Unbewohnte Container im Viererfeld
Gut drei Monate nach der Eröffnung leben zurzeit nur 63 Personen im für 1’000 Menschen gebauten Containerdorf auf dem Viererfeld. Warum?
Spaziert man in diesen Tagen auf dem Gehweg entlang des Berner Viererfeldes, fällt vor allem eines auf: Das Containerdorf, das im Frühsommer für die aus der Ukraine geflüchteten Menschen aus dem Boden gestampft wurde, wirkt menschenleer.
Auf dem Parkplatz stehen ein paar Autos, zwischen den Wohnreihen wartet ein Dumper auf seinen Einsatz und im hinteren Bereich des Geländes stehen ein Betonmischer und ein Bagger. Durch den teilweise mit einem Netz bespannten Zaun sind die Silhouetten von Bauarbeitern in orangen Hosen erkennbar. Aber wo sind die Bewohner*innen?
Ein Besuch der Temporären Unterkunft Viererfeld, kurz TUV, wie das Containerdorf vom Kanton getauft wurde, ist zurzeit nicht möglich. Die geflüchteten Ukrainer*innen sollen in Ruhe in ihrem vorübergehenden Zuhause ankommen können. So begründet Gundekar Giebel, Mediensprecher der Berner Gesundheits, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI), den abschlägigen Bescheid auf eine Besuchsanfrage der «Hauptstadt».
«Hund» und «Taube» werden gebraucht
Wie das Leben in der grössten oberirdischen Kollektivunterkunft der Schweiz gut drei Monate nach deren Eröffnung abläuft, ist deshalb nur den Antworten der Behörden zu entnehmen. Die Stadt teilt mit, dass Mitte Oktober 63 Personen in Containerreihe 1 wohnen. «Hund» heisst sie und beherbergt 19 Männer, 28 Frauen und 16 Kinder und Jugendliche. Die meisten sind ukrainische Staatsbürger*innen, einzelne kommen aus Drittstaaten, sind aber ebenfalls aus der Ukraine geflüchtet und haben Schutzstatus S erhalten (siehe Box).
Eine zweite und dritte Wohnreihe stehen bezugsbereit leer, Nummer vier und fünf werden zurzeit ausgebaut und sollen ab Ende Oktober bewohnbar sein. Die interne Schule habe den Unterricht aufgenommen. Im Moment werden im Administrationsgebäude mit dem Namen «Taube» neun Kinder unterrichtet, sagt Michael Sahli, Leiter des städtischen Informationsdienstes.
Aktuell ermögliche es die Belegung, dass Familien mit Kindern mehr Platz zugewiesen bekommen, so dass die Kinder, wenn es kälter wird, auch drinnen spielen könnten. Zusätzliche Strukturen für geschützte Freizeitaktivitäten oder Aufenthalte im Warmen seien derzeit in Abklärung und Planung.
Der Aussenbereich der Anlage ist, wie von aussen unschwer zu erkennen, noch nicht fertig, allerdings gibt es Sitzgelegenheiten, und die Spielwiese ist begrünt worden. Bei Regen biete, gemäss Auskunft der Stadt, ein Zelt Platz für Aktivitäten.
Vorerst genügend Platz
Vor der Eröffnung im Juli wurde das Containerdorf für Geflüchtete aus der Ukraine auf dem Berner Viererfeld harsch kritisiert. Die Bauweise, die an eine Haftanstalt oder eine Militärbaracke erinnere, entspreche nicht dem humanitären Mindeststandard, sagte ein Experte für Notunterkünfte. Zudem waren bereits während des Baus im Mai Einsprachen gegen das Projekt eingegangen. Doch diesen entzog Statthalterin Ladina Kirchen im Juli die aufschiebende Wirkung.
Auf die Kritik reagierte der Kanton mit dem Versprechen, die Kapazität der TUV nicht voll auszuschöpfen. Vorerst sollten 100 Menschen in die für 200 Personen konzipierte erste Wohnreihe einziehen. Geplant worden waren die fünf Wohnreihen als Unterkunft für 1’000 Personen, 200 pro Einheit.
«Das Ziel ist, dass die geflüchteten Ukrainer*innen schnellstmöglich eine eigene Wohnung finden.»
Gundekar Giebel, Mediensprecher der Berner Gesundheits, Sozial- und Integrationsdirektion
Drei Monate, nachdem die ersten Personen eingezogen sind, leben im Containerdorf aber immer noch nur gut 60 Bewohner*innen. Nach dem Grund für die niedrige Belegung gefragt, sagt Gundekar Giebel von der GSI, die TUV werde als temporäre Kollektivunterkunft gebraucht. «Das Ziel ist, dass die geflüchteten Ukrainer*innen schnellstmöglich eine eigene Wohnung finden.»
Vielen ist das offenbar gelungen. Mitte Oktober befinden sich im Kanton Bern gemäss Angaben der Behörden 6’992 geflüchtete Ukrainer*innen. 3’412 Personen, also knapp die Hälfte, haben eigene Wohnungen gefunden, 2’638 Personen wohnen bei Gastfamilien und 942 in einer Kollektivunterkunft.
Asylsuchende aus anderen Ländern erwartet
Nach Einschätzung des Kantons könnten die leerstehenden Wohnreihen im Viererfeld jedoch schon bald gebraucht werden. «Wir erwarten auf die kalte Jahreszeit hin mehr Geflüchtete», sagt Gundekar Giebel. Deshalb auch der Ausbau der vierten und fünften Wohnreihe. Einschliesslich der TUV, in der bei Vollbelegung 650 statt wie ursprünglich geplant 1’000 Menschen leben sollen, stehen im Kanton Bern rund 4'000 Plätze in Kollektivunterkünften zur Verfügung. Zusätzlich seien 4’000 Notbetten bereit, sagt Giebel.
