«Ich bin ein Plüsch-Sofa-Sozialist»
Er hat fünf Kinder, ist Theologe und eine feste Grösse in der Berner Poetry-Slam-Szene. Andreas Kessler (55) lotet als «alter weisser Mann» zielsicher seine Selbstwidersprüche aus und redet seiner Agglomerationsgemeinde Ostermundigen liebevoll ins Gewissen.
«Ostermundigen ist nicht schön, aber sehr gäbig». Andreas Kessler erstickt jeden Lokalpatriotismus im Keim. Er ist in Zollikofen aufgewachsen: «Ostermundigen ist für mich das Gleiche: vor allem eine Strasse nach Bern.» Die Menschen lebten nun einmal in Ostermundigen, weil die Gemeinde in vernünftiger Distanz zu Bern liege. Kessler selbst ist seit 17 Jahren in Ostermundigen daheim.
Für ein Treffen hat er das Coop-Restaurant ausgewählt: Wolle man in das Ostermundiger Agglo-Universum eintauchen, sei das die erste Adresse. Kessler, grau melierte Koteletten, wuchtige Brille, massiver Ohrring, schaut durch die Glasfront nach draussen. Er sieht «eine Gemeinde ohne Zentrum». Daran ändere auch der neue Turm kaum etwas. Kessler meint den hundert Meter hohen «BäreTower», der kurz vor der Fertigstellung steht. «Ein phallisches Wahrzeichen» sei er, sagt Kessler, und grinst.
Türme, die in den Himmel wachsen und rauer Beton – sind das nicht die optimalen Zutaten für den künstlerischen Grossstadtgroove? Nun ja, ein «kreativer Hotspot» sei Ostermundigen nicht unbedingt, aber immerhin beherberge es die Welt: Inder*innen, Tamilen*innen und Tibeter*innen seien zum Beispiel mit kleinen Lädeli vertreten, sagt Kessler versöhnlich.
Auf der Bühne: Herrlich absurd
In einer Slam-Szene, die in den letzten Jahren ernster und politischer geworden ist, ist Kessler ein Paradiesvogel. «Ich bin eine Ausnahme», sagt er von sich.
Mit dem Alter habe er gelernt, dass alles nicht so eindeutig sei. Er wähle eine Partei, die die Überwindung des Kapitalismus weiterhin in ihrem Parteiprogramm aufführe, habe aber gleichzeitig eine Eigentumswohnung und ein Auto: «Ich bin ein Plüsch-Sofa-Sozialist.» Man spürt: Kessler will nicht berechenbar sein, sich mit keiner Sache gemein machen. Sein künstlerisches Mittel: Selbstironie. «Die kommt manchmal gar nicht gut an.»
In einem Text nimmt Kessler zum Beispiel Demonstrierende und Aktivistinnen aufs Korn: «Ich bin für den Wolf und gegen die Lichtverschmutzung, für mehr Singunterricht in den Schulen und mehr Analoges im Digitalen.» Seine Darbietungen sind eine Reise ins Absurde, im Fahrwasser des Dadaismus – er hat diebische Freude an Parolen wie «Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer». An anderer Stelle arbeitet er sich am Kunstbetrieb ab oder schöpft aus den jugendlichen Lebenswelten seiner fünf Kinder.
Bärndütscher Sound
In der Schweiz gelten Berner Slammer*innen als diejenigen, die sehr häufig auf Mundart performen und selten ins Hochdeutsche wechseln. So auch Kessler: «Auf Hochdeutsch könnte ich zwar raffinierter schreiben, aber mir würde die Melodie fehlen», sagt er. Als Dozent für Religionswissenschaft an der PH Bern habe er Sachbücher und Abhandlungen geschrieben – «das reicht mir an Hochdeutschem», lacht er. «Bärndütsch» habe einfach eine besondere Musikalität und sei von Anfang an seine Spoken-Word-Heimat gewesen. Er höre auch häufiger Berner Rap, zum Beispiel von der Fischermätteli Hood Gäng, um dort für seine Texte den richtigen Rhythmus zu finden.
Nicht nur Fernsehsportler
«Ich habe über 40 Jahre lang Fussball gespielt», sagt Kessler «Leider immer ohne Talent – aber mit viel Einsatz». Zuletzt war er bei den Veteranen des FC Ostermundigen aktiv. Zehn Jahre hat er es dort ausgehalten. Ebenso ausdauernd sei er als «Fernsehsportler». Er schaue jeden YB-Match und sei schon als sechsjähriger Bub im Stadion gewesen. Dahin zieht es ihn heute nur noch selten. Kessler, der Fussball-Romantiker, sehnt sich nach Bewegungsfreiheit im ganzen Stadion und «dem Geruch nach Rasen» zurück. Dinge, die ein modernes Fussballstadion à la Wankdorf nicht mehr bieten kann.
Der Tod: «… ist das Ende. Nein, der Tod ist eine Frechheit. Wir sind da, weil wir leben wollen», sagt Kessler. Seine Generation habe das Privileg – wie vielleicht noch nie in der Menschheitsgeschichte – über viel Zeit zu verfügen, um sich zu entfalten. Doch dann bitte keine Einfallslosigkeit, kein langes Leben zum Selbstzweck, fordert er, zumindest für sich. Chronist Kessler sieht Menschen, die den Wert der Gesundheit und des langen Lebens absolut setzen: «Länger leben, aber für was denn genau?»
Er rauche zu viel und werde vielleicht ein bisschen früher von dieser Erde gehen – andere hätten rückblickend zehn Jahre ihres Lebens gejoggt, er diese Zeit dafür gelebt. Wohl auch deshalb liebt Kessler Johnny Cash.
Andreas Kessler tritt am Donnerstag, 12. Mai beim Hauptstädter*innen Feierabend-Bier zwischen 19 und 20 Uhr auf.