Das neue Gesicht der Untermatt
Weil beim Weyerli gegen 1000 Wohnungen entstehen, droht Bethlehem ein Verteuerungs- und Verdrängungsschub. Doch für das Untermatt-Quartier könnte es auch eine Chance sein. Ein Rundgang mit Quartierarbeiterin Stephanie Schär.
«Das ist jetzt die Looslistrasse», sagt Stephanie Schär und lacht auf dem Trottoir in die Frühlingssonne. Ein paar Schritte nur sind es von hier bis zum Quartiertreff Untermatt, den die Sozialarbeiterin leitet. Die Looslistrasse gilt als Inbegriff für das, was man sich von aussen unter der Untermatt vorstellt: Ein Quartier mit Problemen.
Wir befinden uns im Übergangsgebiet zwischen der Sportanlage Weyerli und Bern West, seitlich begrenzt durch die Bahnlinie Bern-Neuenburg und die Bümplizstrasse, weiter hinten steigen die Hochhäuser des Schwabguts und des Tscharnerguts in die Höhe: Das ist das Untermatt-Quartier. Die zentrale Looslistrasse säumen drei- bis viergeschossige Blöcke aus den fünfziger Jahren, dazwischen schmucklose Rasenflächen und zwei schwer in die Jahre gekommene Spielplätze.
Die Untermatt war einst von Schweizer Arbeiter*innen und später von italienischen und spanischen Zugewanderten bewohnt. Heute ist sie ein sogenanntes Transitquartier, in dem ausländische Familien oft ihre erste Unterkunft finden, wenn sie in Bern ankommen oder nach Abschluss des Asylverfahrens in eine eigene Wohnung ziehen.
Problemzone? Oder nicht?
Alle fünf Jahre frischt die Stadt Bern ihr sozialräumliches Monitoring auf, und in der jüngsten Ausgabe von Ende 2021 bestätigen mehrere Indikatoren das Aussenbild der Untermatt: hohe Armutsgefährdung, tiefes Steueraufkommen, überdurchschnittliche Belegung eher kleiner Wohnungen. Der Anteil an Sozialhilfebezüger*innen liegt deutlich über dem städtischen Mittel.
«Interessant ist aber, dass die Menschen ihr Quartier nicht als Problemort wahrnehmen. Sie fühlen sich wohl und sind manchmal sogar ein bisschen stolz, hier zu leben», sagt Stephanie Schär. Natürlich sei Konfliktpotenzial da – etwa dadurch, dass viele kinderreiche Familien in der Untermatt leben, aber auch überdurchschnittlich häufig ältere Menschen, die viel Zeit zuhause verbringen und ein Bedürfnis nach Ruhe haben.
Umso wichtiger, sagt die Quartierarbeiterin, seien Begegnungsmöglichkeiten für alle. In hipperen Quartieren wie dem Breitenrain oder der Länggasse ist es seit ein paar Jahren normal, dass der öffentliche Aussenraum möbliert und aufgewertet ist. Verkehrsberuhigte Strassen sind zu piazzamässigen Treffpunkten geworden.
In der weniger privilegierten Untermatt, wo rund 2000 Personen leben und das Bedürfnis besonders gross wäre, zeigt sich ein anderes Bild. Keine Gelateria-di-Berna-Filiale, kein lauschiges Cafe weit und breit. Es gibt vor einzelnen Blöcken zwar Spielplätze, laut den Hausordnungen sind diese aber meist nur den Kindern vorbehalten, die genau dort wohnen. «Oft», sagt Stephanie Schär, «übernehmen Kinder diese Regeln unwillkürlich, bauen sie zu einer Art Revierverhalten aus und grenzen andere Kinder aus.»
Rustikale Gewerbezone
Stephanie Schär geht nun auf der Looslistrasse voran Richtung Weyerli, und was hier Alltag ist, sieht man in den aufgehübschten Quartieren der Stadt kaum mehr: Ins Wohngebiet gewobene produzierende Gewerbebetriebe, und zwar auch solche der eher rustikalen Art, die man hört und riecht, Autogaragen oder Carosserien zum Beispiel. Die Reise- und Transportfirma Dysli wartet und wäscht hier ihre Busse. Gleich um die Ecke befindet sich das Abbruch- und Aushubunternehmen Vontobel mit einem imposanten Park an Baggern, Lastwagen und Rammgeräten.
Schwere Fahrzeuge wirbeln Staub auf, gegenüber stapelt sich Dämmmaterial vor einem abgewohnten Haus, das gerade saniert wird, und dazwischen befindet sich auf einem Rasenstück als Zwischennutzung ein Spielplatz: Niemand, der mit dem Fallschirm hier heranschweben würde, käme auf die Idee, dass er oder sie mitten in der Stadt Bern gelandet ist.
Und erst noch an einem Ort, dem gerade ein urbaner Entwicklungsschub bevorsteht.
Stephanie Schär ist am Untermattweg angekommen, der quer zur Looslistrasse verläuft und das Gewerbegebiet begrenzt, das in den nächsten Jahren sein Gesicht komplett verändern wird. Der Boden gehört der Post und der Burgergemeinde. Gemeinsam mit diesen Grundeigentümern will die Stadt hier ein neues Quartier bauen. Rund 1000 Wohnungen sollen entstehen, was die Einwohner*innenzahl der Untermatt mehr als verdoppeln wird. Voraussichtlich im Frühjahr 2024, hat der Gemeinderat angekündigt, möchte er die Planungsvorlage zur Volksabstimmung bringen.
