Vom Ei zum Kühlregal-Poulet
Eltern aus den Niederlanden, gezeugt im Wallis, geboren in der Waadt und aufgewachsen in der Nähe von Bern. Das kurze, aber bewegte Leben eines Mastpoulets.
Viele kennen nur das Endprodukt: Optigal-Poulets im Migros-Kühlregal, gelb eingepackt und mit einer Schutzfolie umschlossen, damit das Fleisch länger haltbar bleibt. Der standardisierte, quasi-industrielle Ablauf der Pouletmast hingegen ist selbst Leuten vom Land oft nur vage bewusst. Die «Hauptstadt» hat deshalb einen Mastbetrieb unweit der Stadt Bern besucht.
«Die Küken sind einen Tag alt, wenn sie mit dem Lastwagen auf unseren Betrieb kommen», sagt Martin, der den Pouletmastbetrieb gemeinsam mit seiner Partnerin Sara führt. Ihre Nachnamen, Gesichter und der genaue Ort des Betriebs wollen die beiden nicht veröffentlicht sehen. Zu gross ist die Furcht vor negativen Reaktionen – obwohl im Text nichts Verbotenes beschrieben wird.
In der Masthalle von Martin und Sara haben bis zu 5‘000 Tiere Platz. Der Hof ist einer von insgesamt rund 500 unabhängigen Betrieben in der Schweiz, die für die Firma Micarna Poulets mästen.
Das Migros-Tochterunternehmen zählt zu den führenden Fleischverarbeitern der Schweiz.
- Hauptsitz: Courtepin im Kanton Freiburg
- Angestellte: über 3‘000 Personen
- Umsatz: rund 1,5 Milliarden Franken pro Jahr
- Anteil am Schweizer Pouletmarkt: über 40 Prozent
Die Mast erfolgt nach einem strengen Zeitplan: Sowohl Ankunfts- als auch Abreisetag der Küken sind jeweils Monate im Voraus bekannt. «Für mich als Landwirt ist das praktisch und bedeutet Planungssicherheit», sagt Martin. Festgelegt werden die Termine von Micarna, der Mastbetrieb hat ein beschränktes Mitspracherecht.
Fabrikähnliche «Geburtenstation»
Derart präzise Lieferungen von tausenden gleichaltrigen Küken auf einen Mastbetrieb sind nur möglich, wenn andernorts massenweise Jungtiere schlüpfen. Bei Micarna beginnt dieser Prozess im Unterwallis. Hier besitzt das Unternehmen sogenannte «Elterntierparks»: Hallen mit jeweils 5‘500 Hennen und 500 Hähnen.
«Auf die Produktion von Elterntieren sind nur wenige Firmen spezialisiert.»
Micarna
Als Küken wurden sie aus Deutschland und den Niederlanden importiert. «Weltweit sind nur wenige Unternehmen auf die Produktion von Elterntieren für Mastpoulets spezialisiert», schreibt Micarna. In der Schweiz gebe es keine Selektion, sondern nur die Vermehrung. Dazu wachsen die niederländisch- und deutschstämmigen Tiere im Wallis zur Geschlechtsreife heran, ehe die Hennen das erste Mal Eier legen. Später, wenn die Hennen altersbedingt weniger Eier legen, werden sie durch Jungtiere ersetzt.
Aktuell leben in den «Elterntierparks» rund 90‘000 Hennen, die jährlich mehrere Millionen Eier legen. Diese Hennen sind die Mütter sämtlicher Küken, die später als Optigal-Poulets im Kühlregal landen.
Aus dem Unterwallis gelangen die befruchteten Eier innert weniger Stunden in die moderne Brüterei nach Avenches im Kanton Waadt. Auch sie gehört Micarna. Das Unternehmen beschreibt das fabrikähnliche Gebäude als «grösste Geburtenstation der Schweiz». 25 Millionen Küken schlüpfen hier jährlich aus ihren Eiern.
Wie in den «Elterntierparks» erfolgen auch in der Brüterei viele Arbeitsschritte automatisiert. So fallen die Küken direkt aus dem Ei in eine Transportbox, in der sie die Stunden bis zur Ankunft auf dem Mastbetrieb verbringen. Darin haben sie bis zum Abtransport Zugang zu Futter und Wasser.
