Doch kein Wurf in den Kastenwagen

Eine Verhaftung auf dem Bahnhofplatz beschäftigt die Berner Medien, Politik und Justiz seit mehr als drei Jahren. Nun spricht das Obergericht einen zuvor vom Regionalgericht verurteilten Polizisten frei.

Polizeiauto fotografiert am Mittwoch, 19. Februar 2025 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
2021 beobachten Journalist*innen eine Verhaftung vor der Heiliggeistkirche. Darauf gibt es ein Strafverfahren gegen zwei Polizisten. (Bild: Simon Boschi)

Der Fall kommt durch einen Zufall ins Rollen: Eine Gruppe Journalist*innen von Bund und Berner Zeitung versammelt sich am frühen Morgen des 11. Juni 2021 vor der Heiliggeistkirche auf dem Berner Bahnhofplatz, um eine Flyer-Aktion gegen die Zusammenlegung ihrer beiden Redaktionen durchzuführen. Dort beobachten einige von ihnen, wie nur wenige Meter entfernt ein Schwarzer Mann von der Polizei verhaftet wird. Auch ein Fotograf ist vor Ort, der Szenen des Polizeieinsatzes festhält. 

Einen Tag darauf veröffentlicht der Bund einen Artikel über die Verhaftung. Darin bezeichnen die beiden Autor*innen den Einsatz als «verstörend» und «teilweise brutal». Sie beschreiben, wie ein Polizist dem Mann das Knie in den Bauch rammte, ihn zu Boden brachte und dann sein rechtes Knie auf den Hals des Mannes legte. Danach sei der benommene und am Kopf verletzte Mann «wie ein Kartoffelsack» in ein Fahrzeug geworfen und abtransportiert worden: «Wir hören, wie sein Kopf auf dem Kabinenboden aufschlägt».

Die Staatsanwaltschaft eröffnet ein Strafverfahren gegen zwei an der Verhaftung beteiligte Polizisten. Im September 2023 beurteilt das Regionalgericht Bern-Mittelland den Fall. 

Es spricht den Polizisten frei, der dem Mann das Knie auf den Hals gelegt hatte. Dennoch bezeichnet das Gericht die Handlung als unverhältnismässig.

Den zweiten Polizisten verurteilt das Regionalgericht wegen Tätlichkeiten und Amtsmissbrauch. Er habe den in Handschellen gelegten Mann mit unangemessener Härte in den Polizeiwagen gestossen, befindet das Gericht. Der Polizist legt Berufung gegen das Urteil ein. Deshalb landet der Fall vor Obergericht. 

Gestossen oder gestolpert?

Die Verhandlung am Dienstag dauert fast acht Stunden. Denn das Obergericht – in Dreierbesetzung – befragt nebst dem beschuldigten Polizisten fünf Zeugen und Auskunftspersonen: drei Journalist*innen und einen Fotografen, die den Einsatz beobachtet haben, sowie einen weiteren Polizisten, der bei der Verhaftung dabei war.

Der Strafkläger ist nicht anwesend. Der heute 30-jährige Marokkaner, den die Polizei damals verhaftete, wurde mittlerweile aus der Schweiz ausgeschafft. Vor Gericht vertritt ihn sein Rechtsanwalt Dominic Nellen.  

Zunächst wird der am Einsatz beteiligte Berufskollege des Beschuldigten als Auskunftsperson einvernommen. Gerichtspräsident Christoph Horisberger will von ihm möglichst genau wissen, wie die Polizisten den gefesselten Mann in den Polizeiwagen brachten. 

Der Polizist kann sich an vieles nicht mehr erinnern. Er beteuert jedoch, dass der Verhaftete nicht in den Wagen gestossen worden sei, sondern beim Einstieg ins Auto einen Tritt verfehlt habe und deshalb gestürzt sei. Er und der Beschuldigte, die den Mann zu zweit abführten, hätten versucht, ihn aufzufangen und danach im Wagen wieder aufzurichten. 

Danach befragt das Gericht die drei Journalist*innen und den Fotografen. Alle schildern den Vorfall anders als der Polizist. Der Mann sei vom beschuldigten Polizisten äusserst unsanft in den Wagen verfrachtet worden. Sie beschreiben die Handlung in unterschiedlichen Worten: «wie einen Kartoffelsack werfen», «eine Mischung aus stossen und fallenlassen», «einen Schupf geben», «bugsieren», «reinwuchten». Oberrichter Samuel Schmid lässt alle Befragten eine Skizze der Situation anfertigen.

