Musik on, Ego off
Arrivierte und aufstrebende Berner Musiker*innen haben gemeinsam das Album «Vernisage» produziert. Morgen Freitag stehen sie für die Plattentaufe gemeinsam auf der Bühne – einmalig.
«So etwas hätte ich mir als junger Künstler auch gewünscht», sagt Maurice Könz, der in der Musikbranche als Musikproduzent und DJ Dr. Mo bekannt ist. Er hat mit Produzent Ben Mühlethaler zusammen das Förderprojekt «Vernisage» initiiert, das gleichnamige Album der neun beteiligten Künstler*innen ist Ende September erschienen.
Am Album haben – in Windeseile und auf ungewöhnliche Weise – neben den beiden Produzenten sieben weitere bekannte Musiker*innen gearbeitet: Steff la Cheffe, Lo & Leduc, San Mattia, Soukey, Alwa Alibi und Z The Freshman.
Was das Projekt von anderen unterscheidet, ist die Art der Produktion: Nicht die einzelnen Musiker*innen und ihr Stil standen im Vordergrund, sondern das Album an sich. Es ist ein Berner Gemeinschaftswerk, in dem die Musik vor dem Ego kommt. Das zeigt sich sich auch darin, dass alle Künstler*innen auf Lohn verzichten.
Der Mix macht’s
Dr. Mo und Mühlethaler sind in der Schweizer Musik- respektive Hip-Hop-Welt keine Unbekannte: Dr. Mo hat unter anderem den Hit «079» des Berner Mundart-Rap-Pop-Duos Lo & Leduc produziert; Mühlethaler war zum Beispiel massgeblich am Nummer-1-Album «Herz Schritt Macherin» von Rapperin Steff la Cheffe beteiligt.
Dr. Mo und Mühlethaler starteten «Vernisage» vor einem Jahr mit dem Ziel, Künstler*innen zusammenzubringen, sich gegenseitig zu inspirieren und ein Album zu veröffentlichen. Es sollte nicht nur um Musik gehen, sondern auch um bildende Kunst. Daher knüpft der Name des Projekts an Vernissage – die Eröffnung einer Kunstausstellung – an. Die Song-Covers hat der Berner Künstler Jaron Gyger auf Öl gemalt.
Der Mix sollte es ausmachen – die Idee: Etablierte Künstler*innen könnten die jungen «hochziehen». Und weil «junge Artists sich grosse Produktionen weniger leisten können», wollten Dr. Mo und Ben Mühlethaler das mit dem Förderprojekt ermöglichen.
Für «Vernisage» stellten die Musikproduzenten zwei Wochen lang ihre drei Studios zur Verfügung, organisierten alles rundherum und produzierten mit den sieben Musiker*innen die 12 Songs für das Album.
Beim Hören zeigt sich: Obwohl alle aus dem Hip Hop kommen, ist das Album überraschend wenig raplastig. Dass die Kreativität mehrerer begabter Musiker*innen in alle Songs eingeflossen ist, ist aber spürbar.
Die «Hauptstadt» wollte von zwei der beteiligten Musiker*innen wissen, was sie aus dem für die Schweizer Musikbranche ungewöhnlichen Projekt mitgenommen haben.
Auf Augenhöhe
Rapperin Alwa Alibi, die mit bürgerlichem Namen Estelle Plüss heisst, und Z The Freshman, alias Yannis Maviaki, sitzen im Musikstudio von Dr. Mo. In diesen Räumen sind vor etwa einem Jahr die ersten Demoversionen der 12 Songs von «Vernisage» entstanden.
«Das einfachste war die Musikproduktion», sagt Z The Freshman. Während zwei Wochen trafen sich die neun Berner Musiker*innen hier – dann, wenn sie Zeit hatten.
«Es war alles recht zufällig», erinnert sich Alwa Alibi. Nur die Studiotage waren fix, nicht aber, wer von den Artists gerade da war. Deshalb hätten sich die Songs zufällig, aber eben auch organisch ergeben. «Fast alle haben in jedem Song ihren Style reingebracht – ob im Text, der Melodie oder dem Flow», sagt die Rapperin.
«In jedem der Studios hier herrschte ein anderer Vibe. Das war extrem hilfreich zum Musik machen», ergänzt Z. Wenn man sich nicht mehr mit dem Song identifizierte, konnte man einfach Studio wechseln.
Alles geben für gute Musik
Alwa Alibi kam zum Beispiel mit einer Textidee, die sie mit Lorenz Häberli von Lo & Leduc weiterentwickelte. Z The Freshman half, den richtigen «Flow» für den Text zu finden. Jede*r brachte die eigenen Stärken ein. Zusammen wollten sie das bestmögliche Produkt kreieren, die Personen und ihr eigener Musikstil rückten in den Hintergrund.
In der Schweizer Musikbranche, vor allem im Hip Hop, gehöre es fast dazu, dass man die Songs, die man singt, auch selbst geschrieben hat, sagen Alibi und Z. «Vernisage» hat diese Konvention gebrochen: «Ich habe Lyrics geschrieben, die andere Artists gesungen haben», sagt Alibi. Zum Teil haben auch mehrere Musiker*innen dieselben Texte interpretiert, um herauszufinden, welche Stimme am besten passt.
