Ist selber schuld, wer Schulden hat?
Für überschuldete Menschen sei eine Sanierung ihrer Finanzen oft unmöglich, sagt Lukas Ambühl, Berater bei der Schuldenberatung Bern. Auch, weil ihnen das System nicht hilft.
Herr Ambühl, es fällt uns schon dann nicht leicht, über Geld zu sprechen, wenn wir es haben. Wie schwierig ist es, darüber zu reden, wenn es fehlt?
Lukas Ambühl: Das Tabu existiert. Wie gross es wirklich ist, kann ich nicht sagen. Aber das Tabu trägt sicher dazu bei, dass der Leidensdruck sehr gross sein muss, ehe jemand Hilfe in Anspruch nimmt und zu uns in die Schuldenberatung kommt.
Warum eigentlich?
Verschuldet zu sein, ist stark stigmatisiert. Unser Bild ist geprägt von jungen Männern, die mit grossen Autos protzen und ihren Konsum aus dem Ruder laufen lassen. Damit verbunden ist die allgemeine Haltung: Wer Schulden hat, ist selber schuld und soll sich zügeln. Klar, es gibt diese Fälle. Aber beim grössten Teil der Betroffenen liegen die Probleme anders. Die Frage ist nicht, ob sie den Gürtel etwas enger schnallen sollten.
Sondern?
Es geht gar nicht mehr enger. Es geht nicht darum, ob man darauf verzichtet, im Restaurant zu essen oder neue Kleider zu kaufen. Wir haben Menschen in der Beratung, die seit Jahren temporär arbeiten, zum Beispiel auf dem Bau. Im Winter müssen sie stempeln und haben erst im Frühling wieder Arbeit. Und das über Jahre. Solch prekäre Jobsituationen nehmen zu. Es ist sehr schwierig, eine zuverlässige Budgetplanung zu machen, weil es kaum Planbarkeit gibt. Der Lohn kann variieren, es gibt keine Kündigungsfrist und auch sonst wenig Schutz.
Die Berner Schuldenberatung wird von der kantonalen Gesundheits- Sozial- und Integrationsdirektion subventioniert und berät in deren Auftrag überschuldete Privatpersonen und Sozialtätige, die überschuldete Privatpersonen betreuen. Zudem hat die Schuldenberatung mit der Stadt Bern einen Leistungsvertrag zur Betreuung von ehemaligen Sozialhilfeklient*innen abgeschlossen. Die Schuldenberatung führt Beratungsstellen im deutschsprachigen Kantonsteil, in Bern, Biel, Burgdorf und Spiez sowie eine Telefonberatung (031/376 10 10).
Statistisch gesehen: Welches Bild der Überschuldung lässt sich zeichnen?
Der Dachverband Schuldenberatung Schweiz hat die Daten der öffentlichen und privaten gemeinnützigen Schuldnerberatungsstellen von 2021 ausgewertet. Menschen im besten Erwerbsalter – zwischen 30 und 49 Jahren – sind überdurchschnittlich oft betroffen. Das grösste Verschuldungsrisiko sind tiefe Einkommen. Mehr als die Hälfte der betroffenen Haushalte sind über sechs Jahre lang verschuldet.
Sind Schulden immer ein Problem?
Nein. Aber sie haben das Potenzial, zu einem zu werden. So lange man Zinsverpflichtungen noch regelmässig nachkommen kann und liquide bleibt, um die Rechnungen zu bezahlen, ist man nicht überschuldet. Das ändert sich, wenn das Budget durcheinander gerät.
Was machen wir mit Geld? Und was macht Geld mit uns? Das ist die inhaltliche Klammer des Schwerpunktthemas Geld, zu dem wir im Januar zahlreiche Artikel veröffentlichen.
Wie zum Beispiel?
Vielleicht durch ein Ereignis wie die Familiengründung, eine Krankheit, Arbeitslosigkeit oder die Pensionierung. Die Schwierigkeiten können sich rasch zuspitzen. Wenn man den Kreditgeber anruft und sagt, man könne die Rate nicht leisten, dann ist das vielleicht für einen Monat kein Problem. Wenn man das über längere Zeit tun muss, wird das Darlehen gekündigt, und die ganze Summe wird fällig.
Mit welchen Folgen?
Die Konsequenz ist in der Regel eine Betreibung. Wenn man weiterhin nicht zahlen kann, kommt man in die Lohnpfändung. Das Betreibungsamt erstellt ein Budget auf dem Existenzminimum, der verbleibende Rest des Lohns wird direkt an die Gläubiger abgeführt.
Aktuell ist die Arbeitslosigkeit sehr tief. Entlastet das die Verschuldungsproblematik?
