Was ist eigentlich Belästigung?

In Bern gibt es neuerdings ein Tool, über das Belästigungen gemeldet werden können. Unser Philosophie-Kolumnist wundert sich, wie viel Kritik das auslösen kann und setzt sich mit dem Begriff der Ungerechtigkeit auseinander.

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

Bern schaut hin. So ist die neue Kampagne der Stadt Bern betitelt, die sich gegen sexistische, queerfeindliche oder sexualisierte Belästigungen richtet. Gleichzeitig wird ein Meldetool lanciert, mit dem Personen, die eine solche Belästigung erfahren oder beobachtet haben, diese anonym melden können. Ich freue mich über diese Kampagne. Zwar gehöre ich nicht zu dem Kreis der Personen, die von Belästigungen der von der Kampagne anvisierten Art bedroht sind, aber ich habe genügend Gespräche mit Freund*innen und Bekannten geführt, auf die das zutrifft, um zumindest eine ungefähre Ahnung davon zu haben, wie akut das Problem immer noch ist.

Wenn es nach mir ginge, müsste man zu der Kampagne nichts mehr sagen. Auch denke ich nicht, dass die von Belästigungen potentiell betroffenen Personen auf die Reflexionen eines Philosophen angewiesen sind, um zu verstehen, was Belästigung ist oder warum sie schlimm ist. Von sexistischer, queerfeindlicher und sexualisierter Belästigung sind Mädchen, Frauen und queere Personen betroffen, aber sie ist ein Problem für uns alle. Die Kampagne richtet sich an alle Bürger*innen. Deswegen kann es nicht schaden, einigen allgemeinen Missverständnissen vorzubeugen, die ihrem Erfolg abträglich sein könnten.

Die Kritik an der Kampagne, die in den letzten Tagen am häufigsten zu hören war, betrifft das Meldetool. Es lade uns zum Denunziantentum ein, wird von vielen Seiten behauptet. Es gibt eine sehr schnelle Weise, mit dieser Kritik umzugehen: Zum Denunzieren gehört, dass die Person, die denunziert wird, dadurch einen Schaden erleidet, z.B. indem sie verhaftet wird oder eine Busse zahlen muss. Das Meldetool erfasst Belästigungen in anonymisierter Form. Sein Zweck besteht nicht darin, belästigende Personen vors Gericht zu bringen. Wer eine Straftat meldet, erhält zwar Informationen darüber, wie diese Straftat gemeldet werden kann, ist aber nicht verpflichtet, dies auch tatsächlich zu tun. Zudem steht es uns allen jederzeit ohnehin frei, alle möglichen Straftaten zu melden, wenn wir sie beobachtet haben. Wer einem Bekannten durch Denunziation schaden will, sollte sich also besser einen anderen Weg suchen.

Opfern Glauben schenken

Mit dem Denunzierungs-Vorwurf kann aber noch etwas anderes gemeint sein. Wir verwenden diesen Ausdruck auch in einem Sinne, in dem er eine falsche Anschuldigung bezeichnet. Hinter dieser Kritik am Meldetool kann sich entsprechend auch die Sorge verbergen, dass Personen absichtlich Belästigungen melden, die gar nicht stattgefunden haben. Diese Art von Kritik ist gerade im Kontext von sexualisierter Gewalt immer wieder zu vernehmen. Oft stellt sie eine Reaktion auf die Aufforderung dar, wir müssten den Opfern von sexualisierter Gewalt mehr Glauben schenken, als dies bislang der Fall gewesen ist. Was ist aber, wenn eine Frau fälschlicherweise einen Mann der Vergewaltigung bezichtigt, weil sie sich an ihm wegen etwas rächen will, wird dann gefragt.

Allein zu dieser Problematik gäbe es sehr viel zu sagen, und die entsprechenden Debatten werden spätestens seit dem Aufkommen der Me-Too Bewegung intensiv geführt. An dieser Stelle mag der Hinweis genügen, dass die Forderung, Opfern Glauben zu schenken, fast nie im Sinne eines juristischen Automatismus zu verstehen ist, der einen Vorwurf unmittelbar in eine Verurteilung übersetzt. Es geht vielmehr darum, dass wir die Opfer bestimmter Formen von Gewalt und Diskriminierung nicht in die Position bringen sollten, dass sie uns eine lückenlose Dokumentation dessen, was ihnen angetan wurde, vorlegen müssen, bevor wir uns überhaupt mit der Idee auseinandersetzen, dass sie womöglich die Wahrheit sagen könnten.

