«Ich würde als Stapi nicht plötzlich links»
«Wer wird in Bern Stapi?», fragte die «Hauptstadt» am Hauptsachen-Talk im Progr. Die überraschendste Antwort hatte Alec von Graffenrieds Schwester, die im Publikum sass.
Die Stadtberner Wahlen 2024 sind aussergewöhnlich spannend. Was jetzt schon sicher ist: Es wird am 24. November spektakuläre Niederlagen geben.
Entweder fällt das Grüne Bündnis (GB) zum ersten Mal seit dem Wahlsieg von Rot-Grün-Mitte (RGM) 1992 aus der Regierung. Oder die neu formierte Mitte-Rechts-Liste verpasst es, den angestrebten zweiten Regierungssitz von RGM zurückzuerobern. Oder: Der amtierende Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) wird abgewählt. Denn er wird ernsthaft herausgefordert – von Marieke Kruit (SP) aus der eigenen RGM-Familie, aber auch von Melanie Mettler (GLP) und Janosch Weyermann (SVP) vom bürgerlichen Wahlbündnis «Meh Farb für Bärn!».
Um die Stapi-Frage ging es deshalb am Dienstagabend im Hauptsachen-Talk, den die «Hauptstadt» in Zusammenarbeit mit dem Kulturzentrum Progr organisierte. Die «Hauptstadt»-Journalist*innen Jana Schmid und Joël Widmer fühlten den vier Stapi-Kandidat*innen vor rund 70 Zuhörer*innen auf den Zahn.
Um es in der Fussballer*innensprache zu sagen: Alec von Graffenried setzte auf wortreiche Defensivtaktik («Bern ist steinreich» oder «Bern hat die schönsten Schulhäuser der Schweiz») und liess sich zur einen oder anderen verbalen Grätsche hinreissen. Die drei Herausforderer*innen spielten kontrolliert, vermieden Fehlpässe und versuchten ein paar eher zaghafte Angriffe. Satte Torschüsse gelangen kaum.
Der grüne Onkel
Trotzdem war der Talk sehr aufschlussreich. Was äusserlich sofort ersichtlich war: Als einzige der vier Kandidierenden suchte und fand Melanie Mettler den aktiven Austausch mit dem Publikum per Blickkontakt.
Inhaltlich bemerkenswert waren die Zwischentöne. Auf die Frage eines «Hauptstadt»-Lesers, ob er sich als SVPler vorstellen könne, die mehrheitlich rot-grün wählende Stadt als Stapi zu repräsentieren, sah der locker gestimmte und eloquente Janosch Weyermann keine Probleme: «Es ist nicht alles schlecht, was von der Linken kommt», sagte er zur Erheiterung des Publikums.
Und er erwähnte seinen Onkel, der in Wien Fraktionspräsident bei den Grünen sei. Um dann klarzustellen: «Ich würde als Stapi nicht plötzlich links.» Einmitten würde er sich im Amt wohl schon, hielt der heutige SVP-Fraktionschef im Stadtrat fest. Und klar, ein wenig Sozialpolitik gehöre in einem solchen Amt schon auch dazu.
Das Defizit 2024
Zum Wahlkampf-Repertoire von Weyermann gehört die Kritik an der rot-grünen Finanzpolitik: am auf 1,5 Milliarden Franken angewachsenen Schuldenberg, an den zahlreichen IT-Debakel mit Kostenfolgen in Millionenhöhe, an der Verscherbelung des teuer sanierten Altersheims Kühlewil. Alec von Graffenried lief warm, als er diese Kritik mit viel Detailwissen konterte. Er sagte zwar voraus, dass die Rechnung 2024 nicht in den schwarzen Zahlen abschliessen werde und die Stadtregierung für 2027 ein Sparpaket schnüren müsse.
Doch insgesamt sieht der Stapi in der rot-grünen Finanzpolitik «viel Kontinuität». Weil die Stadt (im Gegensatz zu vielen Agglomerationsgemeinden) den Steuerfuss in den letzten 25 Jahren nicht antasten musste, stehe sie im regionalen Steuerwettbewerb inzwischen gut da. «Hört auf, die Finanzlage schlecht zu reden», bat von Graffenried Weyermann und seine bürgerlichen Verbündeten. Was man nicht vergessen dürfe: «Wir leisten uns viel in Bern.» Die Stadt lebe auf einem sehr hohen Standard.
