«Man sollte den Blick auf den Islam normalisieren»

Die Berner Professorin Serena Tolino will einen frischen Blick auf den Islam vermitteln. Sie beschäftigt sich unter anderem mit Feminismus, der queeren Community und dem Verständnis von Arbeit im islamischen Raum.

Serena Tolino
© Danielle Liniger
«Muslim*innen sind in erster Linie ganz normale Menschen»: Professorin Serena Tolino auf der Dachterrasse der Uni-Tobler. (Bild: Danielle Liniger)

Frau Tolino, Sie forschen unter anderem zu Homosexualität und Genderfragen im Islam oder zu islamischem Recht. Warum soll sich die Universität Bern diesen Fragen widmen?

Serena Tolino: Warum nicht? (lacht)

Weil sie im Zusammenhang mit dem Islam überraschen.

Es gibt mehrere Gründe, die für diesen neuen Fokus unseres Instituts sprechen. Erstens: Der Islam ist Teil unserer Gesellschaft hier in der Schweiz. Es gibt hier viele Menschen, die nicht nur aus den Ländern, zu denen wir forschen, stammen, sondern natürlich auch viele Muslim*innen, die Schweizer*innen sind. Umso wichtiger ist es, dass wir uns an der Universität Bern wissenschaftlich fundiert mit Fragen befassen, die den Alltag unserer Mitmenschen betreffen. Manchmal bin ich allerdings auch selbst noch überrascht, welche Fragen das sein können.

Was hat Sie überrascht?

Auch mir war nicht bewusst, wie konkret das islamische Recht in der Schweiz manchmal angewendet wird – zum Beispiel auf dem Gebiet des Internationalen Privatrechts.

Wie genau?

Wenn etwa aus dem Nahen Osten zugewanderte Menschen, die nach islamischem Eherecht verheiratet sind, hierzulande eine familienrechtliche Auseinandersetzung haben, müssen Richter*innen in der Schweiz unter Umständen islamisches Recht anwenden. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, organisierten wir gemeinsam mit zwei Kolleg*innen der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Florian Eichel und Rorick Tovar, im letzten Semester einen interdisziplinären Kurs sowohl für Jus-Studierende wie für und angehende Islamwissenschaftler*innen.

Zur Person

Serena Tolino ist seit 2020 Professorin für Islamwissenschaften und Middle Eastern Studies an der Universität Bern. In Co-Direktion mit Assistenzprofessorin Nijmi Edres leitet sie das Institut für Studien zum Nahen Osten und zu muslimischen Gesellschaften, das bis 2021 Institut für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie hiess. Tolinos Forschungsinteressen betreffen unter anderem islamisches Recht, Gender und Sexualität sowie Sklaverei und Abhängigkeitsverhältnisse in islamisch geprägten Gesellschaften. Der schweizerische Nationalfonds sprach ihr kürzlich finanzielle Unterstützung in Form eines Starting Grants zu, um ihr Forschungsprojekt zu Arbeit in islamischen Rechtstraditionen in Angriff zu nehmen. Sie leitet auch ein Projekt über die Geschichte der Sklaverei in islamischen Rechtsquellen, das ebenfalls vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert wird.

Die gebürtige Italienerin forschte und lehrte unter anderen an den Universitäten in Neapel, Zürich, Harvard und Hamburg und hat lange in Kairo gewohnt. Serena Tolino lebt mit ihrer Familie in Bern und ist Mutter zweier Kinder.

Wir waren bei Ihrem Forschungsinteresse für den Alltag von Muslim*innen. Warum dieser Fokus?

Muslim*innen sind in erster Linie ganz normale Menschen, die im Alltag viele Dinge machen, so wie Sie und ich auch. Es ist nicht so, dass Muslim*innen den ganzen Tag nur beten oder in die Moschee gehen. Dieser Grundgedanke und damit die Menschen kommen für mich vor der Religion, der Islam ist eine Facette in ihrem vielseitigen Leben. Dieses Verständnis ist für meine Forschung sehr wichtig.

Was heisst das konkret? 

Oft wird, wenn im Westen der Islam thematisiert wird, dessen Ausnahmestellung hervorgehoben. Das trägt zu vielen falschen Vorstellungen über Muslim*innen bei. Man sollte den Blick auf den Islam normalisieren. Natürlich hat jede Religion ihre Besonderheiten, aber so anders ist der Islam gar nicht. Wenn wir uns Fragen stellen zu islamisch geprägten Ländern, sollte nicht immer die Religion im Zentrum stehen.

