Inklusion

Das Ringen um selbstbestimmtes Wohnen

Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf Selbstbestimmung, ein entsprechendes Gesetz tritt im Kanton Bern 2024 in Kraft. Was braucht es, damit ein Leben in der eigenen Wohnung zur Selbstverständlichkeit wird?

Anik Muhmenthaler fährt über die Rampe in ihrem Wohnhaus. Fotografiert am 22.03.2023 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Rampen verbinden die Stockwerke: Anik Muhmenthaler wohnt in einem barrierefreien Gebäude. (Bild: Simon Boschi)

Mit dem Stab in ihrem Mund tippt Anik Muhmenthaler auf ihrem Smartphone. Einige Klicks und schon öffnet sich die Haustür. «Ich kann sie über eine App steuern, das ist wie ein digitaler Schlüssel», erklärt die 35-jährige Tetraplegikerin. Seit ihrer Geburt hat sie einen Tumor im Nacken, der mit den Nerven verwachsen ist. Deshalb bedient sie ihr Smartphone mit einem Stab im Mund und die Steuerung ihres Rollstuhls mit dem Kinn. «Solche technischen Hilfsmittel ermöglichen mir Selbstständigkeit», erzählt Muhmenthaler, während sie ins Esszimmer fährt.

Porträt von Anik Muhmenthaler
Im Jahr 2019 ist Anik Muhmenthaler aus dem Wohnheim Rossfeld in eine eigene Wohnung umgezogen. (Bild: Simon Boschi)

Ein selbstständiges Leben ist für sie auch durch das Angebot Assisto-Casa möglich – Wohnen mit Dienstleistungen der Rossfeld-Spitex. Im Gegensatz zur privaten Spitex bietet die Rossfeld-Spitex ihre Dienstleistungen nur an der Reichenbachstrasse in Bern an, wo die Stiftung Rossfeld auch ein Wohnheim betreibt. 

Seit 2019 bestehen an der Reichenbachstrasse 45 barrierefreie Wohnungen, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen leben. Diejenigen Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, können die Dienstleistungen optional bei der Rossfeld-Spitex beziehen. Der Vorteil: Personen, die nur punktuell Unterstützung benötigen, können aufgrund der räumlichen Nähe in Notfällen darauf zurückgreifen oder für kurze Unterstützung, wie beispielsweise beim Anziehen der Jacke, in der Zentrale vorbeigehen. 

Balanceakt zwischen Freiheit und Sicherheit

«Zuerst war es mein Ziel, vollständig mit persönlicher Assistenz zu leben. Aber ich habe schnell gemerkt, dass mir die Spitex eine gewisse Sicherheit bietet», meint Anik Muhmenthaler, die seit 2019 in einer eigenen Wohnung lebt. Zuvor war sie im Wohnheim Rossfeld, wo sie rund um die Uhr auf Unterstützung zählen konnte. Vor allem die fixen Strukturen im Heim seien aber für sie schwierig gewesen. So konnte Muhmenthaler nicht selbst entscheiden, was sie zu Abend essen möchte, oder musste mit Mitbewohner*innen aushandeln, wer wann ins Bett geht. 

In ihre erste eigene Wohnung zu ziehen, hiess, mehr Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. So muss sie nun planen, wann sie welche Unterstützung benötigt und wann es ihr möglich ist, einige Stunden am Stück alleine zu sein. Zwei Mal in der Woche nutzt die gelernte Kauffrau das Angebot der Rossfeld-Spitex für die morgendliche Pflege.

Vor allem zu Beginn des selbstständigen Wohnens sei es für sie eine Erleichterung gewesen, dass sie manche Personen von der Rossfeld-Spitex schon aus dem Wohnheim kannte. «Meine Pflege ist etwas komplexer. Wären alles neue Leute gekommen, die das hätten lernen müssen, wäre das mit viel Aufwand verbunden gewesen», erklärt sie.