Dabei sei dieses Vorgehen gar nicht so speziell, findet Alibi: In der Popmusik hätten fast alle grossen Namen ein grosses Team hinter sich, das textet, die Musik schreibt und produziert. Die Rapperin verweist zum Beispiel auf die Songinfos, die auf Spotify im neuen Justin Bieber Album aufgeführt sind. «Mit ‹Vernisage› machen wir einfach sichtbarer, wie viele Menschen an einem einzigen Song arbeiten.»
Eine solche Handhabung sei aber auch einfacher als bei einem Soloalbum, findet Alwa Alibi und macht ein konkretes Beispiel: Beim Lied «Charre» ist sie als einzige Interpretin aufgelistet – obwohl viele andere auch daran mitgearbeitet haben. «In einem Soloalbum hätte ich das aber nicht so veröffentlicht, weil es nicht meinen Solo-Stil trifft.» Hingegen passe es zu «Vernisage», mehrere hätten sich verwirklicht, sagt die Rapperin.
Alle profitieren
Alibi empfand das Projekt als lehrreich. Weil es ihr gezeigt habe, dass es «easy» sei, ein Teil von etwas zu sein und nicht alles selbst machen zu müssen. Und damit nicht für alles Verantwortung zu haben, nicht für alles Ruhm zu bekommen. «Man muss nicht jede Idee selbst gehabt haben. Und es ist auch real, wenn man einen Text singt, den man nicht selber geschrieben hat.»
Vielleicht auch deshalb ist es ihr nicht mehr so wichtig, dass sie all ihre Texte selbst vertont. «Ich habe manchmal gute Textideen, die nicht zum Namen Alwa Alibi passen. Aber ich habe weiterhin Bock, für andere Leute zu schreiben.» Alibi fände es toll, wenn man sich in der Schweizer Musikbranche Sachen zuschiebt, die nicht zum eigenen Stil passen. «Ich will das nun selbst auch proaktiv machen», sagt sie.
Im Album sind Lieder mit mehreren Interpret*innen entstanden, die davor nie zusammen gesungen haben. Für Alwa Alibi ist zum Beispiel jetzt klar, dass sie mit den anderen von Vernisage einzeln weiterhin Austausch pflegen und weiterhin zusammenarbeiten will.
Die Gruppe sei im letzten Jahr zusammengewachsen, Freundschaften seien entstanden – auch zwischen Alibi und Z: «Ich weiss nun, dass ich Yannis fragen kann, wenn es um den Vibe oder den Flow in einem Text geht. Dort ist er mega stark», sagt die Rapperin.
Umgekehrt frage Z The Freshman, wenn es um den Text geht, Alibi nach einem Feedback. «Das nice ist, ich muss ihr Feedback ja nicht unbedingt umsetzen», witzelt er.
Es sei zwar «mega wertvoll», dass so viele verschiedene Artists zusammengekommen sind und alle voneinander profitiert haben. Im Weg stehe aber der finanzielle Aspekt. «Zwei Wochen Studio und dann sind die Credits von sechs Leuten auf einem Song – in einer Justin-Bieber-Produktion mit X Dollar pro Song geht das gut.» Hier habe man aber einander Gipfeli gesponsert, sagt Z The Freshman und lacht.
Zum Vergleich: Justin Bieber hat mehr Budget für einen Song als das ganze «Vernisage»-Projekt mit vier Videoclips hatte. Weil es weniger Budget als beantragt erhalten hat, musste das Team gewisse Auslagen priorisieren: «Wir haben uns für geile Musikvideos entschieden und alles in das Produkt gesteckt», sagen die beiden Musiker*innen. Dafür haben alle Artists auf den Lohn verzichtet.
Vernisage 2.0
Krönender Abschluss von «Vernisage» ist die Plattentaufe am 3. Oktober im Dachstock. Es ist das erste und letzte Mal, dass alle sieben Musiker*innen und Musikproduzent Dr. Mo (Ben Mühlethaler ist in den Ferien) zusammen auf der Bühne die Lieder des Albums performen und auch eigene Tracks spielen.
Alwa Alibi freut sich: «Von den eineinhalb Stunden Konzert werde ich eine Stunde lang auf der Bühne sein und nichts zu tun haben. Vielleicht entsteht dafür noch eine Choreo.» Die Musik von Lo & Leduc oder Steff la Cheffe habe sie schon als Teenie gehört, deshalb freue sie sich umso mehr, mit ihnen auf der Bühne zu stehen und deren Songs zu hören.
Traurig, dass damit das Projekt zu Ende geht, sind Z und Alibi nicht. «Vielleicht ist es gut, jetzt mal Pause zu machen. Es war schon aufwändig», gibt Z The Freshman zu. Aber vielleicht soll es ein Folgeprojekt geben, stellt Alibi richtig. Wie, mit wem und wann, stehe aber noch in den Sternen.
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