Dass der Mann gestolpert sei, schliessen die vier Zeug*innen gemäss ihren Beobachtungen aus. Sie geben auch alle an, der beschuldigte Polizist habe den Mann allein eingeladen und sei nach dem unsanften Sturz weder zu ihm ins Auto gestiegen noch habe er sich um ihn gekümmert. Die Journalist*innen verneinen gesehen zu haben, wie der gefesselte Mann im Auto wieder aufgerichtet wurde. 

Als die Richter den Beschuldigten befragen, betont er: «Es war ein absoluter 0815-Einsatz». Die Verhaftung sei normale, alltägliche Polizeiarbeit gewesen. Auch deshalb könne sich der 43-Jährige nicht an Details erinnern. Wie sein Kollege sagt der Beschuldigte, der Verhaftete sei beim Einladen ins Auto gestolpert und deshalb gestürzt. Die Polizisten hätten ihn danach aufgerichtet und auf einen Autositz gesetzt. 

Was taugen die Journalist*innen als Zeugen?

Sarah Schläppi, Verteidigerin des beschuldigten Polizisten, fordert für ihn einen Freispruch. Sie beschreibt in ihrem Plädoyer zwei Geschichten, die es gegeneinander abzuwägen gelte: eine spektakuläre und eine langweilige. Während die Geschichte der Journalist*innen von unverhältnismässiger Gewalt handle, beschreibe jene der Polizisten bloss einen gewöhnlichen Polizeieinsatz. 

Schläppi stellt die Qualität der Zeugenaussagen in Frage. Sie beruhten auf verfälschten Erinnerungen, weil sich die Journalist*innen im Nachhinein intensiv mit dem Vorfall beschäftigt und ihn auch untereinander besprochen hätten. Eine Journalistin hatte den Verhafteten im Gefängnis besucht. Sie sei voreingenommen. Bei den Einvernahmen durch die Strafbehörden hätten sich die Zeug*innen immer wieder auf ihre Notizen gestützt, die sie nach dem Vorfall angefertigt hatten, statt frei aus den Erinnerungen zu berichten. 

Die Journalist*innen hätten ausserdem vorverurteilend über den Fall berichtet, so Schläppi. Sie bezieht sich auf die massive Kritik des kantonalen Sicherheitsdirektors Philippe Müller (FDP) an der Berichterstattung der Tamedia-Zeitungen, die er nach der erstinstanzlichen Verurteilung des Polizisten erhob. «Die Journalist*innen stehen unter dem Druck, bei einem Freispruch des Beschuldigten ihr Gesicht zu verlieren», sagt Rechtsanwältin Schläppi. Die Zeugenaussagen seien deshalb nicht verwertbar. Ohnehin seien sie inhaltlich unlogisch und widersprüchlich.

Anders sieht es Generalstaatsanwältin Franziska Müller. «Der Fall sticht gerade wegen seiner herausragenden Dichte an Zeugen hervor», sagt sie zu den Richtern. Der Vorwurf, Journalist*innen seien als Zeug*innen nicht geeignet, sei unhaltbar. Deren Aussagen seien glaubhaft, vorsichtig und in den entscheidenden Punkten deckungsgleich. Die Polizisten hingegen hätten nicht übereinstimmend und zudem unplausibel ausgesagt.

Polizeiauto fotografiert am Mittwoch, 19. Februar 2025 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
«Wie einen Kartoffelsack» habe der Polizist den Mann in den Kastenwagen gestossen, schrieben die Journalist*innen in ihrem Artikel. (Bild: Simon Boschi)

Franziska Müller fordert eine Verurteilung des Beschuldigten zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen und einer Busse von 600 Franken wegen Amtsmissbrauchs und Tätlichkeiten. So lautete bereits das Urteil des Regionalgerichts.

Rechtsanwalt Dominic Nellen beantragt dasselbe wie die Staatsanwaltschaft. Nellen, der für die SP im Berner Stadtrat sitzt, kritisiert in seinem Plädoyer auch Philippe Müller. «Nach einem Urteil gegen einen Kantonspolizisten erwarte ich von einem Sicherheitsdirektor, dass er den Vorfall intern aufarbeitet», sagt Nellen. Stattdessen habe Müller die Medien angegriffen.

Zu viele Unklarheiten

Das Gericht verkündet sein Urteil am Mittwochnachmittag. Entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft und dem Urteil des Regionalgerichts spricht es den Polizisten frei.

«Es ist nicht unsere Aufgabe zu prüfen, wer Recht hat: Journalisten oder Polizisten», sagt Gerichtspräsident Horisberger in der mündlichen Urteilsbegründung. Sondern das Gericht müsse prüfen, ob sich ein Sachverhalt ausreichend rekonstruieren lasse. Bei konkreten Zweifeln müsse es den Beschuldigten freisprechen.

