Bern sucht den Superblock
Wie könnte die Berner Variante eines verkehrsberuhigten «Superblocks» aussehen? In der angelaufenen Mitbestimmungsphase zeigt sich: Sicher nicht so konsequent wie in Barcelona.
Ein grosses Vorbild in Barcelona und ein Kredit von rund 300‘000 Franken – das sind die Zutaten für das Superblock-Projekt im Berner Murifeld. Im vergangenen Juni hat der Gemeinderat den Testlauf für einen neuen Ansatz zur Verkehrsberuhigung angekündigt. Im Ostberner Quartier, das zwischen Autobahn, Muristrasse und Ostring eingebettet liegt, sollen in einem partizipativen Modell die Anwohnenden darüber entscheiden, wie der erste Berner Superblock dereinst aussehen wird.
Ob er dann mit dem Namensvetter in Barcelona noch viel gemeinsam hat, ist offen. In Barcelona werden in einem Superblock bis zu neun der quadratisch angelegten Häuserblocks zusammengefasst und die Strassen innerhalb dieser verkehrsberuhigt. Ziel dabei ist, den Durchgangsverkehr zu reduzieren und fussgänger*innenfreundliche, identitätsstiftende Quartiere zu schaffen.
Grundlage für die Berner Superblock-Variante ist eine vom Stadtrat überwiesene Motion aus dem Jahr 2023. Der Gemeinderat entschied im vergangenen Jahr, das «ergebnisoffene Pilotprojekt» im Murifeld durchzuführen. «Im Quartier leben viele Kinder, die Bevölkerung ist aktiv, es sind Flächen vorhanden, die bespielt werden können und gleichzeitig besteht ein hohes Potential, den Durchgangsverkehr zu reduzieren», hiess es damals in der Begründung der Stadt. Und: Es soll um mehr als nur die Reduktion des Verkehrs gehen. Auch soziale und klimatische Aspekte sollen berücksichtigt werden. Idealerweise lassen sich die Erkenntnisse und die partizipative Herangehensweise auf andere Stadtquartiere übertragen, so der Wunsch der Stadt. Der Anforderungskatalog ist also üppig.
Behutsame Veränderungen
Ende November 2024 haben sich Bewohner*innen erstmals zu Quartierrundgängen getroffen und an einem sogenannten Begegnungskiosk, der an einen Verkaufsstand eines Weihnachtsmarkts erinnerte, Halt gemacht.
«Rund 200 Menschen haben daran teilgenommen», sagt Sebastian Clausen von der städtischen Verkehrsplanung. Rund 2500 Menschen sind in dem Quartier daheim. Clausen ist zusammen mit Petra Stocker einer der beiden Co-Leiter*innen und somit federführend beim Pilotprojekt Berner Superblock.
Aktuell befinde man sich in einer Phase, die «ko-kreativ» genannt wird. Es ist die Phase des «Gestaltens und Belebens», wobei sowohl Clausen als auch Stocker betonen: Im Pilotprojekt gehe es darum, mit den Bewohner*innen zeitlich befristete Massnahmen auszutesten. Konkret können das zum Beispiel ein Mittagstisch auf der Strasse, neue Aufenthaltsorte oder neue Formen der Bepflanzung sein. «Wir können keine Strasse aufreissen und grossflächig umbauen», so Clausen.
Wer will was?
Ob und in welcher Form sie Parkplätze temporär aufheben und Strassenabschnitte absperren, steht laut den Projektleiter*innen in den Sternen. Auch dies hänge von den Anwohner*innen ab. Und ihre Anliegen sind sehr divers, so viel hat der erste Austausch gezeigt: «Wir haben eine riesige Spannweite: Von ‚Alle Parkplätze aufheben‘ bis ‚Alles bleibt beim Alten‘», sagt Clausen. Diese sich teilweise zuwiderlaufenden Bedürfnisse auszutarieren und in Projekten zu verfeinern, wird Aufgabe der nächsten Monate sein.
