Mediziner*innen sezieren digitale Leichen
Die Direktorin der Universitätsbibliothek Bern erklärt bei einem Rundgang, was die Bibliothek als analoger Ort im digitalen Zeitalter zu bieten hat.
Sonia Abun-Nasr schlägt die Bibliothek Medizin als Treffpunkt für das Gespräch mit der «Hauptstadt» vor. Hier könne sie besonders gut zeigen, wie die analoge und die digitale Welt einander ergänzen, erklärt die Direktorin der Universitätsbibliothek Bern.
Sie führt zu langen Regalen, in denen zahlreiche Ausgaben der gleichen Bücher Rücken an Rücken stehen. Es sind Anatomieatlanten mit Abbildungen des menschlichen Körpers. Die seien sehr beliebt bei den Studierenden, als Ergänzung zu den digitalen Lernmaterialien. Tatsächlich: An den Lernplätzen zwischen den Regalreihen lassen sich viele aufgeschlagene Bücher erspähen.
Gleichzeitig sei die Medizin jenes Fach, in dem die Digitalisierung der Unibibliothek am weitesten fortgeschritten sei, so Abun-Nasr. «Das hat mit ihrer Forschungs- und Wissenschaftskultur zu tun.» Aufsätze in Zeitschriften seien zentral, viel mehr als in manchen anderen Disziplinen. «Und Zeitschriften sind das Medium, das sich am schnellsten digital transformiert hat.»
So überrascht es nicht, dass ein grosser Teil des ehemaligen Zeitschriftenregals leer steht. Einzig auf einigen Brettern haben Studierende eine Büchertauschbörse eingerichtet. Dafür steht nebenan ein personengrosses, ovales Gerät mit Bildschirm: der digitale Seziertisch.
Stefan Grosjean gesellt sich hinzu, er ist Standortleiter der Bibliothek Medizin. Er berührt den Bildschirm, und das Bild einer nackten Frau erscheint. Mit jedem Klick verschwindet eine Ebene ihrer Körperstruktur, bis nur noch das Skelett und die Nervenbahnen sichtbar sind. «Für diese Darstellung wurden tote Menschen eingefroren und eingescannt», erklärt Grosjean. Das habe den Vorteil, dass die Studierenden am digitalen Seziertisch mit realen Körperdarstellungen lernen können. Wo die Muskeln und Sehnen oft nicht so wohlgeordnet liegen, wie auf den idealisierten Zeichnungen in den Anatomiebüchern.
Auf dem Bildschirm in seinem Büro führt Grosjean die Applikation «Complete Anatomy» vor, eine weitere Ergänzung zu den Anatomiebüchern. Mit ihr können die Studierenden auf dem Smartphone oder dem Computer die Strukturen des menschlichen Körpers lernen. Seit 2017 lizenziert die Bibliothek diese Applikation. Letztendlich, so höre er von zahlreichen Studierenden, könne aber keine digitale Simulation die Arbeit an echten Körperpräparaten ersetzen.
Weniger analoge Bücher, mehr Lizenzen
Die Aufgaben der Universitätsbibliothek im 2024 seien, allgemein gesprochen, die gleichen wie zu jener Zeit, als sie selbst studiert habe, erklärt die 1965 geborene Sonia Abun-Nasr: «Wir versorgen Uniangehörige mit den Angeboten, die sie benötigen. Früher waren dies Bücher und Zeitschriften, Lesesäle und Beratungen. Heute hat sich das Format der Medien verändert, zu den Beratungen sind anspruchsvolle wissenschaftliche Dienstleistungen hinzugekommen.»
Zum Beispiel kaufe die Unibibliothek immer weniger analoge Bücher, dafür mehr digitale Bücher und sie lizenziere digitale Zeitschriften in grossem Ausmass. Und unterstütze Forschende beim Umgang mit grossen Datenmengen.
