Die Burschen von heute
Die Studentenverbindung Zofingia gibt es seit über 200 Jahren – immer noch übt sie eine Anziehung auf junge Männer aus. Warum eigentlich?
Donnerstagabend vor den Abstimmungen. Im Haus der Studentenverbindung Zofingia Sektion Bern an der Alpeneggstrasse in der Länggasse treffen immer mehr Menschen ein. Es sind hauptsächlich Männer. Manche tragen ein Jackett, andere ein Hemd mit Kragen, aber alle haben quer über die Schultern ein rot-weiss-rotes Band mit goldener Perkussion gelegt. Dazu tragen sie eine weisse Mütze mit verschiedenen Pins. Diese Kleidung ist Vorschrift an diesem Abend, an dem die Verbindung über die AHV-Initiative diskutieren will.
Im Saal im Untergeschoss des Verbindungshauses sind mehrere Tische zu einem Langen arrangiert. Darauf stehen Kerzen in den Verbindungsfarben rot-weiss-rot und gefüllte Bierkrüge. An beiden Tischenden steht je ein übergrosser Stuhl für den Verbindungspräsidenten und den Fuxmajor, den Vorsitzenden der Fuxen. Die Fuxen sind die jüngsten Verbindungsmitglieder. In späteren Jahren werden sie zu «Burschen».
Alles hat eine genaue Ordnung. Auch wer wo am Tisch sitzt. Neben dem Verbindungspräsident sitzen die älteren und «vollberechtigten, erfahrenen Mitglieder der Zofingia», wie es in ihrem Lexikon steht. Sie sind aufgeteilt nach Alter. In der Mitte sitzen die Nicht-Mitglieder. Am anderen Ende des Tisches verhält es sich ähnlich: Rechts zum Fuxmajor sitzen die «Füxe», die am längsten dabei sind. Links der Majors sitzen aber Altzofinger, ehemalige Mitglieder der Verbindung.
Vom 4. bis zum 8. März gastierte die «Hauptstadt» an der Universität Bern. Die Redaktion verlegte ihren Standort für eine Woche ins Hauptgebäude und tauchte ins Uni-Leben ein.
Im Fokus steht die Universität nicht nur als Ort der Wissenschaft. Sondern als vielfältiger, dynamischer gesellschaftlicher Lebensraum in der Länggasse. Wir fragen auch: Wie muss man sich ein Student*innenleben – jenseits der Vorurteile – vorstellen? Und wie kommen Studierende in der Länggasse gastronomisch über die Runden?
Hier geht es zum thematischen Schwerpunkt.
Es riecht nach Zigaretten- und Zigarrenrauch. Im ganzen Haus dürfen die Anwesenden rauchen.
Pünktlich um 19:15 Uhr bittet der Verbindungspräsident Raphael Fehr, Verbindungsname «Crescendo», die rund 20 um den Tisch sitzenden Menschen um Ruhe. «Silentium», ruft er. Es ist einer von vielen lateinischen Ausdrücken, die heute Abend fallen. Die Gruppe verstummt.
Er begrüsst die Runde, insbesondere die «Hauptstadt» und weitere Personen, die nicht zur Verbindung gehören und an diesem Abend anwesend sind. Davon zwei Frauen: die Verbindungspräsidentin der Studentinnenverbindung Auroria Bernensis, Kerstin Kraus-Ruppert, Verbindungsname «Cheshire», und eine Kollegin eines Verbindungsmitglieds der Zofingia.
Cantus und Comment
Zu Beginn des Abends singt die ganze Gruppe ihr Verbindungslied, den «Farbencantus». Es ist französisch und steht im Liederbuch der Verbindung. Alle um den Tisch stehen auf und wippen dazu Arm in Arm hin und her. Anschliessend spricht der Fuxmajor ein paar Worte und bittet Nicolas Leffler, der erst seit einem Semester Teil der Zofingia ist, die AHV-Initiative vorzustellen.
Als Leffler, Verbindungsname «Groupie», Pro und Contra der Initiative erklärt hat, singt die Gruppe erneut auf französisch: «Il a bien parlé». Leffler muss derweil sein Bier austrinken.
