Wie Papagei Yerosha von Charkiw nach Unterzollikofen kam

Von einem Tag auf den anderen hat sich das Leben für Millionen von Ukrainer*innen verändert. Doch in all dem Leid gibt es auch einen Alltag. Und sei es, die tierischen Flüchtlinge gut zu versorgen. Zu Besuch bei Papagei Yerosha und Katze Gaby in Unterzollikofen.

Papagei Yerosha
Für den Moment in Unterzollikofen angekommen: Graupapagei Yerosha. (Bild: Manuel Lopez)

Papagei Yerosha will jetzt nicht sprechen. Er sitzt auf seinem Käfig und dreht den Kopf demonstrativ Richtung Fenster. Er ist Gäste in dem engen Zimmer nicht gewohnt. «Yerosha», ruft Yana Kaysina mit zuckersüsser Stimme. «Yerosha, wie macht die Katze?». Yerosha dreht den Kopf, bleibt aber stumm. Dann flattert er hinüber und setzt sich auf die Schulter von Yana Kaysina. Augenblicklich wechselt die Stimmung, kehrt Vertrautheit und Ruhe ein.

Papagei Yerosha
Yana Kaysina spricht mit Papagei Yerosha. (Bild: Manuel Lopez)

Yana Kaysina (51) und ihre Tochter Darya (27) sind aus der ostukrainischen Stadt Charkiw in die Schweiz geflüchtet. Momentan wohnen sie im Asylzentrum Unterzollikofen in einem kleinen, zweckmässigen Zimmer mit Kajütenbett. Mit ihnen leben die graue Katze Gaby und der afrikanische Graupapagei Yerosha. Mutter und Tochter Kaysina sind mit den Haustieren geflüchtet. «Wir haben nie überlegt, sie nicht mitzunehmen», sagt Yana Kaysina, «sie sind wie unsere Kinder».

Etwa 1500 Haustiere sind hierher mitgekommen

Knapp fünf Prozent der bisher hier registrierten Ukrainer*innen sind mit ihren Haustieren geflüchtet. Das heisst, dass schätzungsweise schon gegen 1500 Tiere mit ihren Besitzer*innen in die Schweiz gekommen sind.

In der Ukraine halten sehr viele Familien Haustiere, auch in den Städten. Katzen und Hunde sind am verbreitetsten, Zoohandlungen in jedem grösseren Ort zu finden. «Bei uns herrscht ein Kult der Haustiere», sagt Yana Kaysina. Sie kommt aus dem Ort Kramatorsk im Gebiet Donezk. Es ist der zweite Krieg, den sie erlebt. Der erste startete 2014. Damals zogen sie und ihr Mann zur Tochter nach Charkiw. Nun ist die Student*innenstadt umkämpft, viele Gebäude zerstört. «Wir wollen gar nicht wissen, was mit unserer Wohnung ist», sagen die beiden, «wir fragen nicht». Solange sie im Fernsehen nicht ihr zerstörtes Haus sähen, so lange hofften sie, es sei noch ganz.

Katze Gaby
Katze Gaby schlief in Charkiw nicht, wenn es Bombenangriffe gab. (Bild: Manuel Lopez)

Die ersten elf Tage nach Kriegsausbruch verbrachten sie in der Stadt, sie richteten sich im Keller ihres Wohnhauses ein. «Es wurde die ganze Zeit geschossen», sagt Darya Kaysina. Sie hielten sich an Katze Gaby. Wenn die ruhig schlief, konnten auch sie die Augen schliessen; wenn sie zuckte, die Ohren nach hinten legte, unruhig wurde, dann wussten sie, dass wieder Raketen flogen.