Während ihres Geschichtsstudiums hätten Lernorte aus Tisch, Stuhl und Lampe bestanden, erinnert sich Abun-Nasr. Heute reiche das nicht mehr. Steckdosen und Wlan seien nötig und es werde darauf geachtet, dass viel Tageslicht und ein hübscher Fensterausblick, gerne ins Grüne, vorhanden sind. Wichtig seien zudem Räume für Gruppenarbeiten und Nischen, wo man sich zurückziehen könne. Seit 2019 gibt es in der Bibliothek Medizin auch einen abgedunkelten Ruheraum mit Kissen, Yogamatten und Pflanzen.
Sonia Abun-Nasr und ihre Mitarbeiter*innen stellen fest, dass die Nutzer*innenzahlen der Lernorte zunehmen. Obwohl es das zunehmende Angebot digitaler Medien ermöglicht, von fast überall auf die Bestände zuzugreifen. «Die Bedeutung der Bibliothek als sozialer Ort, also wo man andere Studierende trifft, nimmt zu. Das zeigen auch Studien aus anderen Ländern», so Abun-Nasr. Während den Peaks in den Lernphasen würden die Räume jeweils an die Grenzen stossen. «Ob die aktuellen Kapazitäten langfristig ausreichen, ist eine Frage, die mich in den nächsten Jahren stark beschäftigen wird.»
Eine Bibliothek für alle
Speziell an der Universitätsbibliothek Bern ist, dass sie keinen Hauptstandort hat, sondern über viele verschiedene Gebäude verstreut ist. Darum lasse sie sich schlecht mit anderen Bibliotheken vergleichen und es sei kaum möglich, sich ein Vorbild an ihnen zu nehmen. Wichtig ist auch, dass die Universitätsbibliothek Bern zugleich Kantonsbibliothek ist. Das heisst, dass sie allen Menschen offensteht, nicht nur Angehörigen der Universität. Gerade der Standort an der Münstergasse werde rege von einem breiten Publikum genutzt, weil dort auch regelmässig öffentliche Veranstaltungen und Ausstellungen stattfinden.
Mit der Öffentlichkeit hat auch ein Bereich zu tun, der erst durch die Digitalisierung geboren worden ist: Open Access. «Damit sollen die Forschungsresultate für die Wissenschaft, aber auch für die Öffentlichkeit, kostenlos zugänglich sein», erklärt Sonia Abnun-Nasr. Während Verlage früher hohe Preise für gedruckte Bücher mit den Produktionskosten rechtfertigen konnten, sei das nicht mehr möglich, wenn die Publikationen digital erscheinen. «Und wenn die öffentliche Hand bereits die Forschung finanziert, warum soll sie dann nochmals bezahlen, um die Ergebnisse zu erhalten?», fragt Abun-Nasr rhetorisch.
Doch die Entwicklung hin zu Open Access liegt nicht allein in den Händen der Unibibliothek. Ihr gegenüber steht ein etabliertes System von renommierten – und sehr teuren – Zeitschriften, in denen Wissenschaftler*innen publizieren müssten, um in ihrer Disziplin erfolgreich zu sein. «Dieses Modell lässt sich nicht von heute auf morgen verändern.» Die Unibibliothek Bern setzte sich aber gemeinsam mit anderen Bibliotheken für andere Publikationsmöglichkeiten ein. So bieten Universitätsbibliotheken etwa Infrastrukturen an, um Forschungsergebnisse direkt zu veröffentlichen. «Ein Weg ist auch, dass nur fürs Publizieren bezahlt wird, statt fürs Lesen.»
Wie das Angebot der Universitätsbibliothek in fünf oder zehn Jahren aussehen könnte, darüber will Sonia Abun-Nasr keine Prognose abgeben. Dass die analogen Bücher in dieser Zeit völlig aus den Regalen verschwinden werden, glaubt sie aber nicht. «Ich erinnere mich an eine Zeit vor etwa 20 Jahren, als man sich in Bibliothekskreisen vorstellte, dass das Digitale das Analoge sehr bald vollständig ablösen werde. Heute sehen wir, dass das nicht der Fall ist.»
Vielmehr geht Sonia Abun-Nasr davon aus, dass sich andere Fachbereiche in die Richtung entwickeln würden, wo sich die Medizin heute befindet: Ein Ort, wo das Analoge und das Digitale parallel bestehen. Wo der physische Anatomieatlas und der digitale Seziertisch sich ergänzen.