu publizieren.
Drei ukrainische Informatiker sind angestellt für die Arbeit an den PDF-Dokumenten. Früher arbeiteten sie von der Ukraine aus. «Unsere Idee war, die händische Arbeit aus Kostengründen ins Ausland zu verlagern und gleichzeitig in der Ukraine Arbeitsplätze zu schaffen», sagt Thomas Kunz. Kurz nach Kriegsausbruch sind alle Mitarbeitenden in die Schweiz geflüchtet. Sie lernen intensiv Deutsch und arbeiten immer noch für MyPAR. «Aktuell geht das finanziell natürlich nicht mehr auf. Auf die Expertise der Kollegen wollten wir aber auf keinen Fall verzichten», sagt Tatjana Kunz.
90 Franken pro Stunde kostet die Dienstleistung. «Kleine Broschüren sind in ein, zwei Stunden barrierefrei überarbeitet», sagt Tatjana Kunz. Sie, ihr Mann und Alena Bachmann koordinieren die Anfragen, erstellen Offerten und bieten Beratungen an. Alle drei haben noch andere Jobs. Das Unternehmen ist zu klein, um damit den ganzen Lebensunterhalt verdienen zu können.
Alena Bachmann ist optimistisch, dass die Aufträge weiter zunehmen werden: «Das Bewusstsein in der Gesellschaft für die Bedürfnisse von Behinderten steigt.» Vor fünf Jahren hätte noch kaum jemand gewusst, was «barrierefrei» in Bezug auf die digitalen Inhalte bedeutet. «Durch aktive Arbeit der Interessengemeinschaften, durch politische Fortschritte im Bereich der Barrierefreiheit, aber auch durch hohe Präsenz der wichtigen Akteure auf Social Media sind heute viel mehr Menschen sensibilisiert.»
Auch bei Behörden und Unternehmen stellt Thomas Kunz eine Veränderung fest: «Das Thema ist angekommen.» Er beobachtet, dass immer mehr Fachstellen geschaffen werden, die sich um barrierefreie Inhalte kümmern. «Für das erfolgreiche Umsetzen der Massnahmen spielt es aber eine grosse Rolle, wie engagiert und kompetent die dafür zuständigen Mitarbeitenden sind», hält Alena Bachmann entgegen.
Bei der Stadt Bern leitet Rahel Reinert die Fachstelle Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Seit 2018 versuche die Stadt, viele genutzte PDF-Dokumente wie Informationen ihrer Fachstelle, Erklärungen zu Strafanzeigen oder die Altersstrategie der Stadt Bern barrierefrei bereitzustellen, schreibt Reinert auf Anfrage der «Hauptstadt».
Die Stadt arbeite daran, die barrierefreie Onlinekommunikation auszubauen, so Reinert. PDF-Dokumente sind nur ein Teil davon. In den kommenden Monaten würden zusätzliche Gebärdensprachvideos und Texte in Leichter Sprache auf der Website publiziert. «Informationen so zur Verfügung zu stellen, ist wichtig, da Leichte Sprache für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder Personen mit Lernschwierigkeiten ein Hilfsmittel ist, um an der Gesellschaft teilzuhaben. Das Gleiche gilt für die Gebärdensprache.»
Auch Menschen mit geringen Deutschkenntnissen oder verringerter Lesekompetenz – etwa nach Hirnverletzungen – würden von der Leichten Sprache profitieren, schreibt Reinert. Sie macht den Vergleich mit Rampen im öffentlichen Raum: Diese seien nicht nur für Personen im Rollstuhl wichtig, sondern auch für Menschen mit Kinderwagen oder Rollatoren.
Auch Alena Bachmann ist überzeugt, dass barrierefreie Inhalte allen Menschen Vorteile bringen. «Wenn ich in der prallen Sonne auf mein Smartphone schaue, bin ich froh, wenn der Kontrast zwischen Schrift und Hintergrund hoch ist. Sonst sehe selbst ich als Person mit unbeeinträchtigter Sehkraft wenig. Dazu kommt, dass Suchmaschinen wie Google mit barrierefreien Inhalten dank der klaren Struktur viel besser umgehen können.»
Die Stadt Bern will künftig ihre Online-Inhalte eigenständig barrierefrei aufbereiten. Entsprechende Arbeiten seien am Laufen, schreibt Rahel Reinert. Wenn das klappt, wäre die Stadt nicht mehr auf die Dienste von MyPAR angewiesen. Auch MyPAR selbst bietet Kurse an, in denen sie ihr Wissen weitergeben.
Schafft sich das Unternehmen selbst ab? «Nein», sagt Thomas Kunz. Er ist überzeugt, dass das Angebot von MyPAR eine Zukunft hat. «In Betrieben fehlen oft das Wissen und die zeitlichen Ressourcen für solche Arbeiten.» Und wenn die PDF-Sache erledigt sei, warte – aufgrund der Entwicklung des Internets – bestimmt eine nächste digitale Anwendung, die barrierefrei gestaltet werden müsse.