«Wir wollten weg, aber im Wagen war kein Benzin – wir hatten ja nicht mit Krieg gerechnet», sagt Yana Kaysina. Die Tankstellen waren geschlossen. Am elften Tag sah sie auf Facebook eine Inserat für Benzin. «Ich hätte alles dafür gezahlt», sagt Yana Kaysina. Ein Mann brachte es ihnen. Sie packten als erstes die Tiere in den Wagen, als zweites die Nahrung für die Tiere, dann die Pässe, eine Sporttasche mit Kleidern. «Wir fuhren sofort los», sagt die Mutter, «hielten nie an». Erst im ruhigeren Westen stoppten sie. Sie wollten Käfige kaufen für die Tiere, denn Gaby war in einem Rucksack, Yerosha in einer Kartonschachtel untergebracht. Die grosse Volière von zuhause hatten sie nicht mitnehmen können. «Aber alle Käfige waren ausverkauft». Egal, wo das Quartett anhielt, nirgends gab es Tierkäfige. Überall waren sie seit dem 24. Februar, dem Tag des Kriegbeginns, ausverkauft. Erst in Deutschland fanden sie welche.

Papagei Yerosha und Katze Gaby
Die tierischen Flüchtlinge in ihrem temporären Zuhause in Unterzollikofen. (Bild: Manuel Lopez)

Zehn Tage dauerte es schliesslich, bis die vier in Bern waren. «Es ist schwierig mit Tieren auf der Flucht», sagt Yana Kaysina. Sie bräuchten viel Schlaf, Yerosha sollte regelmässig fliegen können. In Charkiw ist sie häufig mit ihm an der Leine spazieren gegangen. In der Schweiz ist das nicht erlaubt. Das hat sie herausgefunden, als sie eine Leine kaufen wollte. Papageien sind sehr lernbegierig, wollen die ganze Zeit herausgefordert werden. «Sie haben den Intellekt eines drei- bis fünfjährigen Kindes», sagt Yana Kaysina.

Papagei Yerosha
Yerosha fliegt gerne auf den Kopf von Yana Kaysina. (Bild: Manuel Lopez)

Wie wenn er wüsste, dass von ihm die Rede ist, flattert Yerosha auf ihren Kopf, scharrt in ihren Haaren. «Das liebt er», sagt Tochter Darya, «er massiert ihr den Kopf.» Nun fängt er auch an, Töne zu machen. Er scheint sich zu entspannen. Bald wird der Papagei auch hier eine grössere Volière bekommen, sie ist schon bestellt.

«Er nennt mich immer Yanotschka», erzählt Yana Kaysina. Yanotschka ist der Kosename für Yana. Kaysinas Mann nennt sie so. «Yerosha kann sogar seine Stimme imitieren, er liebt Männerstimmen», sagt Yana Kaysina und hat jetzt Tränen in den Augen. Ihr Mann ist momentan in Kramatorsk. Dort war er, als der Krieg ausbrach, denn die Familie hat immer noch ein Haus und Hunde in ihrer Heimatstadt. Es sind Rassehunde; Yana Kaysina ist Hundezüchterin, fuhr früher mit ihren Hunden in ganz Europa an Ausstellungen.

«Als wir die Grenze zu Polen überquert hatten und meinen Vater anriefen, jubelte er»

Darya Kaysina

Vom ersten Kriegstag an war Charkiw von Kramatorsk abgeschnitten. Yana Kaysinas Mann bestand darauf, dass Frau und Tochter flohen. «Er ist ja kein emotionaler Mann, aber als wir die Grenze zu Polen überquert hatten und ihn anriefen, jubelte er», sagt seine Tochter Darya. Er habe «Hurra! Hurra!» gerufen. Eigentlich wollte Yana Kaysina danach direkt zu ihm zurück und nur die Tochter und die Tiere in Sicherheit lassen. Aber er liess es nicht zu. Er sagte, es sei zu gefährlich, noch einmal die ganze Ukraine zu durchqueren.

Und so fuhren sie weiter, die Tiere auf dem Rücksitz, Richtung Schweiz. «Wir haben Angst vor einem Dritten Weltkrieg, deshalb wollten wir in die Schweiz», sagen die beiden, «die Schweiz ist nicht in der Nato, hier sind wir sicher.»