Das Projekt ist mit der Ambition gestartet, möglichst viele Interessen aus der Bevölkerung einzubeziehen und gleich noch Planungsprozesse in der Stadtverwaltung neu zu denken. Stichworte: Interdisziplinär und direktionsübergreifend. Petra Stocker zählt die Schnittstellen auf, mit denen sie in den vergangenen Wochen für den Superblock in Kontakt war: Tiefbauamt, Verkehrsmanagement, Stadtplanungsamt, Entsorgung, Stadtgrün sowie Familien und Quartier Stadt Bern sollen ihre Perspektiven einbringen. Ausserdem werden Jugend- und Sozialarbeiter*innen angehört.
Unterstützung im «iterativen Prozess» (Verwaltungsdeutsch für: schrittweise) bekommt das Team vom externen Dienstleister Denkstatt aus Basel. Dieser trat in Bern bereits in Erscheinung, indem er «Dialogprozesse und Beteiligungsformate» für den Waisenhausplatz und das Quartier Ausserholligen entwarf. Für das Superblock-Projekt baut Denkstatt unter anderem die erwähnten Begegnungskioske.
Mit an Bord sind auch die Raum- und Mobilitätsplaner*innen von Urbanista.ch, die das Mobilitätskonzept und die Evaluation des Superblocks erarbeiten. Für Planung und Umsetzung der temporären Testmassnahmen sind gemäss der Stadt 95‘000 Franken vorgesehen, wobei darin auch die Honorare der beiden Beratungsfirmen enthalten sind. Ein weiterer Teil des gesprochenen Projektkredits von 295‘000 Franken soll in ein «partizipatives Budget» fliessen, mit dem Menschen aus dem Quartier Ideen umsetzen können.
«Iterativ», «interdisziplinär», «ko-kreativ» – wer den Projektleiter*innen zuhört, gewinnt schnell den Eindruck, im Murifeld werde lehrbuchmässig eine moderne Projektplanung durchexerziert – samt aller wolkigen Begriffe. Was dann im Rahmen des Pilotprojekts umgesetzt wird, bleibt abzuwarten.
Kommen Einsprachen?
Wer schon einmal einen Superblock in Barcelona in erkundet hat und nun einen Klon desselben im Berner Murifeld erwartet, dürfte enttäuscht werden. «Es wird sicher etwas anders als in Barcelona», sagt Co-Projektleiter Clausen. Allein schon wegen der Voraussetzungen: Die spanische Grossstadt ist vorwiegend rasterförmig aufgebaut, und Superblöcke enstanden über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Im Berner Murifeld geht es hingegen um ein Areal, das grob gesagt fünf parallel verlaufende Strassenzüge umfasst, wovon nur drei wie ein Block im eigentlichen Sinne funktionieren.
Barcelona hat die ersten Superblock-Versuche bereits Ende der 1990er Jahre gestartet – inzwischen sind viele umgesetzt, gerieten zuletzt aber politisch unter Druck. Auch in Basel und Zürich sind entsprechende Projekte in Planung beziehungsweise Ausführung, allerdings haben sie mit Gegenwind zu kämpfen, wie ein Beitrag von Radio SRF zeigt. Anwohner*innen wehren sich zum Beispiel mit Rekursen gegen Parkplatzaufhebungen.
Die Berner Superblock-Verantwortlichen haben ein solches Szenario zumindest durchgespielt. Sie versuchen von den Erfahrungen der anderen Städte zu lernen und das Projekt von Anfang an so breit abzustützen, dass keine Einsprachen drohen. Was dabei helfen könnte: Wenn überhaupt, werden Parkplätze zunächst temporär aufgehoben. Erst in einem zweiten Schritt wird über eine dauerhafte Veränderung entschieden. «Das macht es erfahrungsgemäss ein wenig einfacher in der Vermittlung», so Clausen.
Die Projektleitung hat bis Ende 2026 Zeit, die Interessen aller Parteien aufzunehmen und umzusetzen. Dann muss die Projektleitung dem Gemeinderat zum Stand der Umsetzung Bericht erstatten. Bereits in diesem Frühjahr soll es weitere «partizipative Aktionen» geben, bei denen Bern den Superblock sucht.