«Ich bin mega, mega gerne im Stadtrat»

Die 29-jährige Valentina Achermann (SP) wird heute Donnerstag als Stadtratspräsidentin höchste Stadtbernerin. Die rot-grüne Stadt dürfe die sozialen Fragen nicht aus den Augen verlieren, findet die Psychologin.

Valentina Achermann, Stadtratspräsidentin fotografiert am Donnerstag, 4. Januar 2024 in Bern. (Jana Leu)
Andersdenkenden respektvoll zuhören: Das will Valentina Achermann (SP) als Stadtratspräsidentin erst recht tun. (Bild: Jana Leu)

In ihrem Job stösst die Lokalpolitikerin Valentina Achermann auf schwierigste menschliche Situationen aus aller Welt. Die Psychologin arbeitet in einem 70-Prozent-Pensum am Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) in Wabern. Hier werden in die Schweiz geflüchtete Menschen behandelt, die aufgrund von Krieg, Folter und Fluchterlebnissen unter Traumata leiden.

Letzten Sommer hat die «Hauptstadt» das Ambulatorium besucht und darüber geschrieben. In Wabern werden hauptsächlich komplexe Fälle behandelt bei Menschen, die keiner Landessprache mächtig sind, mit Unterstützung von Dolmetscher*innen. Das Ambulatorium ist tendenziell überlastet, wegen des Fachkräftemangels. Aber auch in Vollbesetzung überstiege der Therapiebedarf das Angebot, hielten die Verantwortlichen fest.

«Hochpolitische Arbeit»

Valentina Achermann, die sich zusätzlich zur Psychotherapeutin weiterbildet, begleitet vor allem Kinder und Jugendliche, meist über Monate oder sogar Jahre. «Es geht darum, die Menschen zu stabilisieren, damit sie überhaupt die Chance haben, ihren Alltag bewältigen zu können», sagt sie.

Natürlich sei das zwischenmenschliche Arbeit, aber «gleichzeitig ist sie für mich hochpolitisch». Weil sie jeden Tag sehe, wie wichtig (oder hinderlich) Strukturen, die politisch verändert werden könnten, für Menschen seien. 

Ein Beispiel? Psychisch gesund zu werden, sei «sehr, sehr, sehr schwierig», so Achermann, wenn eine Familie in einem engen Asylzentrum ohne Rückzugsmöglichkeiten lebe und die Kinder für die Schule lernen sollten.

Gang herunterschalten?

Während Valentina Achermann von ihrer Arbeit erzählt, sitzt sie entspannt und heiter auf einer Bank auf der Münsterplattform. Sie hat einen herausfordernden Job, bildet sich weiter, übernimmt nun für ein Jahr das Stadtratspräsidium – und ist erst 29-jährig.

Valentina Achermann, Stadtratspräsidentin fotografiert am Donnerstag, 4. Januar 2024 in Bern. (Jana Leu)
Intensives Gesamtprogramm: Valentina Achermann auf der Münsterplattform. (Bild: Jana Leu)

«Mein Gesamtprogramm ist schon intensiv», gibt sie zu, «und ich will es gar nicht romantisieren im Sinn von: Wow, wie schafft die denn das?» Im Gegenteil: Den meisten würde es gut tun, einen Gang herunterzuschalten, findet sie. Auch ihr selbst? Sicher, lacht sie. Sie habe ihre Abendverpflichtungen im Vergleich zu früher reduziert, die Gelegenheiten, mit ihren Freund*innen unterwegs zu sein, müssten genügend Raum haben.

In kurzen, präzisen Sätzen beschreibt Valentina Achermann sich, ihr Leben, auch die Widersprüche. Und genau so politisiert sie auch. Die akkurat nachgeführte lange Liste von Medienauftritten auf ihrer Website zeigt, dass sie gerne und oft das Wort ergreift. Pointiert.

Geschärfte Argumente

Einst zog sie für ihr Studium aus der Innerschweiz nach Bern. Als Linke in einem konservativen Kanton wie Nidwalden habe sie früh gelernt, Andersdenkenden respektvoll zuzuhören, die eigenen Positionen zu hinterfragen, die Argumente zu schärfen.

Auf diese Weise sozialisiert, stieg sie 2018 in die Uni-Politik ein. Noch im selben Jahr sprach Valentina Achermann am Dies academicus – die jährliche Feier, die an die Gründung der Uni erinnert – als Vertreterin der Studierenden über die Vision einer diversen, barrierefreien Universität. Ein Jahr später, am Frauenstreik, gab sie dem deutschen Nachrichtenmagazin «Spiegel» ein Interview.

Valentina Achermann, Stadtratspräsidentin fotografiert am Donnerstag, 4. Januar 2024 in Bern. (Jana Leu)
Sozialer, antirassistischer, feministischer: So soll die SP (und die Stadt Bern) für Achermann sein. (Bild: Jana Leu)

Und im Herbst 2020 gehörte sie zu einer Gruppe junger SPler*innen, die im städtischen Wahlkampf von der eigenen Partei einen dezidierteren Linkskurs forderten: sozialer, nachhaltiger, feministischer, antirassistischer.