Serena Tolino
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Mit einem Augenzwinkern: Das Bild «Impossible Dream» von Laila Shawa (Palästina, 1988), das an der Wand von Serena Tolinos Büro hängt. (Bild: Danielle Liniger)

Wenn bei Ihrer Forschung zum Islam nicht die Religion im Zentrum steht, was dann?

Wir sollten etwa besser verstehen, wie islamisches Recht das reale Leben der Menschen beeinflusst hat und bis heute beeinflusst. Ich untersuche zum Beispiel, wie das islamische Recht mit Genderfragen, sozialer Gerechtigkeit oder ethnischer Zugehörigkeit zusammenhängt. Und mit der Religion – aber eben nicht nur mit der Religion. In meinem Projekt, das ich nun dank der Unterstützung durch den Schweizerischen Nationalfonds mit einem interdisziplinären Team starten kann, will ich erforschen, wie sich das Verständnis von Arbeit im islamischen Kontext gewandelt hat.

Warum gerade das Thema Arbeit?

Das hat auch mit meiner Biografie zu tun. Ich war eine Aktivistin, die sich immer für Menschenrechte sowie die Gleichstellung und -berechtigung der Geschlechter eingesetzt hat. Damit hängt für mich untrennbar auch die Frage nach den Rechten von Arbeiter*innen zusammen. In der Wissenschaft irritierte mich, wie wenig man über die Realität arbeitender Frauen im Nahen Osten weiss. Diese Lücke wollen wir jetzt schliessen – und damit auch zu einem nuancierteren Verständnis von Arbeit beitragen.

Wie kann ein nuancierteres Verständnis konkret aussehen?

Im Westen reden wir meist über Lohnarbeit. Aber das ist ja nicht alles. Historisch gesehen ist Lohnarbeit – leider – eher die Ausnahme. Um Arbeit wirklich besser zu verstehen, müssen wir uns auch fragen, wie im Verlauf der Geschichte zum Beispiel mit Zwangsarbeit, Sklaverei, aber auch mit Care-Arbeit umgegangen worden ist. Mich interessiert dabei insbesondere der Blick in den Nahen Osten. Die Antworten, die wir hoffentlich bald geben können, sind auch auf der globalen Ebene für ein besseres Verständnis von Arbeit interessant.

Serena Tolino
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«Das Grundproblem aus feministischer Sicht ist nicht der Koran», sagt Serena Tolino. (Bild: Danielle Liniger)

Ist in der islamischen Welt….

(unterbricht) Islamische Welt? Die gibt es so nicht. Die 48 Länder, in denen verschiedene Strömungen des Islam die Religion der Mehrheit sind, als Einheit zu sehen, ist nicht korrekt.

Was wäre korrekt?

Ich habe in Tunesien, Ägypten und im Libanon gelebt, die Alltagsrealität unterscheidet sich sehr, auch in Bezug auf die Rolle der Religion. Niemandem käme es in den Sinn, nur schon Italien und Spanien als Einheit zu sehen, weil sie beide mehrheitlich katholisch sind. Mir ist es wichtig, dass wir ebenso differenzieren, wenn wir über den Islam sprechen  – wenn man überhaupt von «dem Islam» reden darf.

Lässt der Koran eine Bewegung für die Gleichstellung der Geschlechter in islamischen Ländern zu?

Die Aussenwahrnehmung ist, dass Frauen durch den Koran und das unter anderem dadurch abgeleitete Rechtssystem der Scharia unterdrückt werden. Die Realität ist viel komplexer.

Wie denn?

Es gibt zum Beispiel eine vielfältige Bewegung, die wir als islamischen Feminismus bezeichnen, zu dem verschiedene Gruppierungen gehören. Sie sind, je nach politischer Lage und Land, unterschiedlich stark organisiert. Musawah zum Beispiel ist eine weltweite Bewegung für Gleichheit und Gerechtigkeit in der muslimischen Familie und im Familienrecht.

«Ich will nichts beschönigen. Natürlich ist die Lage für queere Menschen schrecklich, das kann man nicht anders sehen.»

Mit welchem Ziel?

Islamische Feminist*innen bemühen sich, genderfreundlichen Interpretationen von Korantexten und den vom Propheten Muhammad vermittelten Rechtsauffassungen zum Durchbruch zu verhelfen. Weil die patriarchale und teilweise gewaltorientierte Lesart der Religion dominiert und durch repressive Regimes in vielen Ländern gestützt wird, dringt das kaum an die Öffentlichkeit. Im Westen schon gar nicht.

Das Grundproblem ist nicht die Religion?