Nicht unbedingt. Arbeitslosigkeit ist ein Lebensereignis, das zu einer Überschuldung führen kann. Aber nicht zwingend. Man kann arbeitslos und gleichzeitig schuldenfrei sein. Und man kann arbeiten, aber trotzdem verschuldet sein. Wir haben bei uns in der Beratung Leute, häufig Ausländer*innen, die in mehreren Jobs weit über 100 Prozent arbeiten, und es geht trotzdem nicht auf.
Ist es nicht möglich, bei der Sozialhilfe anzuklopfen?
Es ist heikel, wenn eine Person den B-Ausweis hat und verschuldet ist. Sie kann ihn verlieren. Zwar nicht explizit wegen der Schulden, sondern weil die Behörden Finanzprobleme mit der öffentlichen Sicherheit in Zusammenhang bringen können. Aus Angst um ihren Aufenthaltsstatus wollen die Leute Sozialhilfe nicht in Anspruch nehmen. Mit der Folge, dass sie 150 Prozent arbeiten und sich trotzdem nicht finanzieren können.
«Es ist oft nicht eine Frage der persönlichen Kompetenz, aus den Schulden zu finden. Sondern systembedingt, dass man drin bleibt.»
Kann man quantifizieren, wie gravierend die Schuldenproblematik ist?
Die Berner Schuldenberatung gibt es seit 36 Jahren. Sie ist kontinuierlich gewachsen. Wir bearbeiten im Moment etwa 1500 Dossiers. Aber die Statistik des Kantons zeigt, dass 2021 fast 300’000 Betreibungen eingeleitet wurden.
Das betrifft also fast jede*n dritte*n Einwohner*in?
Nicht ganz. Eine Person kann mehrfach betrieben werden. Aber trotzdem: Die Zahlen zeigen, dass das Schuldenproblem viel grösser ist, als die Zahl der von uns betreuten Dossiers aussagt.
Die Frage ist, wie schwer jemand überschuldet ist.
Ja. Dazu diese Zahl: Von den 300’000 Betreibungen wurden 218’000 in Pfändungsvollzüge umgewandelt. Das bedeutet, dass die betroffenen Personen nicht bezahlen konnten oder ein Rechtsmittel gegen die Betreibung ergriffen haben. Sie haben also wirklich ein Problem. Das zeigt: Unsere Arbeit ist ein Tropfen auf den heissen Stein. Die Dunkelziffer der Menschen, die sich im Verschuldungskreislauf befinden, ist erheblich.
Was verstehen Sie unter Verschuldungskreislauf?
Bei der Verschuldung gibt es einen Unterschied zu anderen schwierigen Lebenssituationen. Wenn ich in die Suchtberatung gehe, habe ich das realistische Ziel, die Sucht zu überwinden. In der Schuldenberatung ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass das Ziel Schuldenfreiheit unerreichbar bleibt. Man kann noch so motiviert, fleissig und sparsam sein; auf dem Existenzminimum leben und Überzeit machen: Das alles heisst nicht, dass man dann sicher in der Lage ist, seine Schulden zu begleichen.
Warum?
Weil es oft nicht eine Frage der persönlichen Kompetenz ist, aus den Schulden zu finden. Sondern systembedingt, dass man drin bleibt.
Wie zum Beispiel?
Das geht sofort los. Wenn Forderungen bei der Fälligkeit nicht beglichen werden können, werden sie durch das Inkasso automatisch teurer. Das beginnt bei den Betreibungskosten und geht weiter bis zu den überhöhten Kosten der verschiedenen Inkassounternehmen. Das heisst: Sie können die Grundforderung nicht bezahlen und müssen in der Folge mit deutlichen Mehrkosten rechnen.
Ein grosses Paradox.
Es geht sogleich weiter mit unüberwindbaren Schwierigkeiten wie dieser: Wir haben Klient*innen, die überschuldet sind, aber trotzdem Krankenkassenprämien von 500 oder 600 Franken zahlen.
Sie könnten die Kasse wechseln.
Das darf man eben nur, wenn man Ende Jahr keine Ausstände hat. Und es kommt vor, dass Leute Krankenkassenschulden bereits geerbt haben, etwa, wenn die Eltern die Prämien bereits nicht bezahlen konnten. Vielleicht kann jemand dann ein Leben lang nie die Kasse wechseln. Da kommen schnell mal 3000 Franken Differenz zu einer günstigeren Krankenkasse im Jahr zusammen, die man für die Schuldensanierung einsetzen könnte, aber gezwungenermassen der Krankenkasse zahlt. Man bleibt hängen im Verschuldungskreislauf. Das ist eine Realität.
Kann man noch ärztliche Hilfe beanspruchen, wenn man so lange keine Krankenkassenprämien bezahlt?
Im Kanton Bern gibt es zum Glück keine schwarze Liste mit Menschen, bei denen ein Leistungsstopp verordnet wird, damit man sie nur noch notfallmedizinisch versorgt.