Migros bestimmt
Transportunternehmen verteilen die Küken auf Betriebe in der ganzen Schweiz. Auch auf den Hof von Martin und Sara. «Zu Beginn brauchen die Tiere viel Aufmerksamkeit; ich bin quasi die Ersatz-Henne», sagt Martin. So kontrolliert er, dass die Küken sich ausreichend bewegen und dass alle fressen. Dazu verteilt er die ersten zehn Tage das Futter von Hand. Anschliessend erfolgt die Fütterung automatisch; die Tiere erhalten ihr Futter ab einem Förderband, das quer durch die Halle verläuft und so für regelmässigen Nachschub sorgt – immerhin sollen die Tiere ja möglichst rasch an Gewicht zulegen.
Zum Zeitpunkt des «Hauptstadt»-Besuchs sind die Mastpoulets auf dem Hof 21 Tage alt. Noch zwei Wochen wird es danach dauern, bis die 4‘000 Tiere schlachtreif sind. Gefüttert werden sie mit einer Mischung aus Mais, Getreide, Soja- und Rapsschrot. Letztere sind Abfallprodukte der Speiseölgewinnung. Die Ressourcen stammen gemäss Micarna-Angaben zu 40 Prozent aus der Schweiz und zu 60 Prozent aus dem restlichen Europa. Die Auswahl ist limitiert: «Die Migros hat keine eigene Futtermittelproduktion, das Futter muss aber von einem Micarna-konzessionierten Hersteller bezogen werden», sagt Martin. Auch die Einstreu am Boden der Masthalle, bestehend aus Strohwürfeln oder Hobelspänen, bezieht der Betrieb von Micarna.
Solch genaue Vorgaben haben Vor- und Nachteile. Einerseits dienen sie der Qualitätssicherung und der Kostensenkung in der Produktion, was letztlich allen Konsument*innen zugute kommt. Andererseits hemmen sie die Eigeninitiative der Landwirt*innen und binden diese in eine Produktionskette ein, die stark vom Migros-Konzern abhängig ist.
Wie tierfreundlich ist «besonders tierfreundlich»?
Während ihrer Zeit auf dem Mastbetrieb sehen die Tiere den Himmel nie direkt. «Ab einem Alter von 20 Tagen dürfen die Hühner aber in einen überdachten Aussenbereich, wo sie im Sand scharren können», sagt Martin. Diese Haltungsbedingungen entsprechen den Vorgaben des nationalen BTS-Labels. BTS steht für «Besonders Tierfreundliche Stallhaltung» und ist der Mindeststandard, den Micarna ihren Optigal-Produzent*innen vorschreibt.
Das BTS-Label stand in der Vergangenheit immer wieder in der Kritik. Tierschützer bemängeln beispielsweise, dass der Standard seinem Namen nicht gerecht werde und alles andere als tierfreundlich sei.
Klar ist: Das Thema Pouletmast ist delikat. Das wurde auch im Rahmen dieser Recherche deutlich: Zunächst, als die Migros-Medienstelle erst im zweiten Anlauf mit dem «Hauptstadt»-Besuch auf dem Hof in der Nähe von Bern einverstanden war – unter der Bedingung, vor der Publikation sowohl den Text wie auch die Bilder vorgelegt zu erhalten. Später, als das Betriebsleiterpaar aus Furcht vor negativen Reaktionen von der «Hauptstadt» eine nachträgliche Teil-Anonymisierung forderte.
Rund 15 Kilogramm Geflügelfleisch isst jede Person in der Schweiz im Schnitt pro Jahr. Das entspricht insgesamt 130’000 Tonnen. Vor zehn Jahren lag der Gesamtkonsum noch bei 92'000 Tonnen. Beliebter ist heute nur noch Schweinefleisch.
Rund 35 Prozent des in der Schweiz konsumierten Geflügelfleisches wird aus dem Ausland importiert, hauptsächlich aus Brasilien, Deutschland, Frankreich und Ungarn.
Trotz berechtigter Kritik gilt die Schweizer Pouletmast im internationalen Vergleich als progressiv. So gelten strengere Tierschutznormen und gentechnisch verändertes Futter ist verboten.