Ungelöste Probleme

In den Berner Medien wurde die Frage aufgeworfen, ob angesichts der ohnehin schon sehr rot-grünen Stadt Bern ein noch prononcierterer Linkskurs angebracht sei. Eine brave Antwort gab es von der Gruppe um Achermann nicht. Sondern eine spitze Gegenfrage: «Können Sie sich eine Stadt vorstellen, die zu diskriminierungsfrei ist, zu sozial oder zu nachhaltig – wohl nicht, oder?» 

Diesem Satz gebe es bis heute nichts beizufügen, sagt die künftige Stadtratspräsidentin jetzt auf der Münsterplattform. Selbstverständlich hätten die rot-grünen Regierungen der letzten 30 Jahre die Lebensqualität in der Stadt massiv verbessert. Aber es gebe überhaupt keinen Grund nachzulassen, gerade soziale Fragen spitzten sich eher wieder zu. Achermann denkt an Armut, Obdachlosigkeit, an Sans-Papiers, an die hohen Mieten. «Vielen Menschen in der Stadt Bern geht es trotz allem nicht gut», und das zeige, dass «grundlegende Probleme nicht gelöst sind».

Beobachterin des Stadtrats

Bei den Wahlen im November 2020 schaffte Valentina Achermann – wie inzwischen fast alle ihre Mitstreiter*innen von damals - den Sprung in den Stadtrat. Schon bald kam in der Fraktion die Idee auf, sie als Stimmenzählerin ins Ratsbüro zu delegieren mit der Konsequenz, dass sie im Wahljahr 2024 als Ratspräsidentin die Parlamentssitzungen leiten und formell höchste Stadtbernerin wird.

Sie habe sich zuerst mit dem Gedanken anfreunden müssen, vorübergehend weniger als inhaltliche Debattiererin aufzutreten, sondern Hintergrundarbeit zu leisten. Dafür wurde sie zur scharfen Beobachterin des Stadtrats, dessen Diskussionskultur immer wieder Fragen aufwirft.

Der Lärmpegel während der Sitzungen etwa ist oft sehr hoch. Auch für sie wird es eine Daueraufgabe sein, Ruhe zu verlangen, damit die Redner*innen überhaupt verstanden werden. Ein Ärgernis? «Nicht nur», sagt Achermann. Klar müsse der Respekt gegenüber den Redenden gewahrt bleiben. Aber ihr gefalle es auch, wenn der Stadtrat ein lebendiger, bewegter Ort sei. In einem Milizparlament müsse die Zeit im Rat auch genutzt werden, um bilateral zu diskutieren oder Vorstösse zu formulieren.

Auf den Stadtrat. Und das Leben

«Ich bin wirklich mega, mega gerne im Stadtrat», sagt Valentina Achermann. Es sei unglaublich, was für Wissen über die Stadt sie sich in den drei Jahren erschlossen habe. Und wie toll es sei, mit dem Parlament einen Ort zu haben, an dem Menschen mit unterschiedlichen Meinungen physisch zusammenkommen. «Es ist ein Privileg, über unsere unmittelbare Lebensumgebung mitbestimmen zu können, das darf man nicht vergessen.»

Valentina Achermann, Stadtratspräsidentin fotografiert am Donnerstag, 4. Januar 2024 in Bern. (Jana Leu)
Valentina Achermann freut sich auf die Präsidiumsfeier. (Bild: Jana Leu)

Und deshalb möchte sie sich in ihrem Präsidiumsjahr Gedanken darüber machen, wie die Zugänglichkeit des Stadtrats verbessert werden könnte. Für Politiker*innen, die wegen Mehrfachbelastungen ihr Amt häufig schon nach kurzer Zeit wieder abgeben. Aber auch für die Bevölkerung, die von der Arbeit des Stadtrats oft kaum etwas erfahre.

Man könne sich auch ausserhalb der Institutionen politisch einsetzen, das sei ebenso wichtig, sagt Valentina Achermann. Aber es freue sie ehrlich gesagt schon, welchen Hype es in ihrem privaten Umfeld ausgelöst habe, dass sie jetzt Stadtratspräsidentin werde – auch wenn das einige mit Stadtpräsidentin oder sogar Ständerätin verwechseln würden.

Aber egal: Am Donnerstag steigt im Jugendclub Stellwerk, in dessen Vorstand sich  Achermann engagiert, ihr grosses Fest. Sie wird nach dem offiziellen Essen mit ihren Freund*innen abrocken bis spät in die Nacht.

Auf den Stadtrat. Und das Leben.  

tracking pixel

Das könnte dich auch interessieren

Diskussion

Unsere Etikette
Matthias Decker
12. Januar 2024 um 06:49

härzleche glückwunsch!! freue mi sehr über die wahl!

Barbara Keller
11. Januar 2024 um 08:17

Freundin, Mitstreiterin, Kämpferin, Feministin, Antirassistin und ab heute höchste Bernerin! Ich freue mich unglaublich. Gratuliere, liebe Valentina.