Ein Raum für meine Trauer
Die Bestatterin Ursula Stäheli hat meine Familie und mich nach dem Tod meiner Mutter begleitet. Mit Trauerbegleiter*innen wie ihr wären die meisten Menschen mit dem Tod weniger überfordert.
Letztes Jahr ist meine Mutter an Krebs gestorben. Meine Schwester, mein Vater und ich fühlten uns verloren, wie in einem Tunnel.
Erfasst von der Trauer, überforderte uns der riesige Berg an Aufgaben, der sich vor uns auftürmte. Gross war das Bedürfnis, einen Menschen zu finden, der uns an die Hand nimmt.
Meine Schwester kannte über ein paar Ecken die Bestatterin Ursula Stäheli. Stäheli sei keine «normale» Bestatterin, die «die Sache» übernehmen und uns aus allem raushalten würde, sagte mir meine Schwester. Sie würde zum Beispiel mit den Angehörigen zusammen die toten Menschen umkleiden. Zu diesem Zeitpunkt nahm ich diese Information einfach auf, ohne weiter darüber nachzudenken.
Bereits am Todestag unserer Mutter telefonierten meine Schwester und ich mit Ursula Stäheli. Sie half uns, an alles Notwendige zu denken: Wir sollten zum Beispiel Kleider für unsere Mutter aussuchen, um sie für die Aufbahrung umziehen zu können, oder sie fragte nach der Lieblingsfarbe unserer Mutter, um den Sarg mit wattiertem Baumwollstoff auszukleiden: Dunkelgrün.
Wir kannten nun die nächsten Schritte, auf dem Berg der Aufgaben zeichnete sich ein Weg ab.
«Tod und Trauer sind menschliche Emotionen»
Ursula Stäheli hat 30 Jahre lang als evangelisch-reformierte Pfarrerin und Seelsorgerin gearbeitet. 2012, mit 47 Jahren, hat sie sich als Bestatterin selbständig gemacht. Sie wollte mit ihrem Wissen aus Seelsorge und systemischer Familienarbeit die Aufgabe der Bestatterin auf ihre eigene Art ausführen: Die Angehörigen in ihre Arbeit einbinden, damit sie in Kontakt mit dem Tod kommen und sie den Verlust und die Trauer besser verarbeiten können.
Stäheli ist der Meinung, dass «das in Kontakt kommen» heilsam ist für die Verarbeitung der Trauer. Man solle dem Tod nicht aus dem Weg gehen. Und sie findet: «Tod und Trauer sind menschliche Erfahrungen, aber der Umgang damit ist verloren gegangen. Deshalb braucht es eine kundige Führung.» Grundsätzlich seien wir aber so ausgestattet, dass wir mit dem Verlust eines Menschen umgehen können.
Ihre Arbeit sieht sie als etwas Natürliches und Einfaches, sie organisiere kein Spektakel oder grossen Event. «Der Tod gehört zu unserem Leben wie die Geburt», sagt Stäheli. Deshalb sei auch er etwas Grosses, Heiliges und Natürliches.
Weinen
Einen Tag nach dem Tod meiner Mutter durchsuchten meine Schwester und ich ihren Kleiderschrank nach passenden Kleidern. Sie mochte Farben, darum wollten wir etwas Farbenfrohes in ihren Lieblingsfarben. Wir entschieden uns für ein farbiges Wollkleid, darunter ein violetter Rollkragenpullover und Hosen.
Im Spital haben meine Schwester und ich Ursula Stäheli das erste Mal persönlich getroffen. An ihre Sätze nach unserer Begrüssung denke ich noch heute, wenn die Trauer mich überwältigt:
Weinen sei eine sinnvolle körperliche Reaktion. Wellen des Weinens, die einen erfassen, solle man durchfliessen lassen und dabei Augen und Mund offen halten. Nicht bekämpfen, nicht herunterschlucken. Die Wellen der Trauer könnten so einfacher kommen und wieder gehen. «Das Nervenkostüm kann sich mit diesen Tränen abreagieren, um all das, was in diesem Moment für uns zu viel ist, loszulassen», sagte sie.
Ursula Stähelis Prinzip ist es, «in die Trauer hineinzugehen, statt sich von ihr abzugrenzen». Das hilft auch beim Weinen.
Das «Hineingehen in die Trauer» bedeute aber nicht, sich darin zu suhlen, präzisiert Stäheli. Und auch nicht «zu trauern, aber die Zähne zusammen zu beissen». Sondern bei sich zu bleiben. Die Trauer wahrzunehmen und auszuhalten. Dann würde es leichter.
Hinschauen
Im Spital haben meine Schwester und ich unsere Mutter gemeinsam mit Ursula Stäheli umgezogen. Obwohl ich zuerst unsicher war, ob ich das schaffen würde – schliesslich wollte ich meine Mutter lieber als lebendigen Menschen in Erinnerung behalten – bin ich mitgegangen. Mit der Abmachung, dass ich mich jederzeit zurückziehen könnte, wenn es mir zu viel wäre.
Soweit ist es nicht gekommen. Es hat sich natürlich angefühlt, unsere Mutter aus dem Kühlraum zu holen, sie auf die Trage zu legen, wo wir gemeinsam ihre schweren Körperteile hochhoben und einkleideten und sie danach in den schlichten Holzsarg zu betten. Und ich merkte – wie so oft in dieser Zeit – dass ich dankbar für jede Aufgabe war, die ich für meine Mutter tun konnte.