Die Haltung von tausenden Mastpoulets in einer Halle mag für einige unangebracht wirken, entspricht aber den gesetzlichen Tierschutzvorgaben. Mit dem Optigal-Markenauftritt hingegen, der Sonnenstrahlen und eine grüne Landschaft zeigt, hat die Realität in den meisten Mastbetrieben wenig gemein. Eine Realität, die bei anderen Poulet-Marken nicht anders aussieht.
Nicht alle dürfen Poulets mästen
Auf dem Hof von Martin und Sara werden seit 1987 Poulets gemästet. Der Vater von Martin hat die 300-Quadratmeter-Halle einst gebaut. «Heute entspricht sie der kleinstmöglichen Grösse, welche Micarna für Optigal-Mastbetriebe zulässt», sagt Martin. Kleinere Betriebe wären schlicht zu wenig wirtschaftlich.
Die Hallengrösse ist Teil eines zu erfüllenden Kriterienkatalogs, damit ein Betrieb für Optigal Poulets mästen darf. Und das wollen viele: Micarna führt eine Warteliste mit interessierten Betrieben. Aktuell befinden sich schweizweit rund 100 Betriebe auf dieser Liste.
«Die Pouletmast garantiert ein regelmässiges Einkommen und Planungssicherheit», sagt Martin. Pro Huhn verdient der Hof «über den Daumen gerechnet» rund einen Franken. Garantiert wird der Mindestpreis in einem Vertrag, den sämtliche Mastbetriebe jährlich mit Micarna abschliessen.
Weitere Pluspunkte aus betriebswirtschaftlicher Sicht sind der vergleichsweise geringe Platzbedarf für eine Masthalle sowie der beschränkte zeitliche Aufwand. «Die ersten Tage einer Mastperiode bin ich täglich eine Stunde in der Halle, später nur noch zehn bis zwanzig Minuten», sagt Martin. Die Pouletmast ist für Sara und ihn «ein attraktiver Zusatzverdienst» – hauptberuflich gehen die beiden jedoch einer Tätigkeit ausserhalb der Landwirtschaft nach.
Sechs Personen für 4'000 Tiere
Nach rund 35 Tagen verlassen die Mastpoulets den Hof wieder. Sie haben dann ihr Schlachtgewicht von rund zwei Kilogramm erreicht. «Für den Abtransport werden die Tiere behutsam von Hand eingefangen», sagt Martin. Dabei werden die schlafenden Mastpoulets in der dunklen Halle einzeln oder paarweise um die Brust gefasst und anschliessend gemäss Tierschutznorm in Kisten à zwölf Tiere gepackt und auf den Lastwagen verladen. Für den Verlad der 4’000 Mastpoulets braucht es etwa sechs Personen.
Zwar gibt es inzwischen auch automatisierte Fang-Maschinen. In der Schweiz konnten sich diese bisher jedoch nicht nachhaltig durchsetzen – auch weil Micarna die maximale Hallengrösse beschränkt hat und somit die Anschaffung einer solchen Maschine für die wenigsten Betriebe rentabel wäre.
Per Lastwagen gelangen die Tiere anschliessend in die Metzgerei nach Courtepin im Kanton Freiburg. Die Fahrt darf laut Gesetz nicht länger als sechs Stunden dauern; Micarna hat sich maximal vier Stunden als Ziel gesetzt.
In Courtepin wird im Schichtbetrieb an sechs Tagen die Woche rund um die Uhr geschlachtet. Dabei werden sämtliche Teile des Tiers verwertet: Die hochwertigen Teile als Fleischprodukte fürs Migros-Kühlregal, die restlichen als Tierfutter oder als Masse für Biogas. Spezifische Körperteile wie Hühnerfüsse werden als Delikatesse ins Ausland verkauft.
Auf dem Hof fängt mit dem Abtransport der Tiere zum Schlachthof die arbeitsintensivste Phase an: «Während vier Tagen misten wir die Halle aus, waschen sie gründlich und streuen sie für die neue Charge Mastpoulets ein», sagt Martin. Nach dem Waschgang fährt zudem eigens ein Micarna-Team auf dem Hof vor, um die Halle zu desinfizieren. So sollen Krankheiten bei den jungen Küken verhindert werden. Diese Treffen rund zehn Tage nach der Abreise ihrer Vorgänger*innen ein. Der Mastzyklus beginnt von Neuem.