Kreuzverhör auf der Bühne

Ein Ein-Frau-Stück über sexualisierte Gewalt und ein Rechtssystem, das die Falschen schützt: Der vielfach ausgezeichnete Monolog «Prima Facie» wird im Theater an der Effingerstrasse erstmals in der Schweiz aufgeführt.

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(Bild: Jörg Kühni)

Die Anwältin Tessa Ensler ist selbstbewusst, erfolgreich und skrupellos. Alles im Namen der Gerechtigkeit. Sie verteidigt vorwiegend Männer, die wegen sexueller Übergriffe auf der Anklagebank sitzen. Die Prozesse gewinnt sie, indem sie die Klägerinnen im Verhör als unglaubwürdig dastehen lässt.

Als sie dann selbst Opfer einer Vergewaltigung wird, ändert sich Tessas Haltung radikal. Und als sie noch in der Nacht des Übergriffs Anzeige erstattet, hört sie bereits ihre eigene Stimme sich selbst ins Kreuzverhör nehmen: «Haben Sie den Mann zu sich nach Hause eingeladen?», «Stimmt es, dass Sie im Restaurant bereits Schnaps und später noch mehrere Gläser Wein getrunken haben?», «Sie haben sich freiwillig ausgezogen, oder?»

Im Theater und im Parlament

Die Regisseurin Petra Schönwald bringt mit «Prima Facie» ein Stück nach Bern, das international gefeiert wird. Wie das Theater an der Effingerstrasse haben auch Theaterhäuser in Deutschland und Österreich das Ein-Frau-Stück diese Saison in ihren Spielplan aufgenommen. «Prima Facie»  wurde 2019 am Stables Theater in Sydney uraufgeführt, später in London und am Broadway gezeigt. Nun kommt es erstmals in der Schweiz auf die Bühne.

BERN - 18SEPT23 - THEATER EFFINGER Spielzeit 2023/2024 

PRIMA FACIE - Ein Kreuzverhör
von Suzie Miller

Schweizer Erstaufführung

Mit
          Dascha von Waberer

Regie
          Petra Schoenwald

Ausstattung
          Melanie Kintzinger

Musik 
Robert Aeberhard

Dramaturgie
Christiane Wagner

Regieassistenz
Ullrich Matthaeus

Bühnenbau 
Röné Hoffmann

Technik
Claudia Pfitzenmaier

Licht
Neville auf der Maur

https://www.theatereffinger.ch/premieren/prima-facie

Premiere Samstag 23. September 2023

Bern, Montag 18. September 2023.

© SEVERIN NOWACKI Fotograf BR Postfach CH-3001 Bern Switzerland +41 79 761 33 46 PC 30-455681-8 info@nowacki.ch www.nowacki.ch
Im Gericht: Die Anwältin Tessa performt das Kreuzverhör. (Bild: Severin Nowacki)

Die Autorin und ehemalige Rechtsanwältin Suzie Miller erhielt für ihre Arbeit mehrere Auszeichnungen. Sie hat mit dem Stück eine Diskussion in der Kulturwelt popularisiert, die zurzeit auch auf politischer Ebene ausgetragen wird: Schützt unser Rechtssystem die Falschen? Kann eine von Männern gemachte Rechtsordnung die Realität von Frauen berücksichtigen, die Opfer von Männern werden? Die Bedingung etwa, dass sich das Opfer eines sexuellen Übergriffes verbal oder physisch gewehrt haben muss, steht im Widerspruch dazu, dass viele Betroffene von sexualisierter Gewalt in eine Schockstarre ‒ ein sogenanntes Freezing ‒ fallen.

In der Schweiz ist die politische Auseinandersetzung mit dem Sexualstrafrecht seit 2018 in Gang. Im Juni einigten sich National- und Ständerat über die Reform des Sexualstrafrechts. Beide Kammern unterstützten, dass die «Nötigung», also die Anwendung oder Androhung von Gewalt, keine Voraussetzung mehr für eine Vergewaltigung ist. Gestrichen haben sie den Vermerk, dass ausschliesslich Frauen Opfer von Vergewaltigungen werden können.

