Wahlen 2024

Die populärsten neuen Stadtratsmitglieder

Populär ist, wer bei den Stadtratswahlen am meisten Stimmen von anderen Listen holte. Valentina Achermann (SP) bei Rot-Grün und Béatrice Wertli (Mitte) bei den Bürgerlichen schnitten am besten ab.

Impressionen von den Wahlen der Stadt Bern,  fotografiert am Montag, 25. November 2024 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Von den Gewählten die populärste Stadträtin: Valentina Achermann. (Bild: Manuel Lopez)

Bei den Wahlen in das Stadtberner Parlament vor drei Wochen war die SP die grosse Siegerin. Sie steigerte ihren Stimmenanteil auf über 32 Prozent und legte um 5 Sitze zu. SP/Juso werden in den kommenden vier Jahren mit 27 Sitzen die mit Abstand stärkste Fraktion im 80-köpfigen Stadtrat sein.

Nun liegen neue Daten zu den Stadtratswahlen vor: die sogenannten Panaschierstimmen. Die Wählenden hatten von jeder Partei eine vorgedruckte Wahlliste mit deren Kandidierenden. Diese konnte man unverändert einwerfen – oder handschriftlich verändern, indem man etwa einzelne Kandidierende strich, kumulierte (doppelt aufschrieb) oder durch Personen von anderen Parteien ersetzte. Die Vermischung mit Personen anderer Parteien nennt man Panaschieren.

Rudolf Burger, früher Journalist beim «Bund», hat die Panaschierstimmen für die «Hauptstadt» unter die Lupe genommen. Seine Analyse erlaubt interessante Aussagen. Zum Beispiel darüber, welche Kandidierenden dank erhaltener Stimmen von aussen die parteiinterne Konkurrenz überholten. Oder zur Parteidisziplin, zur Popularität der Kandidierenden, zur Frauenfreundlichkeit und zur Parteiaffinität.

1. Überholen dank Panaschieren

Panaschierstimmen machen bei den Stadtratswahlen in Bern zwar bloss 5,8 Prozent aller Stimmen aus (Gemeinderatswahlen: 12,8 Prozent). Trotzdem können sie für Wahl oder Nichtwahl entscheidend sein. So verdanken immerhin 7 der 80 Stadträtinnen und Stadträte ihre Wahl einem Plus an Panaschierstimmen gegenüber der internen Konkurrenz. Andere holten parteiintern mehr Stimmen, aber Stimmen von aussen brachten die 7 Erfolgreichen in den Stadtrat. Das waren die entscheidenden Duelle:

Bei den Freisinnigen verdankt Chantal Perriard ihren Sitz den Panaschierstimmen, parteiintern bevorzugt wurde Raphaël Karlen. Bei der GFL sind Michael Burkhard und Michael Ruefer die Profiteure der Panaschierstimmen, das Nachsehen hatten trotz grösserer parteiinterner Unterstützung Christoph Leuppi und Michael Steiner. Bei der Alternativen Liste schaffte David Böhner bei den Panaschierstimmen ein sehr gutes Ergebnis, parteiintern schnitt Lea Beer besser ab. Bei der SP liegen Shasime Osmani und Dominique Hodel dank Panaschierstimmen vor Jacqueline Brügger und Stefania Bardaro. Bei der Mitte holte Laura Curau rund 50 Panaschierstimmen mehr als Nicolas Lutz und wurde gewählt.

2. Die Disziplin der SVP

Es gibt fast keine Wahlbroschüre, in der die Wählenden nicht aufgefordert werden, doch am besten eine unveränderte Liste einzulegen, vielleicht zu kumulieren, aber auf keinen Fall zu panaschieren. Wie gut solche Appelle an die Parteidisziplin bei den Stadtratswahlen befolgt wurden, zeigt die folgende Tabelle. Massstab für die Parteidisziplin ist Anzahl Panaschierstimmen, die von den Wählerinnen und Wählern der einzelnen Parteien je erhaltene Liste verteilt wurden. Berücksichtigt sind nur Parteien, die mindestens einen Sitz erobert haben.

Die klar beste Parteidisziplin zeigt die SVP. Je Liste verteilte ihre Wählerschaft bloss 1,26 Panaschierstimmen, also etwas mehr als eine Stimme pro Liste, was bei der grossen Zahl von 80 Zeilen auf der Liste ein erstaunliches Resultat ist. Allerdings war bei der SVP, wie auch bei der Mehrheit der anderen Parteien, dank der Möglichkeit der Vorkumulation jede dieser 80 Zeilen gefüllt.

Nicht so bei den drei letztplatzierten Parteien PdA, Tiere im Fokus  und AL. Bei den rot-grünen Parteien sorgten die Wählerinnen und Wähler der SP mit dem Wert von 3,16 pro Liste für die beste Parteidisziplin. Auffallend ist, dass bei den linken und grünen Parteien im Durchschnitt je Liste rund anderthalb Mal so viele Panaschierstimmen abgegeben wurden wie bei der Mitte, GLP und rechts.