Selbstbestimmung als Menschenrecht

Der restliche Unterstützungsbedarf wird durch ein Team von rund 15 Assistenzpersonen abgedeckt. Die Dienste dauern meist von 17 Uhr abends bis am nächsten Morgen. Auf die Frage, wieso sie nicht ganz mit persönlicher Assistenz lebe, erklärt Muhmenthaler: «So kann ich auf das fachliche Wissen der Spitex zurückgreifen. Und vor allem für kurze Einsätze wie das Mittagessen ist es schwierig, Assistenzpersonen zu finden. Deshalb bin ich dankbar, kann ich das Angebot der Spitex nutzen.» 

Technische Hilfsmittel geben Anik Muhmenthaler Selbständigkeit. Auf dem Bild sieht man ihr Smartphone, mit dem sie zum Beispiel die Türe öffnen kann.
Über das Smartphone kann Anik Muhmenthaler unter anderem das Licht ein- und ausschalten. (Bild: Simon Boschi)

Simone Leuenberger, Berner Grossrätin (EVP) und Geschäftsführerin des Arbeitgeberverbands für Assistenznehmende InVIEdual, sieht Angebote wie Assisto-Casa kritisch: «In Anlehnung an den Artikel 19 ‹Unabhängige Lebensführung› in der UNO-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) müssen Menschen mit Behinderungen selbst entscheiden können, wer wann wo wie was und wie lange unterstützt. Bei der Spitex kann aber nicht frei gewählt werden, welche Person die Pflege übernimmt.» Die Schweiz fokussiere sich momentan auf solche Angebote und erst am Schluss auf die Assistenz. Das müsse umgekehrt sein, sagt Leuenberger.

Bern als Pionierkanton

Der Kanton Bern will handeln und verankert per 1. Januar 2024 das Recht auf selbstbestimmtes Leben im Gesetz über die Leistungen für Menschen mit Behinderungen (BLG). Als einer der ersten Kantone wechselt er von der Objekt- zur Subjektfinanzierung. Das bedeutet, dass künftig die finanziellen Mittel für Hilfs- und Unterstützungsleistungen direkt an die Menschen mit Behinderungen und nicht an Institutionen fliessen. Damit erhalten Menschen wie Anik Mumenthaler mehr Möglichkeit, zwischen unterschiedlichen Angeboten und Leistungserbringenden zu wählen.

Der Kanton hebt bei dieser Umstellung vor allem zwei Vorteile hervor: Erstens müssen Menschen mit Behinderungen nicht in einem Heim wohnen, sondern können von ambulanten Dienstleistungen zuhause profitieren, wenn sie beispielsweise nur punktuell Unterstützung benötigen. Zweitens können auch Leistungen von Angehörigen entschädigt werden. Dadurch schliesst der Kanton Bern die Lücke des IV-Assistenzbeitrags, der die Entschädigung von Angehörigen ausschliesst.

Simone Leuenberger schaut dem Paradigmenwechsel positiv entgegen: «Finanziell sind wir auf einem guten Weg, dass das BLG die Lücken des Assistenzbeitrags ausgleicht. Die Subjektfinanzierung ist eine notwendige Bedingung für ein selbstbestimmtes Leben.» Aber auch diese löse noch lange nicht alle Schwierigkeiten. Die Unterstützung für den Wechsel von einer Institution in eine eigene Wohnung sei noch nicht geklärt. 

Anik Muhmenthaler am Schreibtisch ihrer Wohnung.
Plötzlich Chefin: Anik Muhmenthaler ist Arbeitgeberin ihrer Assistenzpersonen. (Bild: Simon Boschi)

Genau diese Unterstützung hätte sich auch Anik Muhmenthaler gewünscht, etwa bei der Anstellung der Assistenzpersonen. «Bei der Kurzberatung haben sie mir gesagt, ich solle für die Berufsunfallversicherung verschiedene Offerten einholen.» Das hat sie gemacht. «Aber ob ich mich tatsächlich für das richtige Angebot entschieden habe, das weiss ich bis heute nicht. Man macht es halt einfach irgendwie», sagt sie.

Vorbilder in ausländischen Modellen

Für Simone Leuenberger läge die Lösung nahe: «Das kann in Anlehnung an das schwedische Modell der ‹Assistant Gerant› sein, der die Anstellung, Planung und Abrechnung übernimmt. Oder es könnten Assistenzgenossenschaften wie in Deutschland gegründet werden.» Für sie ist klar: Dass Menschen mit Behinderung den administrativen Aufwand für die Beschäftigung der Assistenzpersonen selber übernehmen müssen, sei nicht das, was die UN-BRK vorsieht. 