Papagei Yerosha
«Chotschu banan», ruft Yerosha jeweils. (Bild: Manuel Lopez)

Es klopft an der Tür. Yerosha dreht den Kopf, sagt gut verständlich: «Kto tam?» – «Wer ist da?» Alle lachen. Die angespannte Stimmung ist auf einen Schlag verschwunden. Yerosha sei dank. Vor der Tür steht ein Mitarbeiter des Zentrums, «Free food», ruft er, und stellt eine Kiste mit Früchten, Gemüsen, Pasta und Konserven ins Zimmer. Lebensmittelspenden von Grossverteilern. Erdbeeren sind dabei – und Bananen.

Yerosha liebt Bananen. «Er nimmt sie in seine Krallen und isst sie wie ein Mensch», erzählen Yana und Darya Kaysina. «Chotschu banan», ruft Yerosha jetzt. «Ich will eine Banane.»

Vogelspezialist gesucht

Natürlich bekommt er sie. So wie seine beiden Besitzerinnen sowieso fast alles für ihn tun. Ihre Hauptsorge in den ersten Tagen in der Schweiz galt denn auch der Suche nach jemandem, der Yerosha Papiere ausstellen konnte. «Ein Tierarzt kam ins Asylzentrum und stellte Papiere für Gaby aus», erzählt Yana Kaysina. Doch bei Vögeln sei er dafür nicht befugt gewesen. Nach etlichen Aufrufen und dank der Hilfe einer Schweizer Freiwilligen fanden die Frauen schliesslich einen Vogelspezialisten, der Yerosha legalisierte.

Normalerweise brauchen Tiere, die in ein anderes Land eingeführt werden, Papiere. Diese Regel wurde bei den Flüchtenden aus der Ukraine ausser Kraft gesetzt. Darum müssen die vielen Haustiere, die nun von der Ukraine in die Schweiz eingeführt werden, alle registriert werden. Die Tiere müssen hier nicht in Quarantäne. Katzen dürfen jedoch während 120 Tagen das Haus nicht verlassen, Hunde müssen für diese Zeitspanne immer an der Leine geführt werden. Denn die Ukraine gilt als Hochrisikoland für Tollwut. Auch Vögel können Tollwut bekommen, theoretisch auch Yerosha.

Papagei Yerosha
Es war Liebe auf den ersten Blick. (Bild: Manuel Lopez)

Es war Liebe auf den ersten Blick mit Yerosha, erklären Yana und Darya Kaysina. Schon seit Jahren habe Darya sich einen Papagei gewünscht. Habe mehrere Konten von sprechenden Vögeln auf Instagram verfolgt, Fachbücher über die Vögel gelesen. «Papa war dagegen», sagt sie jetzt. Doch als sie letzten Sommer Katzenfutter in einer Tierhandlung kaufen wollte, erblickte sie dort Yerosha in einem Käfig. «Ich wusste: der oder keiner.» Auch Yana Kaysina kam daraufhin in die Tierhandlung und konnte nicht mehr aufhören, an Yerosha zu denken. Eine Woche bearbeiteten sie den Vater, dann stimmte er zu. «Hätte die Tierhandlung ihn schon verkauft gehabt – ich hätte nie mehr einen anderen Papagei gewollt», sagt Tochter Darya.

Papagei Yerosha
Yerosha knabbert gerne an Zahnbürsten. (Bild: Manuel Lopez)

Inzwischen ist die Banane uninteressant geworden und Yerosha knabbert an einer Zahnbürste. Die Angestellten im Asylzentrum würden immer wieder Spielsachen für Yerosha vorbeibringen, er habe schon eine ganze Sammlung, sagen die beiden. Einige Sachen haben sie auch selber gebastelt oder gekauft. Es ist eng hier im Zimmer, aber die vier Geflüchteten sind dankbar und zufrieden. «Schreiben Sie das unbedingt», sagt die Mutter.