3. Panaschierkönigin Ursina Anderegg

Werden die 535 Kandidierenden für den Stadtrat nach dem Total ihrer Stimmen aufgelistet, liegt Valentina Achermann (SP) auf Rang 1. Auch die folgenden 19 Plätze werden ausschliesslich von SP-Leuten belegt. Die Erklärung dafür ist einfach: Die SP war die mit Abstand stärkste Partei, was sich im Total ihrer Stimmen widerspiegelt.

Nach dem Stimmentotal auf Rang 21 hat es die eigentliche Siegerin dieser Wahlen geschafft: Ursina Anderegg (Grünes Bündnis). Sie wurde in die Stadtregierung gewählt, hatte aber auch für den Stadtrat kandidiert. Und dort machte sie bei den Panaschierstimmen ein sehr gutes Ergebnis.  Sie hat pro 1000 parteifremde Listen 98 Panaschierstimmen geholt. Das bedeutet: Von zehn Listen, die nicht für das Grüne Bündnis eingelegt wurde, ging im Durchschnitt fast eine Stimme an Anderegg. Auf Platz zwei – und damit auf Platz eins bei den Gewählten - liegt die nach ihrem Stimmentotal (25’727) bestplatzierte Valentina Achermann mit 74 Panaschierstimmen auf 1000 Listen, auf Platz drei Lena Allenspach (SP) mit 62 Panaschierstimmen pro 1000 Listen.

Panaschierstimmen sind der beste Massstab für Popularität, weil sie erstens handschriftlich verteilt und zweitens durch eine einfache Rechnung auch die Parteistärken berücksichtigt werden können. Da den Kandidierenden grosser Parteien eine kleinere Zahl möglicher Panaschierstimmenlieferanten gegenübersteht, muss die Zahl der erhaltenen Panaschierstimmen mit der Zahl parteifremder Listen abgeglichen werden. Für den Spezialfall Stadtratswahlen Bern ist es weiter sinnvoll, die Kandidierenden von Rot-Grün und Mitte-rechts in zwei Popularitäts-Ranglisten zu führen, weil vom rot-grünen Lager rund anderthalb Mal soviel panaschiert wurde wie bei Mitte-rechts.

Von den ersten 20 der rot-grünen Popularitätstabelle wurden 19 in den Stadtrat gewählt. Erstaunlich ist das gute Ergebnis für die Einzelmaske Roland Müller von der «paneuropäischen» Partei Volt: Er liegt auf Rang 16, seine Partei war aber deutlich zu schwach für einen der 80 Sitze. Mit Lukas Schnyder und Roland Müller haben es nur zwei Männer unter die besten 20 geschafft. 

Bei Mitte-rechts ist Béatrice Wertli die populärste Kandidierende. Sie liegt mit 51 Panaschierstimmen auf 100 Listen deutlich vor Florence Pärli (JF, 38 Stimmen). Weil die Jungfreisinnigen zu wenig Stimmen holten, verlor Pärli trotz hoher Popularität ihren Sitz im Stadtrat. Unter allen Kandidierenden liegt Wertli mit ihrem Resultat auf Rang 5, Pärli auf Rang 19.

Auffallend ist, dass die wie Pärli erfolglosen, aber populären Evelyne Tauchnitz, (Rang 6), Björn Walker (18) und Lionel Stürmer (20) alle auf der Liste der Piraten antraten. Auch wenn ihrer Partei ein Mandat versagt blieb, können sie sich mit einem guten persönlichen Resultat trösten.

Janosch Weyermann, der wie Wertli und Pärli auch für den Gemeinderat kandidiert hatte, schaffte es auf Rang 8. Als  einziger SVPler brachte er es unter die besten 20 der Gesamtrangliste. Mit Blick auf die Parteien fällt die gute Vertretung der GLP (6 Kandidierende) und mit Blick auf die Geschlechter das im Vergleich mit Rot-grün ausgewogenere Verhältnis zwischen Frauen (12) und Männern (8) auf.

4. SP am frauenfreundlichsten

Im neugewählten Stadtrat sitzen 48 Frauen und 31 Männer und eine nonbinäre Person. Aufgeteilt in die beiden Lager sieht das so aus: 32 Frauen, 17 Männer eine nonbinäre Person bei Rot-grün, 16 Frauen und 14 Männer bei Mitte-rechts. Auch die beiden Tabellen zu den Populärsten lassen vermuten, dass bei den rot-grünen Parteien enorm frauenfreundlich gewählt wurde. Das vermittelt die Verteilung der Panaschierstimmen nach Geschlecht.

In der Grafik ist für jede Partei berechnet, wie von ihrer Wählerschaft die Panaschierstimmen an die Kandidatinnen und Kandidaten der anderen Parteien verteilt wurden. Der Durchschnittswert für Männer wurde auf 100 Prozent gesetzt, und damit der Durchschnittswert für Frauen verglichen.