Solche Regeln scheint es viele zu geben: Wer etwas sagen will, muss sich beim Präsident anmelden mit «Habeam Questionem» oder «Habeam Replik». Jeder trinkt, bevor er zu sprechen beginnt, einen Schluck, einen weiteren, nachdem er geschlossen hat. Wer spricht, steht auf. Wer sich aus dem Raum entfernen will, muss sich abmelden. Entweder mit «tempus navigandi», um auf die Toilette zu dürfen, oder mit «tempus utile», um beispielsweise ein Telefonat zu führen. Beide «tempora» sind klar geregelt: Man hat 3 Minuten Zeit, um auf die Toilette zu gehen, 15 Minuten für ein Telefonat.
Ausserdem dürfen die Mitglieder nie alleine trinken und müssen immer jemandem zuprosten. Neben Bier trinken die Anwesenden auch Wein und alkoholfreies Bier. Man müsse nicht Alkohol trinken, sagt Präsident Fehr. Das sei der Verbindung wichtig.
Diese und weitere Regeln stehen im «Comment», einem Verhaltenskodex über den Betrieb am Stamm. Ein Regelwerk, das es seit 1932 gibt. Ihn ergänzt ein «Usus», den die Verbindungsmitglieder laufend anpassen.
Historisches Erbe
Die Geschichte der Zofingia reicht lange zurück. Gegründet wurde der Schweizerische Zofingerverein 1819 von Berner und Zürcher Studenten. Und zwar in Zofingen, das sich etwa in der Mitte befindet. Die Schweizer Studenten waren inspiriert von den deutschen Burschenschaften, ein Bezug, der heute nicht mehr gerne gemacht wird: «Wir wollen uns grundsätzlich vom Image einiger deutschen Burschenschaften abgrenzen, da ist zum Teil ein braunes Gedankengut vorhanden, das wir nicht unterstützen», meint Markus Ehinger, ein nicht mehr aktives Mitglied der Verbindung, Altzofinger genannt, im Gespräch mit der «Hauptstadt». Sein Verbindungsname ist «S-Kater».
Infolge der Gründung entstanden schnell weitere Sektionen in anderen Städten. Allen voran: Bern und Zürich. Die Zofinger waren am Aufbau des Schweizer Bundesstaates beteiligt und in der ersten Bundesversammlung 1848 zahlreich vertreten. Im ersten Bundesrat sassen die beiden Zofinger Jonas Furrer und Ulrich Ochsenbein.
Ein Erbe, auf das die Zofinger heute noch stolz sind und von dem auch das eigene Selbstverständnis als besonders liberal herrührt. Die Nähe zur FDP ‒ eine der treibenden Kräfte für die Gründung des Bundesstaates ‒ ist bei der Zofingia, insbesondere in ihrer Gründungszeit, klar erkennbar.
Auch Altzofinger Ehinger betont die Werte der Zofingia: Obwohl die Zofingia politisch wie konfessionell neutral sei, seien sie grundsätzlich sehr liberal. Die liberale Gesinnung stösst bei der Zofingia aber auch an ihre Grenzen. Etwa wenn es um die Frage geht, wer bei der Zofingia zugelassen wird und wer nicht. «Wir haben die Aufnahmekriterien ausgeweitet, auch Studierende der PH oder der Fachhochschulen können heute in der Zofingia sein», sagt Ehinger. Dennoch gebe es eine Grenze: Frauen sind bis heute nicht zugelassen.
Kein Eintritt für Frauen
Schon mehrmals sei die Frage, ob die Zofingia auch Frauen aufnehmen solle, besprochen worden, erklärt Léon Beer, Verbindungsname Odyssails und ehemaliger Präsident der Zofingia Bern. «Aber bisher hat man sich immer dagegen entschieden, es ist einfach auch schön, unter sich zu sein.» Er fürchtet, dass die Stimmung weniger locker wäre, wenn Frauen dabei sein könnten. «Schliesslich würde man den anwesenden Frauen nur imponieren wollen.»
Für die EPFL Lausanne führte die Haltung der Zofingia im letzten Jahr zum Ausschluss der Verbindung von den Räumen der Universität. Die EPFL wollte die Zofingia nicht mehr als universitäre Verbindung anerkennen. Das Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen hat der EPFL schliesslich nicht Recht gegeben. Dennoch wirft die Haltung der EPFL die Frage auf, wie Universitäten sich gegenüber Verbindungen positionieren, die Männern vorbehalten sind.
Schliesslich ist eine Studentenverbindung wie die Zofingia auch über das Studium hinaus von Vorteil. Dank dem Vitamin B der Verbindung kann einem die Jobsuche leichter fallen. Heute sei das aber weniger ausgeprägt, meint Markus Ehinger.