«Unsere Gesellschaft ist darauf ausgerichtet, wachsenden Konsum zu begrüssen. »
Wer sind die wichtigsten Gläubiger*innen verschuldeter Menschen?
Die Steuerverwaltung und die Krankenkassen. Wer mit Verschuldung kämpft, häuft in 80 Prozent der Fälle Steuerschulden an, zu 65 Prozent Krankenkassenschulden. Barkredite und Kreditkartenschulden sind weniger häufig, sie spielen in rund jedem vierten Dossier eine Rolle.
Was passiert, wenn man Krankenkasse und Steuern nicht bezahlt?
Die Ausstände werden, wie oben beschrieben, mit einer Betreibung eingefordert. Hier zeigt sich eine weitere Bedingung, die es für Überschuldete sehr schwierig macht, aus ihrem Problem zu finden.
Nämlich?
Krankenkassenprämien sind sogenannte privilegierte Schulden, was bedeutet, dass sie in jedem Fall zu 100 Prozent bezahlt werden müssen. Wer einen Anlauf nimmt, seine Schuldensituation zu regeln, kann nicht hoffen, dass ihm*ihr die Krankenkasse entgegenkommt, dadurch wird oftmals eine Schuldensanierung verunmöglicht.
Mit anderen Worten?
Das Schuldenpaket, das zu 100 Prozent abgetragen werden muss, bleibt unüberwindbar hoch. Kommt hinzu, dass sich das Verschuldungsproblem systembedingt sogar noch zuspitzen kann.
Wie spitzt sich das Problem zu?
Wenn jemand zum Zeitpunkt des Pfändungsvollzuges die laufende Prämie noch nicht bezahlt hat, wird diese vom Betreibungsamt auch nicht in das betreibungsrechtliche Existenzminimum eingerechnet. Das bedeutet also: Man kann die Prämie auch künftig nicht bezahlen. Man ist in der Lohnpfändung und hat gar keine andere Wahl, als die Krankenkassenschulden weiter ansteigen zu lassen.
Gefangener kann man in der Schuldenfalle gar nicht sein.
Ein grosser Teil der Betroffenen hat keine Aussichten darauf, ihre Schulden sanieren zu können. Ihre Perspektive ist ein Leben mit Schulden, am oder unter dem Existenzminimum. Es gibt nichts, womit man das ändern könnte. Verschuldete brauchen sehr viele persönliche Ressourcen, um sich in dieser Situation nicht fallenzulassen und trotzdem die Steuererklärung auszufüllen. Obschon sie wissen, dass sie die Rechnung ohnehin nicht bezahlen können.
«Ich finde es bemerkenswert, dass der Kanton mit dem Betreibungsamt Geld verdient.»
Wie hilft die Schuldenberatung?
Bei Menschen, die keine Leistungsfähigkeit haben, um die Schulden zu regeln, versuchen wir, die Situation zu stabilisieren. Damit es zu keiner Verschlimmerung kommt. Wir unterstützen beim komplizierten Schriftverkehr mit den Behörden, kontrollieren, ob das Existenzminimum korrekt berechnet wurde, ob man ein Gesuch für Prämienvergünstigungen stellen könnte oder allenfalls ein Gesuch bei einer Stiftung eingeben, die bei dringenden Kosten Beiträge leistet.
Ein Problem dürfte auch die Gesundheit sein.
Auf jeden Fall. Stress, Stigmatisierung und Perspektivlosigkeit schaukeln sich gegenseitig auf. Unsere Gesellschaft ist darauf ausgerichtet, wachsenden Konsum zu begrüssen. Wer nicht mitmachen kann und ständig beim Betreibungsamt vorbeigehen muss, fühlt sich nicht als Teil davon. À propos Betreibungsamt gibt mir aber noch etwas anderes zu denken.
Was denn?
Ich finde es bemerkenswert, dass der Kanton mit dem Betreibungsamt Geld verdient. Es läuft ja so: Ein*e Gläubiger*in muss zwar zuerst zahlen, damit der Kanton ein Betreibungsverfahren eröffnet. Aber diese Gebühr wird dann auf den*die Schuldner*in übertragen, zusätzlich zu all den Kosten, die einem verrechnet werden, wenn Verschuldete Belege nachreichen müssen oder eine Neuberechnung verlangen. Unter dem Strich nahm der Kanton damit, gemäss den letzten veröffentlichten Zahlen, im Jahr 2019 18,7 Millionen Franken ein.
Kommt dazu, dass der Kanton mit der Steuerverwaltung ja einer der wichtigsten Gläubiger ist.
Meiner Meinung nach kann man die politische Frage schon aufwerfen, ob die Summe der Menschen, die sich, wie in diesem Gespräch geschildert, in schwierigen bis aussichtslosen finanziellen Verhältnissen befinden, Millioneneinnahmen für den Kanton generieren sollen.