Der Anblick des verstorbenen Menschen helfe, den Tod zu realisieren. Dass das Leben jetzt anders ist, sagt Stäheli. In solchen Momenten sei es hilfreich, einen erfahrenen Menschen neben sich zu haben. «Ich fühle mich manchmal wie ein ‹Fährmann›, der eine Barke über einen gefährlichen Fluss steuert, damit die Passagiere keine Angst haben müssen.»
Nur ein Teil des grossen Ganzen
Nachdem wir unsere Mutter umgezogen hatten, luden wir den Sarg ins Auto und fuhren zur Aufbahrung im Bremgartenfriedhof. Ursula Stäheli hatte im Voraus einen Blumenstrauss – farbig und ohne Rosen, wie es unsere Mutter mochte – besorgt. Meine Schwester, mein Vater und ich haben in jenem Moment gar nicht so weit gedacht.
Im Aufbahrungsraum haben wir Kerzen angezündet, Zweige um den Sarg und Blumen in die Hände meiner Mutter gelegt und Stähelis Strauss gut sichtbar neben dem Sarg platziert.
Ich erinnere mich, wie unbeholfen ich mich fühlte. Ich wusste nicht, wie und wo ich die Zweige hinlegen sollte. Ursula Stäheli übernahm behutsam das Hinlegen der Zweige, und ich war erleichtert.
Ihre Kraft schöpft Stäheli in der Natur, ihre innere Gelassenheit aus dem Meditieren und aus der Gewissheit, dass wir immer nur einen Ausschnitt des Ganzen sehen. Das gebe ihr eine «neutrale» Liebe und ruhige Zuversicht im Umgang auch mit schlimmen Schicksalen. «Und es ist mir eine Ehre, wenn ich in einer schwierigen Situation hilfreich zur Seite stehen kann.»
Rituale
Das nächste Mal haben meine Schwester, mein Vater und ich Ursula Stäheli zur Schliessung des Sargs gesehen – vier Tage später. Stäheli wählt dafür gern den Abend vor der Kremierung für das gemeinsame Ritual. So sei es wie ein «Gute-Nacht-Sagen».
«Wenn wir den Sarg schliessen, ist es wie ein Behüten, damit ihr nichts passiert und sie sicher den weiteren Weg antreten kann», sagte Stäheli, als wir den Sargdeckel über unsere Mutter hoben. Diese Worte haben uns getröstet und waren eine hilfreiche Vorstellung.
Rituale wie jenes der Sargschliessung helfen in der Trauer, sagt Stäheli. Diese sollen ein positives Bild erzeugen. Stäheli meint damit zum Beispiel die Wortwahl bei der Sargschliessung, ein Ritual, das an sich auch etwas Düsteres haben könnte. Und erklärt: «Es ist wichtig, anzuerkennen, dass der Tod ein natürlicher Teil des Lebens ist.»
Auch das Umziehen unserer Mutter, sie aufzubahren, die Blumen, den Aufbahrungsraum und den Sarg herzurichten oder die Trauerfeier seien Rituale, die beim Trauern helfen würden, sagt die Bestatterin.
Trauerkultur
In der Gesellschaft habe sich im Umgang mit dem Tod viel verändert. «Man bahrt Verstorbene nicht mehr auf, und sogar Trauerfeiern finden nicht mehr bei jedem Todesfall statt.», sagt Ursula Stäheli. Corona habe diesen Trend verschärft.
Für sie ist das eine verpasste Chance: «So verlernen wir, Abschied zu nehmen. Das ist nicht hilfreich für die Angehörigen und die Gesellschaft im Allgemeinen.»
Dieser Trend könnte mit der steigenden Entfremdung der Menschen von der Kirche zusammenhängen. Das zeigt sich zum Beispiel an der Zahl der Kirchenaustritte: Im Jahr 2022 sind 7’646 Menschen aus der evangelisch-reformierten Landeskirche Bern-Jura-Solothurn und 4’787 aus der römisch-katholischen Kirche in Bern, Jura und Solothurn ausgetreten. Im Vergleich zu vor zehn Jahren sind das über 50 Prozent mehr Kirchenaustritte pro Jahr.
Das Bedürfnis, Abschied zu nehmen und einen Abschied zu gestalten, sei menschlich und nicht an Konfession oder Religion gebunden, sagt Stäheli. «Es gibt viele Formen und Möglichkeiten, Abschiedsfeiern zu gestalten – nicht nur die kirchlich institutionalisierten Gottesdienste.» Deshalb sieht sie es auch als Chance, mit einer Trauerfamilie ein stimmiges Abschiedsritual zu finden.
Trauer sei eine so wichtige Kraft. Sie führe uns durch die veränderte Zeit und helfe, den Stress der anfänglichen Überforderung abzubauen. Stäheli betrachtet die Trauer als eine Führerin, ja gar als Freundin, die uns helfe und nicht gegen uns sei. «Wenn wir den Wert der Trauer erkennen, ist sie etwas Wunderbares: Trauer hütet die Zeit, die wir brauchen, um in der neuen Wirklichkeit anzukommen.»
Deshalb wünscht sich Ursula Stäheli, dass die Trauerkultur wieder farbenfroher und lebendiger wird. Sie trägt dazu bei, indem sie mit ihrem Wirken für Angehörige einen Raum für Tod und Trauer schafft, der in der Gesellschaft nicht mehr vorgesehen ist.