Solche Zweifel erkennt das Obergericht in diesem Fall. Es lasse sich nicht nachweisen, dass der verhaftete Mann vom Polizisten mit Gewalt ins Fahrzeug gestossen wurde.

Ein Grund für die Zweifel sind laut Gericht Unterlassungen der ermittelnden Strafbehörden. Sie hätten gewisse wichtige Fragen nie gestellt. «Wir haben dreieinhalb Jahre nach dem Vorfall zum ersten Mal Skizzen erstellen lassen», sagt Horisberger. Das hätte viel früher gemacht werden müssen, findet er. Auch Bilder der Polizeifahrzeuge seien den Zeug*innen erst jetzt vorgelegt worden. Unklarheiten, die davon kommen, dass der Vorfall schon lange her ist und die Erinnerungen verblasst sind, dürfe man nicht dem Beschuldigten anlasten.

In den Aussagen der Journalist*innen erkennt das Obergericht zu viele Widersprüche und Interpretationen. «Wir gehen nicht davon aus, dass sie lügen», sagt Horisberger. Aber es sei oftmals nicht klar, was die Zeug*innen effektiv gesehen und was sie interpretiert hätten.

Anders als übliche Zeug*innen hätten die Journalist*innen nach dem Vorfall intensiv in der Redaktion diskutiert, Notizen und Berichte über die Geschehnisse verfasst. Sie konnten nach Ansicht des Gerichts später nicht mehr frei aus der Erinnerung erzählen. Die Medienberichte und die Notizen der Journalist*innen hätten auch Übertreibungen enthalten, die sie in späteren Befragungen relativierten. Ausserdem hätten sich die Aussagen der vier teilweise widersprochen.

Die Erklärung des Polizisten, der Mann sei beim Einladen gestolpert, schätzt das Obergericht hingegen als glaubhaft ein. Der Polizist habe auch kein Motiv gehabt, den Mann gewaltsam ins Auto zu stossen. Er sei freizusprechen.

Die Staatsanwaltschaft könnte den Fall ans Bundesgericht weiterziehen. Wird das Urteil aber rechtskräftig, ist klar: Um die Deutungshoheit über diesen Vorfall wird nach wie vor gestritten. Strafrechtliche Konsequenzen hat er jedoch keine.

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Diskussion

Unsere Etikette
Toni Menninger
31. März 2025 um 10:59

Bemerkenswert auch, wie das Gericht vier unabhängigen Zeug:innen unterstellt, sich abgesprochen zu haben, Absprachen unter den Polizisten aber gar nicht in Erwägung zieht. Ein Urteil, das die Glaubwürdigkeit der Justiz schwer beschädigt.

Toni Menninger
31. März 2025 um 10:45

Polizisten haben immer recht, unabhängige Zeug:innen, die Polizisten belasten, sind grundsätzlich nicht glaubwürdig.

Solche Doppelstandards darf es in der Rechtsprechung nicht geben. Was hier passiert ist, ist eine absolute Schande für die Schweizer Justiz. In diesem Fall auch eine Schande für den Regierungsrat, den in absolut inakzeptabler Weise Druck auf Justiz und Presse ausgeübt hat.

Kurt Schwander
20. Februar 2025 um 09:47

Wie gehabt! wurde schon je ein Polizist von einem Gericht verurteilt. Im umgekehrten Fall (Gewalt des Marokkaners gegen den Polizisten) hätte das Gericht die Zeugenaussagen der Journalisten als konsistent und höchst glaubwürdig und die Erklärungen des Täters als Schutzbehauptungen qualifiziert

Christoph Junker
20. Februar 2025 um 09:23

Zu diesem Thema gibt es ein neueres Buch aus Deutschland, und die deutschen Verhältnisse dürften nicht wesentlich anders sein als die schweizerischen. Die Autoren Jan Keuchel und Christina Zühlke urteilen, dass Polizeigewalt auf einem Systemversagen beruht. Polizeiliches Fehlverhalten wird von den Verantwortlichen in Polizei und Politik weitgehend ignoriert oder bestritten. Jan Keuchel, Christina Zühlke: Tatort Polizei. Gewalt, Rassismus und mangelnde Kontrolle. Verlag C. H. Beck München 2021, ISBN 978-3-406-77495-9

Das Besondere im vorliegenden Fall ist, dass die Berner Staatsanwaltschaft für einmal eine Anzeige gegen die Polizisten erhoben hat. Unverständlich ist das Urteil des Obergerichts, das unterschiedliche Massstäbe an Polizisten- und Zeugenaussagen anlegt. Seine Kritik an der Untersuchungsbehörde ist eine Aufforderung, in Zukunft solche Untersuchungen schneller und rigoroser durchzuführen.