Um es ganz knapp auf den Punkt zu bringen: Nein. Das Grundproblem aus feministischer Sicht ist nicht der Koran, sondern die patriarchale Interpretation der Texte, die von den männlichen Eliten festgeschrieben wurde. Und bis heute benutzen viele autoritäre Regimes die Religion zum Machterhalt und wehren sich gegen diversere Interpretationen.

Serena Tolino
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Bücherregal einer Geisteswissenschafterin. (Bild: Danielle Liniger)

Heisst das: Die Situation ist weniger schlimm als man von aussen den Eindruck hat?

Darum geht es nicht. Ich will nichts beschönigen. Ich habe ja zum Thema Homosexualität im Islamischen Recht mit Fokus auf Ägypten und Libanon promoviert. Natürlich ist die Lage für queere Menschen schrecklich, das kann man nicht anders sehen. Das eigentliche Problem ist aber nicht der Koran, sondern die queer- und gender-feindliche Interpretation, mit der autoritäre Regierungen ihre Repression legitimieren. Ich finde es wichtig, diesen Unterschied zu verstehen, wenn wir einen Beitrag leisten wollen für eine gerechtere Gesellschaft.

Welchen Beitrag kann Ihr Institut leisten?

Ich werde oft gefragt, was man für die LGBTQI-Community im Nahen Osten tun kann. Meine Antwort lautet immer: Fragt sie selber. Lasst sie zu Wort kommen, versucht, ihre Situation, ihre Möglichkeiten und Wünsche für Verbesserungen zu verstehen. Fragt sie vor allem, ob sie unsere Unterstützung überhaupt brauchen oder wollen.

Warum?

Der Westen hat zu oft LGBTQI- oder Frauenrechtsfragen im Nahen Osten für eigene politische Ziele instrumentalisiert. Solidarität ist wichtig, aber es gibt kein allgemeines Rezept dafür. Im letzten Semester haben wir an der Uni etwa eine Ringvorlesung zu Queerness im Nahen Osten gemacht. Wir haben Aktivist*innen und Forscher*innen aus der Region, aber auch aus europäischen Universitäten eingeladen, um gemeinsam nachzudenken und ein besseres Verständnis zu entwickeln. Die Veranstaltung war gut besucht – auch von der queeren Community in der Schweiz.

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Erhält kontroverse Reaktionen auf ihre Forschungsarbeit: Serena Tolino. (Bild: Danielle Liniger)

Was konnte sie mitnehmen?

Die muslimische Diaspora in der Schweiz ist so divers wie muslimisch geprägte Gesellschaften andernorts auf der Welt. Die Identitätsfragen sind oft die gleichen, auch sie haben es nicht einfach, ihren Platz zu finden. Aber: An unserer Veranstaltung  wurde für sie sichtbar, hey, es gibt hier eine queere muslimische Community.

Wie stark exponieren Sie sich mit Ihrem Institut und Ihrem kritischen Blick auf die Situation in islamischen Ländern?

Oh, ich erhalte viele, sehr unterschiedliche Reaktionen auf meine Arbeit, das können Sie sich vorstellen.

Wie schützen Sie sich?

Wir sind ein diverses, leidenschaftliches, internationales Team an unserem Institut. Wir schützen und unterstützen uns gegenseitig, ich fühle mich in keiner Situation allein. Viele von uns haben persönliche und familiäre Beziehungen in den Nahen Osten. Deshalb überlegen wir uns sehr gut, wie wir beispieslweise  in Medien Stellung beziehen, um niemanden zu gefährden. Andererseits verfügen wir über das Privileg eines geschützten Raums, deshalb wollen wir auch ganz bewusst Verantwortung übernehmen. Die Universität Bern hat ein starkes Diversity-Konzept und uns ist es wichtig, dass das auch ernst genommen und in die Forschung übertragen wird.

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Diskussion

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Pascal Burri
19. Juni 2023 um 07:21

Ein spannendes Interview. Wieso man aber immer auf biegen und brechen zu rechtfertigen versucht, dass religiöse Schriften, einschliesslich der Bibel, auch heute noch von Belang sein sollen, werde ich nie verstehen. Diese dann immer krampfhaft zu versuchen im heutigen Zeitgeist neu zu definieren, wozu soll das gut sein? Texte die tausende Jahre alt sind sollten auch als solche behandelt werden und nicht in die neue Zeit kolportiert werden. Wer sich heute noch nach einem moralischen Kompass richten muss, der über 2'000 Jahre alt ist, soll das tun. Das allerdings dann für juristische und rechtliche Praktiken bindend machen, halte ich für äusserst unsinnig und antiquiert.