Am frauenfreundlichsten panaschierten die Wählerinnen und Wähler der SP. Der Wert von 279 Prozent bedeutet, dass Frauen von der SP fast dreimal so viele Panaschierstimmen erhielten wie Männer. Ähnlich gut wurden Frauen bei der Alternativen Linken panaschiert, etwas geringer, aber immer noch deutlich besser als Männer, auch bei den übrigen rot-grünen Parteien.

Beim Lager Mitte-rechts schnitten Frauen nur bei der GLP (121 Prozent) besser ab als Männer, bei der Mitte gab es Gleichstand, bei EVP, SVP und FDP weniger Stimmen für Männer. Etwas überraschend ist sicher das Schlusslicht (85 Prozent) für die FDP. Frauen erhielten auch von den Listen ohne Bezeichnung (163 Prozent) und in der Gesamtbilanz (175 Prozent) mehr Panaschierstimmen als Männer.

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(Bild: zvg)

 5. Grünes Bündnis am konsequentesten

Wie sehr die parteipolitischen Verhältnisse in der Stadt Bern polarisiert sind, zeigt sich auch in dem nach Herkunft und Empfänger*innen aufgeschlüsselten Panaschierverhalten. Von den Wählenden des Grünen Bündnisses gingen 92 Prozent der Panaschierstimmen an die andern rot-grünen Parteien, nur 7 Prozent an die Mitte und sogar nur 1 Prozent an FDP und SVP. Noch leicht übertroffen in der Bevorzugung des linken Lagers wurde das Grüne Bündnis von AL/PDA. Anders die SP, die immerhin 13 Prozent an die Mitteparteien, aber auch nur 3 Prozent an FDP und SVP verteilte.

Wie die Grafik zeigt, neigen die Wählenden der Grünen Freien Liste etwas weniger nach links, in diesem Lager blieben «nur» 68 Prozent der Stimmen. Bei den rot-grünen Parteien,  inklusive Grüne Freie Liste, wird insbesondere die SVP wie eine Paria behandelt: Bei allen liegt der Anteil der Stimmen für die SVP unter einem halben Prozent. So gab es beispielsweise von der Alternativen Liste für die SVP nur gerade zwei Panaschierstimmen.

Die GLP entpuppt sich als klassische Mitte-Partei: 52 Prozent nach links, 48 Prozent nach Mitte und rechts. Die Mitte dagegen gehört klar ins bürgerliche Lager, nur 26 Prozent der Panaschierstimmen gingen nach links, aber 47 Prozent nach rechts.

Von der FDP gingen mehr Stimmen an Rot-grün (13 Prozent) als bei der SVP (8 Prozent). Im Verhältnis dieser beiden Parteien fällt auf, dass von der SVP wesentlich mehr Stimmen an die FDP gingen als umgekehrt (58 Prozent gegenüber 25 Prozent). Die Liste Aufrecht, die zum rechten Lager gezählt wurde, hat von allen Parteien mit Ausnahme der SVP (2 Prozent) deutlich weniger als 1 Prozent der Panaschierstimmen erhalten.

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Methodische Anmerkungen

Berücksichtigt in diesen Analysen sind nur die sogenannten «echten» Panaschierstimmen. «Unecht» sind Panaschierstimmen, die unter den verschiedenen Unterlisten und Hauptlisten verteilt wurden, zum Beispiel die Panaschierstimmen der FDP an die Jungfreisinnigen und die Panaschierstimmen der SP an die Jusos und umgekehrt. Im Sinn einer übersichtlichen Darstellung wurde die Werte für solche Haupt- und Unterlisten zusammengerechnet, so sind bei der FDP auch die Panaschierstimmen der Jungfreisinnigen, bei der SP die Stimmen der Juso dabei. 

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Diskussion

Unsere Etikette
Toni Menninger
18. Dezember 2024 um 21:00

Gibt es eine abschliessende Analyse der Wahlkampffinanzierung?

Toni Menninger
18. Dezember 2024 um 21:00

Danke für die Analyse. Hat jemand analysiert, ob das bürgerliche Bündnis sich auf die Panaschierbereitschaft beim Gemeinderat ausgewirkt hat? Es wurde ja gemutmasst, dass die GLP sich eher ein Bein stellt, wenn sie mit der SVP zusammengeht.

Mi

Cyril Franzini
17. Dezember 2024 um 16:47

Die AL heisst Alternative Linke Bern. Die Alternative Liste ist in zürich tätig;)

Simon Bünzli
17. Dezember 2024 um 15:13

Vielen Dank für die ausführliche Auswertung. Gerne mehr datenbasierten Journalismus, so aufwändig das auch ist.

Ein Detail: Ursina Anderegg hat „bloss“ von etwa 10% der anderen Listen Panaschierstimmen erhalten (98 von 1000), was eindrücklich genug ist, aber wohl mit inner-rot-grünem Panaschieren erklärbar ist. (Der Text passt in dieser Hinsicht nicht zu den Tabellen.)