«Ich tue, was ich kann»

Seit gut zwei Wochen hat die Universität in Charkiw, wo Darya arbeitet, wieder den Unterricht aufgenommen. Darya Kaysina unterrichtet Philologie aus ihrem Zimmer in Unterzolliken. «Ich tue, was ich kann», sagt sie. Die Server der Universität seien an einen sicheren Ort gezügelt worden. Aber viele Student*innen würden fehlen. «Manche haben sich als Freiwillige bei der Armee gemeldet», erzählt sie. Andere seien damit beschäftigt, nach vermissten Bekannten zu suchen. Zwei seien gestorben, einer im Kampf, einer auf der Flucht. «Ich tue, was ich kann», wiederholt Darya Kaysina. Sie ist hier in Sicherheit, aber sie fühlt sich für ihre Student*innen verantwortlich.

Was die Zukunft bringt, weiss sie nicht. Neben ihrer Lehrtätigkeit macht sie ein zweites PhD-Studium in Strassburg, per Fernunterricht. Zuerst aus Charkiw, jetzt aus Unterzollikofen. Soeben hat sie die erste Prüfung bestanden. Der Kurs habe Ende Februar angefangen, auf der Flucht habe sie viele Stunden verpasst. «Für den Test wählte ich den letzten Termin, am allerletzten Tag.» Der Papagei daneben, die Katze schlafend auf dem Bett. Im Kopf die Ungewissheit in der Heimat. «Seit der Krieg angefangen hat, mache ich keine Pläne mehr», sagt die 27-Jährige, «ich weiss nicht, was morgen ist. Ja, ich weiss nicht einmal, was in einer Stunde ist.»

Katze Gaby
Gaby mag es, herumgetragen zu werden. (Bild: Manuel Lopez)

Gaby ist erwacht, auch sie will Aufmerksamkeit. «Yerosha liebt Gaby, aber Gaby mag Yerosha nicht», sagt Yana Kaysina. Sie sei eifersüchtig. «Sie sind wie Kinder», sagt Darya Kaysina noch einmal. Sie nimmt Gaby, legt sich die graue Katze über die Schulter, diese schliesst geniesserisch die Augen. «Wenn plötzlich Krieg in deiner Heimat herrscht, werden alle anderen Probleme unwichtig», sagt Darya Kaysina und streichelt Gaby. Früher sei sie in der Nacht wachgelegen, habe sich gesorgt, weil sie am nächsten Tag eine Prüfung gehabt habe – oder viele Termine. Jetzt passiere das nicht mehr. «Jetzt liegen wir höchstens wach wegen Albträumen», wirft ihre Mutter ein. Und dabei seien sie doch bereits nach elf Tagen Krieg geflüchtet. «Mein Grossvater hat im zweiten Weltkrieg gekämpft – wie hat er danach gelebt? Wie hat er geschlafen?», fragt sie.

Papagei Yerosha
Die Tiere trösten Yana Kaysina. (Bild: Manuel Lopez)

Charkiw ist bereits jetzt stärker beschädigt als im Zweiten Weltkrieg. «Ich wünsche niemandem, dass er einen Krieg erleben muss», sagt die ältere der beiden Frauen, «niemandem». Yerosha sitzt auf ihrer Schulter, berührt mit seinem Schnabel sanft ihre Haut. Sie streichelt ihn. «Die Tiere geben mir Freude», sagt Yana Kaysina. Yerosha gurrt.

«Yerosha, wie macht die Katze?», fragt sie ihn mit süsser Stimme. Er sagt «Poka-poka». «Tschüss-tschüss», heisst das. Das sage er immer, wenn er etwas nicht wolle. Dann flattert er zurück zum Käfig, greift sich eine Traube und beginnt zu knabbern.

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