Für die Uni Bern scheint die Legitimität der Studentenverbindungen keine Frage zu sein: Bisher sei es deswegen nicht zu Diskussionen gekommen, erklärt sie auf Anfrage der «Hauptstadt».
«Männerverbindungen haben auch eine Berechtigung»
Mittlerweile gibt es auch gemischtgeschlechtliche Verbindungen und solche, die Frauen vorbehalten sind. Die Auroria Bernensis etwa besteht seit 2005. Die Gründerinnen wollten «ein Netzwerk von und für Frauen gründen und sich für die Chancengleichheit für alle Personen im Berufsleben einsetzen», sagt Verbindungspräsidentin Kerstin Kraus-Ruppert. Ihnen sei wichtig, dass der Verbindung Menschen beitreten können, die sich als Frauen identifizieren oder sich keinem Geschlecht zuordnen. Sie seien beim Aufbau ihrer Verbindung von Altherren anderer Verbindungen, also nicht mehr aktiven Verbindungsmitgliedern, unterstützt worden.
Dass es davor noch keine Studentinnenverbindung in Bern gab, sei historisch begründet, so Kraus-Ruppert. «Die meisten Verbindungen wurden Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet. Die erste Studentin an der Universität Bern wurde aber erst 1872 immatrikuliert und blieb lange eine Vorreiterin.»
Von einem Netzwerk, wie die Zofingia eines hat, könne die Auroria Bernensis aber noch nicht profitieren, betont Kraus-Ruppert, «Dazu fehlen einfach die älteren Mitglieder und die finanziellen Mittel.» Dass es nach wie vor Verbindungen gibt, in denen nur Männer zugelassen sind, sieht sie dennoch entspannt: So wie die Volleyball-Liga für Frauen oder der Männerchor ihre Berechtigung und Mitgliederbeschränkungen hätten, hätten auch Männerverbindungen das Recht, nur Männer aufzunehmen.
Lebensverbindung
Zurück im Verbindungshaus. Raphael Fehr eröffnet die Diskussion über die AHV-Initiative. Meinungen für und gegen die Vorlage werden geäussert. Beides hat an diesem Abend Platz. Wer mit einer Aussage einverstanden ist, klopft auf den Tisch – wie an der Uni nach einer Vorlesung.
Nach etwa einer Stunde lädt Fehr zu individuellen Gesprächen ein. Die Stimmung wird ausgelassener. Es tauchen plötzlich mehr Männer auf. Sie tragen auch ein Band über den Schultern, aber in anderen Farben. Sie seien von der Akademischen Komment-Verbindung Burgundia und hätten gesehen, dass hier noch Licht brennt.
Das passiere oft, erzählt Präsident Raphael Fehr. Zofingia sei mit anderen Verbindungen auf Platz Bern befreundet. Man lade einander ein und verbringe gemeinsame Abende zusammen. Kerstin Kraus-Ruppert von der Studentinnenverbindung Auroria Bernensis ergänzt: «Es ist wie eine Familie.»
Die Mitglieder kommen aus dem Schwärmen nicht mehr raus, wenn man sie fragt, warum sie dabei sind. Man könne Erfahrungen sammeln im Führen eines Vereins. «Diese Möglichkeit haben nicht viele in diesem Alter», sagt Altzofinger Markus Ehinger. Das Verbindungshaus sei sein Rückzugsort gewesen, wo er die Masterarbeit geschrieben habe. Gleichzeitig sei der Ort ein wichtiger Treffpunkt. Und: «Es findet ein fakultätsübergreifender Austausch statt, man bleibt nicht einfach in seiner Bubble.»
In der Zofingia sind Studierende verschiedenster Fakultäten dabei: Humanwissenschaften, Sozialwissenschaften, PH, Exakte Wissenschaften. Das ändere sich immer wieder. «Freunde nehmen Freunde mit», sagt Léon Beer. Er selbst hat einige Mitstudenten in die Verbindung gebracht und wohnt mit dem aktuellen Verbindungspräsidenten Raphael Fehr zusammen.
Übers Studium hinaus entstünden Freundschaften. Manche sind sogar Götti eines Kindes eines anderes Verbindungsmitglieds. «Es ist eine Lebensverbindung», findet Ehinger.
Ein letztes Mal singen die Männer ein Lied, das sie zum Anlass des Besuches der «Hauptstadt» auswählen – «Die Gedanken sind frei» aus dem Jahr 1815.