Die künftige Verwandlung wühlt die Untermatt auf: Das produzierende Gewerbe, das als Anbieter von Lehrstellen auch eine soziale Funktion ausübt, wird wohl grösstenteils aus dem Quartier (und damit aus der Stadt) verdrängt. Zudem: Hausbesitzer*innen und Investor*innen können damit rechnen, dass Bethlehem für die urbane Mittelschicht als Wohngebiet interessanter wird.
Also lohnt es sich, Wohnungen zu sanieren und höhere Mietzinsen herauszuholen, was die heutigen Einwohner*innen aus der Untermatt verdrängen würde. Laut der Quartierarbeiterin hat der befürchtete Verdrängungsprozess bis jetzt nicht in spürbarem Mass eingesetzt. Dazu mag beitragen, dass die Stadt Bern 2019 an der Looslistrasse ein Mehrfamilienhaus gekauft hat, um günstigen Wohnraum zu sichern.
«Das wird Untermatt Ost»
Überhaupt will Stephanie Schär in der neuen Überbauung nicht nur die Probleme, sondern auch die Chancen sehen. Weyermannshaus West nennt sich die Arealentwicklung, «aber eigentlich sollte sie Untermatt Ost heissen», sagt sie. Damit drückt sie aus, worauf sie als Leiterin des Treffs gemeinsam mit dem Quartierverein Untermatt ihr Augenmerk legt: Dass die neue Überbauung nicht zum in sich gekehrten Planeten wird, sondern mit dem bestehenden Quartier zusammenwächst.
Stephanie Schär steht neben einer gefüllten Schuttmulde, in ihrem Rücken der grosse Parkplatz des Apothekenkonzerns Galenica, der sich an der Grenze zwischen der Untermatt und dem Neubaugebiet befindet. Der Parkplatz wühlt als angeblich «teuerster Spielplatz der Welt», wie ihn der Bümplizer SVP-Stadtrat Thomas Fuchs nennt, gerade die Politik auf.
Für 3,7 Millionen Franken will die Stadt diese Parzelle kaufen, um darauf eine Spiel- und Begegnungszone einzurichten. Weil gegen den Stadtratsentscheid das Referendum ergriffen worden ist, wird der geplante Kauf zur Volksabstimmung kommen.
Gespenst der Gentrifizierung
Es sei irreführende Polemik, vom «teuersten Spielplatz der Welt» zu reden und zu suggerieren, dass für ein paar Kinder Millionen in den Sand gesetzt würden, findet Stephanie Schär: «Wir reden darüber, hier einen zentralen Begegnungs- und Austauschort für das künftige Grossquartier zu schaffen. Für alle», sagt sie.
Mit Untermatt Ost komme eine neue Mittelstandsüberbauung, die auch gute Steuerzahler*innen anziehe, direkt neben einem multikulturellen Quartier zu liegen, in dem vor allem weniger privilegierte Menschen leben. Nur wenn es gelinge, nicht neue Grenzen, sondern Durchlässigkeit zu schaffen, wachse ein urbanes Lebensgefühl: «Gutes Zusammenleben im Quartier entsteht nicht, wenn wir nicht die Voraussetzungen schaffen dafür», sagt Stephanie Schär.
Man könnte auch sagen: Es ist der Versuch, einen guten Umgang zu finden mit dem Gespenst der Gentrifizierung.
Ein zentraler Platz für alle sei ein Baustein dafür. Ein anderer ist der Dialog. «Die Menschen, die hier leben, müssen erst in die Lage versetzt werden, als Bewohner*innen des Quartiers gemeinsame Vorstellungen zu formulieren, wie das künftige Zusammenleben aussehen könnte», sagt Schär.
Ein Progr für den Westen?
Deshalb führt der Quartierverein am 31. März (18 bis 20 Uhr) ein erstes Quartiergespräch durch für Bewohner*innen der Untermatt und des benachbarten Quartiers altes Bethlehem, in dem viele Einfamilienhäuser stehen, aber auch Hochhäuser.
Das Quartiergespräch findet statt im Alten Loeblager, einem Industriebau mitten im künftigen Neubaugebiet, den zwei Dutzend Berner Künstler*innen mit ihren Ateliers seit ein paar Jahren zwischennutzen. Warum das Loeblager dereinst nicht in einen Progr des Westens verwandeln? Gute Idee, findet auch Stephanie Schär.
Sie ist jetzt zurück im Untermatt-Treff, ihrem Arbeitsort, der zum Netz der Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit gehört. Hier gibt es gratis Auskunft und Hilfe bei zahlreichen Fragen, die sich stellen, wenn jemand neu in Bern ankommt: Wie finde ich einen Kita-Platz? Wie funktioniert das mit der Krankenkasse und der Einschulung? Wie stelle ich einen Antrag auf Sozialhilfe? Unter anderem betreibt der Quartiertreff eine Schreibstube, in der man Unterstützung beim Ausfüllen von Formularen und Stellen von Gesuchen bekommt, sowie eine juristische Beratung. Es kommt vor, dass die Menschen dafür draussen vor dem Treff Schlange stehen.
Jetzt gerade riecht es fein. Wie jeden Freitag hat Fatma irakisch gekocht, es ist ihr Gastroprojekt, das sie im Treff betreibt.
Das ist die Untermatt der Gegenwart.