«Der Kanton bereitet sich auf die Szenarien vor, die der Bund entwickelt hat.» Man gehe davon aus, dass im Winter rund 10’000 Geflüchtete aus der Ukraine im Kanton Bern leben werden. Das wären rund 3’000 Menschen mehr als jetzt. Laut anderen Szenarien könnten es noch mehr sein, daher gelte es, vorbereitet zu sein. Zusätzlich steige die Zahl Asylsuchender aus anderen Ländern zurzeit stark an, ergänzt Giebel.
«Nachholeffekt der Pandemie»
Besonders viele Asylgesuche kommen von Personen aus Afghanistan und der Türkei, gefolgt von Eritrea, Algerien und Syrien. Der Bund rechnet für die Monate Oktober und November mit 2500 bis 3000 Asylgesuchen von Geflüchteten, die nicht aus der Ukraine stammen. Das ist im Vergleich zur entsprechenden Periode im Jahr 2021 fast eine Verdoppelung. Für den Kanton Bern bedeutet das, dass pro Monat zusätzlich zu den Ukrainer*innen 200 Personen einen Platz in einer Unterkunft benötigen.
Als Grund für die Zunahme der Asylgesuche sieht Gundekar Giebel die unsichere Lage in Staaten wie Afghanistan. «Hinzu kommt ein Nachholeffekt, weil nach dem Abklingen der Corona-Pandemie das Reisen wieder besser möglich ist.» Ausserdem erlaubt Serbien, das mit seiner Lage auf dem Balkan ein wichtiges Transitland ist, bestimmten Staatsangehörigen die Einreise ohne Visum. Das hat zur Folge, dass zurzeit eine grosse Zahl von Menschen versucht, über die sogenannte Westbalkanroute nach Europa und auch in die Schweiz zu gelangen, wie das Schweizer Fernsehen kürzlich berichtete.
Statusunterschied bleibt bestehen
Auch weiterhin sollen aus der Ukraine Geflüchtete den Schutzstatus S erhalten, während Geflüchtete aus anderen Ländern ein reguläres Asylgesuch stellen müssen. Lukas Rieder, Mediensprecher des Staatssekretariats für Migration (SEM), begründet dies mit der Anzahl der gestellten Gesuche. Der Schutzstatus S sei als Folge des Krieges in Ex-Jugoslawien geschaffen worden, damit die Behörden einer ausserordentlich grossen Anzahl von Asylsuchenden innert kurzer Zeit vorübergehenden Schutz gewähren können. «Eine solche Situation ist mit dem Krieg in der Ukraine eingetreten», sagt Rieder.
Menschen, die in anderen Ländern verfolgt sind, hätten das Recht auf ein Asylverfahren in der Schweiz. «Sie erhalten unseren Schutz, falls sie diesen nötig haben», sagt Rieder. Das gelte auch für die zwei Krisenherde der jüngeren Vergangenheit, Syrien und Afghanistan. In beiden Fällen seien die Asylgesuche in der Schweiz in einem Ausmass geblieben, welches das SEM gut mit den regulären Mitteln und Strukturen bewältigen könne.
Ende April berichtete die «Haupstadt» über «Society Moko». Die Bernerin Nadra Mao hatte die schweizweite Freiwilligenorganisation mitgegründet, weil Geflüchtete aus der Ukraine ohne ukrainischen Pass nicht gleich behandelt wurden wie Ukrainer*innen: Ukraine-Flüchtlinge aus Drittstaaten, die legal in der Ukraine gelebt hatten, aber vom Staatssekretariat für Migration (SEM) als in ihrem Herkunftsland nicht gefährdet eingestuft werden, erhielten in der Schweiz den Schutzstatus S nicht. «Society Moko» hatte es sich zum Ziel gemacht, diese Menschen nach ihrer Ankunft in der Schweiz zu unterstützen und sich politisch für sie einzusetzen.
Nun hat sich die Organisation aufgelöst. «In den letzten drei Monaten hatten wir nur noch zwei Anfragen von Geflüchteten aus Drittstaaten», sagt Nadra Mao auf Anfrage der «Hauptstadt». Eine davon am 10. Oktober von einem nigerianischen Staatsbürger, der laut eigenen Angaben in der Ukraine in die Schule ging und gelebt hat. Er schreibt, er habe im April einen Asylantrag gestellt, der im Oktober abgelehnt worden sei. «Society Moko» leite solche Anfragen nun weiter, beispielsweise an die «Noir Society» in München, die sich ebenfalls gegen Diskrimierung von People of Color einsetzt.
Die Asylpraxis an sich wurde nicht geändert. Aus der Ukraine geflüchtete Schutzsuchende aus Drittstaaten müssen in der Schweiz nach wie vor beweisen, dass sie nicht in Sicherheit dauerhaft in ihre Heimatländer zurückkehren können, wenn sie den Schutzstatus S beantragen. «Das ist kompliziert, weil viele gar nicht an solche Beweise herankommen, auch wenn sie an Leib und Leben bedroht sind in der Heimat», sagt Nadra Mao. Sie wisse von 43 abgelehnten Gesuchen. Allerdings habe es auch erfolgreiche Rekurse gegeben. Einige der Abgewiesenen seien untergetaucht und lebten unter prekären Bedingungen. «Die Vorstellung, zurück in das Ursprungsland zu gehen, ist schlimmer, als in einem Keller zu leben.» (kra)