Die von Amnesty International angestrebte Reform «Ja heisst Ja» ‒ Alle Beteiligten müssen ihre Zustimmung geben ‒ wurde vom Ständerat jedoch abgelehnt. Nach Inkrafttreten der Revision gilt: Es muss keine explizite Zustimmung zur sexuellen Handlung eingeholt werden, aber es darf kein Nein missachtet werden. Das Freezing wurde als Form eines nonverbalen Neins in den Gesetzesartikel aufgenommen.

Seht zu und macht es anders

Die Zuschauer*in wird von Dascha von Waberer, die Tessa Ensler darstellt, direkt angesprochen. Bald wird klar: Wir sind die Jury, und Tessa hält ein Plädoyer. 

Auf einem roten Schaumstoffteppich, der mal Gerichtssaal, mal Partyboden, mal Schlafzimmer ist, zeigt Tessa ihre Entwicklung von der Staranwältin, die zutiefst an das Rechtssystem glaubt und davon profitiert, zur Anklägerin, die das herrschende Rechtssystem aufs schärfste verurteilt.

BERN - 18SEPT23 - THEATER EFFINGER Spielzeit 2023/2024 

PRIMA FACIE - Ein Kreuzverhör
von Suzie Miller

Schweizer Erstaufführung

Mit
          Dascha von Waberer

Regie
          Petra Schoenwald

Ausstattung
          Melanie Kintzinger

Musik 
Robert Aeberhard

Dramaturgie
Christiane Wagner

Regieassistenz
Ullrich Matthaeus

Bühnenbau 
Röné Hoffmann

Technik
Claudia Pfitzenmaier

Licht
Neville auf der Maur

https://www.theatereffinger.ch/premieren/prima-facie

Premiere Samstag 23. September 2023

Bern, Montag 18. September 2023.

© SEVERIN NOWACKI Fotograf BR Postfach CH-3001 Bern Switzerland +41 79 761 33 46 PC 30-455681-8 info@nowacki.ch www.nowacki.ch
Ein berührendes Bild: Mund ohne Worte. (Bild: Severin Nowacki)

Das Stück pflegt ein hoffnungsvolles Theaterverständnis: Es veranschaulicht ein gesellschaftspolitisches Thema und fordert die Zuschauer*innen auf, umzudenken und das Anliegen weiterzutragen. Völlig zurecht bezieht Tessa im Stück klar Stellung. Die Abschlussrede ist dennoch etwas repetitiv und überlässt der Zuschauer*in nicht mehr viel Eigenverantwortung im Nachdenken.

Distanziert und nahbar

Zwischenzeitlich steht Dascha von Waberer hinter einer Leinwand, auf die ein riesiger Mund, wohl ihr eigener, projiziert wird. Immer weiter beleuchtet die Kamera diesen Mund und offenbart die Zähne, das Zahnfleisch, die Zunge. Kein Wort ertönt daraus, lediglich der Voyeurismus von Kamera und Zuschauer*innen wird bedient: Ich will alles über das Opfer wissen, es soll nur nicht selbst zur Sprache kommen.

Dascha von Waberer spielt die Anwältin zunächst distanziert und zynisch, sie ist mehr Schablone als eine greifbare Figur. Erst nach der Vergewaltigung, die den Wendepunkt des Stücks darstellt, wird Tessa als Figur nahbar und verletzlich. Was von Waberer im zweiten Teil umso aufwühlender vermittelt: Die internalisierte Scham, die Selbstzweifel, die Tatsache, dass sie vom Moment der Anklage an als Lügnerin dasteht.

Ein Besuch im Theater an der Effingerstrasse lohnt sich. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema sowieso. 

Petra Schönwalds Inszenierung von Prima Facie feierte am 23. September ihre Premiere im Theater an der Effingerstrasse. Das Stück wird noch bis am 20. Oktober aufgeführt

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