Die Augenhöhe
«Aber Alec, wir müssen schon auch selbstkritisch sein», mahnte ihn seine Gemeinderatskollegin und Stapi-Konkurrentin Marieke Kruit: Man müsse verwaltungsinterne Abläufe optimieren, um Leerläufe zu vermeiden.
Ein paar Minuten später liess Kruit diesen Satz fallen: «Die Stadt ist kein Gallierdorf.» Würde sie Stapi, meinte sie damit, wäre sie sehr um Kommunikation auf Augenhöhe mit den Agglomerationsgemeinden bemüht. Auch das ein kleiner Seitenhieb gegen von Graffenried, dem das beim gescheiterten Fusionsprojekt mit Ostermundigen nicht optimal gelang.
Auch als es ums Gewerbe ging, musste sich von Graffenried Kritik gefallen lassen. «Genau, Alec macht ja schon alles», bemerkte Melanie Mettler, als der amtierende Stapi gerade aufgezählt hatte, was die Stadt alles zu Gunsten der Wirtschaft unternehme. Und trotzdem, hakte Mettler nach, ertöne ja immer wieder die Klage des Gewerbes, bei der Stadtregierung kein Gehör zu finden. Auch da sei «ein Dialog auf Augenhöhe» nötig, sagte Mettler, die das «Prozess- und Beziehungsmanagement» als eine der wichtigsten Aufgaben sieht, falls sie Stapi würde.
Grüne Grünliberale
Als das Gespräch auf die Klimapolitik kam, erklärte der Stadtpräsident, dass in der dichten Stadtbebauung fast nur die Fernwärme als klimaschonende Methode zum Heizen in Frage komme. Da griff Mettler flugs an die Anstecknadel am Revers von Alec von Graffenrieds Kittel: «Es ist mega gut, sich auf die globalen Nachhaltigkeitsziele zu berufen», sagte sie voller Ironie.
Aber ob man allein mit der Fernwärme ans Ziel komme, bezweifle sie. Für eine Stadtregierung, die so stark rot-grün dominiert sei, seien die Fortschritte in der Klimapolitik ernüchternd, kritisierte die Grünliberale, die ihre grüne Seite stark betonte. Es war der nachhaltigste Angriff aufs rot-grüne Tor.
Die entschlossene Schwester
Was man nach dem «Hauptsachen»-Talk zweifellos festhalten kann: Es ist etwas ganz anderes, wenn man Kandidierende live vor Publikum argumentieren hört und nicht nur von Bildern lächelnd auf dem Wahlzettel sieht.
Bis zu einem gewissen Grad bestätigte die Schwester von Alec von Graffenried diese These. Sie sass im Publikum und meldete sich in der abschliessenden Fragerunde mit einer Überlegung zu Wort, die für viel Heiterkeit sorgte.
Sie habe sich am Mittag die Episode des «Hauptstadt»-Podcasts «Im Hinterzimmer» angehört, die sich mit der Stapi-Wahl und dem anspruchsvollen Stapi-Amt befasst, erklärte sie. Das habe ihr alles sehr eingeleuchtet. Und jetzt, während dem Talk, sei ihr aufgefallen: Nur die beiden Frauen hätten eine Vision präsentiert, wie sie das Amt ausfüllen und die Stadt voranbringen möchten. Für sie sei es klar geworden, dass sie diesmal eine Frau wähle.
Als er das Statement hörte, lächelte Alec von Graffenried auf der Bühne. Nach dem Talk trank er mit seiner Schwester in der Turnhalle des Progr friedlich ein Bier.
Die nächste Folge des Wahlpodcasts «Im Hinterzimmer» widmet sich dem Talk mit den vier Stapi-Kandidat*innen. «Hauptstadt»-Journalistin Marina Bolzli hat sich Verhalten und Wirkung der Protagonist*innen auf der Bühne genau angeschaut. Demnächst auf unserer Website.