Um sich vermehrt für die Rechte von assistenznehmenden Personen einzusetzen, hat Leuenberger Ende 2020 den Arbeitgeberverband InVIEdual gegründet. «Dass Menschen mit Behinderungen Arbeitgeber*innen sind, ist noch zu wenig auf dem Radar. Sowohl bei Behindertenorganisationen als auch in der Verwaltung, der Politik und der Gesellschaft.» Das zeige sich vor allem bei neuen Entscheidungen, so auch bei Bestimmungen zuhanden der Kantone, die das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco erlassen hat.

Zum Schutz vor Ausbeutung wurde vorgeschlagen, dass in den Privathaushalten zwischen 11 Uhr abends und 6 Uhr morgens keine Arbeit geleistet werden soll. «Was bedeutet das für Menschen wie mich?», fragt Leuenberger. Und antwortet gleich selbst: «Wir können dann das Leben lang kein Silvester mehr feiern und auch nicht vor 6 Uhr aufstehen, um arbeiten zu gehen.» In solchen Bestimmungen dürfe die Perspektive von Menschen mit Behinderungen nicht vergessen gehen. 

Themenschwerpunkt Inklusion

Was brauchen Menschen mit Behinderungen, damit sie gleichberechtigt am Arbeits- und Sozialleben teilhaben können? Was können wir alle zu einer inklusiveren Gesellschaft beitragen und was sind die Herausforderungen dabei? Diesen Fragen widmet sich die «Hauptstadt» in einem Schwerpunkt zu Inklusion

Wir schreiben unter anderem über selbstbestimmtes Wohnen mit Assistenz und die entsprechende Gesetzeslage im Kanton Bern und sprechen mit einer Person im Autismus-Spektrum über Begrüssungsrituale und die Deutung von Gesichtsausdrücken. Nach dem Grundsatz «Nichts über uns ohne uns» arbeiten Journalist*innen mit und ohne Behinderungen an diesem Schwerpunkt mit. Längerfristig planen wir auch zu anderen Themen Texte aus der Perspektive von Journalist*innen mit Behinderungen zu publizieren. 

Doch auch wenn die Selbstbestimmung noch an vielen Orten aneckt, stellt Simone Leuenberger fest: «Diese Forderungen für ein selbstbestimmtes Leben sind nichts Utopisches, wir kämpfen für Selbstverständlichkeiten.» Selbstbestimmtes Leben bedeutet für sie zum Beispiel auch, am Abend nach Hause zu kommen und Hausschuhe anzuziehen. «Das ist etwas ganz Simples.»

Assisto-Casa als Brückenangebot

Viele ihrer ehemaligen Mitbewohner*innen aus dem Wohnheim seien laut Anik Muhmenthaler aus dem Wohnheim gezogen und hätten den Sprung in ein Leben mit persönlicher Assistenz gewagt. Das habe sie ermutigt, den Schritt auch zu machen. Sie sei in ihrer Wohnung glücklich: «Ich habe noch keine Sekunde daran gedacht, ob ich wieder zurück ins Wohnheim soll. Hier habe ich ein normaleres Leben.» 

Anik Muhmenthaler schaut in ihrer Wohnung zum Fenster raus.
Anik Muhmenthaler ist glücklich darüber, dass sie in einer eigenen Wohnung leben kann. (Bild: Simon Boschi)

Wünschen würde sie sich lediglich einen Assistenzroboter als Ergänzung zum Assistenzteam, der sie noch unabhängiger von menschlichen Hilfeleistungen machen würde. Sie schmunzelt: «Dann könnte er mir auch mal spontan einen Snack aus dem Kühlschrank geben». Dann klingelt es an der Tür. Es ist kurz vor 17 Uhr. Muhmenthalers Assistenzperson beginnt gleich den Arbeitseinsatz.

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Diskussion

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Patricia Götti
24. März 2023 um 16:47

Gut geschrieben und auf den Punkt gebracht!