Es ist eine Art doppeltes Unrecht, liesse sich auch sagen, wenn eine Frau oder eine queere Person belästigt wird, dies mitteilt, dann aber mit misstrauischen Blicken leben muss, weil die Gesellschaft zunächst davon ausgeht, dass es sich um eine falsche Anschuldigung halten könnte. In der philosophischen Diskussion hat sich für dieses zusätzliche Unrecht der Terminus der ‘epistemischen Ungerechtigkeit’ eingebürgert, einer Ungerechtigkeit also, die spezifisch etwas mit den Phänomenen des Glaubens und Wissens zu tun hat.

Die Philosophin Miranda Fricker unterscheidet zwischen zwei Formen so einer Ungerechtigkeit. Als ‘testimoniale Ungerechtigkeit’ bezeichnet sie das Phänomen, bei dem Personen aufgrund von sexistischen oder rassistischen Vorurteilen keine Glaubwürdigkeit geschenkt wird, so dass ihre Erfahrungen in einer Gesellschaft kein Gehör finden. Unter ‘hermeneutischer Ungerechtigkeit’ versteht sie dagegen das Phänomen, bei dem eine Gesellschaft bestimmten Personengruppen die kognitiven Ressourcen vorenthält, die sie benötigen würden, um ihre Erfahrungen angemessen zu verstehen.

Hermeneutische Ungerechtigkeit

Frickers zentrales Beispiel für so eine hermeneutische Ungerechtigkeit ist die Situation, in der sich der Begriff der sexuellen Belästigung noch nicht hinreichend etabliert hat. Die Opfer von sexueller Belästigung haben es in so einem Szenario schwer, ihre Erlebnisse explizit als eine Form der Belästigung zu verstehen, und sie sind oft in einer sehr schlechten Lage, einen entsprechenden Vorwurf zu formulieren oder sich mit anderen Opfern von sexueller Belästigung auszutauschen. Nicht selten schlägt dann das Unverständnis darüber, was einem angetan wurde, in Selbstvorwürfe um, die das Unrecht noch schlimmer machen.

Seien wir ehrlich: Was sexuelle Belästigung angeht, kennen wir solche gesellschaftlichen Zustände noch aus jüngerer Vergangenheit, und je nachdem, wo man sich bewegt, sind sie immer noch traurige Realität.

Epistemische Ungerechtigkeit

Wollen wir epistemischer Ungerechtigkeit begegnen, müssen wir also einerseits weiter an einem Verständnis für die verschiedenen Ausprägungen und die Realität von sexualisierter, sexistischer und queerfeindlicher Belästigung arbeiten; und andererseits sollten wir den Opfern dieser Formen von Belästigung Gehör verschaffen und ihren Berichten nicht von vorneherein mit Skepsis begegnen. Die Sorge, falsche Anschuldigungen könnten negative Folgen für Unschuldige haben, ist aufgrund der bereits angesprochenen anonymen Natur der vom Meldetool erfassten Berichte unbegründet. Eines der zentralen Ziele des Tools besteht darin, die Dunkelziffer für Belästigungen in Bern auszuleuchten. Das ‘worst case scenario’ sind also verzerrte Statistiken. Und dieser Gefahr können wir sehr gelassen ins Auge sehen.

Bei Belästigung handelt es sich um eine etwas komplexere Form des Fehlverhaltens als bei Diebstahl oder Körperverletzung.

Es gibt aber noch eine andere Form des Unbehagens, die in der Kritik am Meldetool mitschwingt, und ich denke, dass es sich lohnt, abschliessend auf sie einzugehen. Bei Belästigung handelt es sich um eine etwas komplexere Form des Fehlverhaltens als z.B. bei Diebstahl oder Körperverletzung. Diese Komplexität hat vier Facetten:

  • Eine Person kann sich belästigt fühlen, ohne dass sie belästigt wurde: Es gibt z.B. Menschen, die sich dadurch belästigt fühlen, dass homosexuelle Personen einander in der Öffentlichkeit küssen. Ihre Gefühle muss man nicht in Abrede stellen, und man kann dennoch sehr gut bestreiten, dass sie vom blossen Anblick homosexueller Liebe tatsächlich belästigt werden.
  • Personen können auch belästigt werden, ohne dass sie sich belästigt fühlen: Manche Frauen sind so häufig und so massiv von Männern belästigt worden, dass sie aufgehört haben, Belästigungen überhaupt als solche zu wahrzunehmen. Wie verschmutzte Luft in einer von Smog geplagten Metropole werden Belästigungen in solchen Fällen dermassen selbstverständlich, dass Frauen sich nicht mehr belästigt fühlen, obwohl doch klar ist, dass sie immer noch belästigt werden.
  • Zu Belästigungen gehört noch nicht einmal zwangsläufig die Absicht des Täters, eine andere Person zu belästigen: Manche Männer betreiben sexuelle Belästigung in dem ernsthaften Glauben, dass sie damit Frauen schmeicheln. Andere versuchen sich damit zu rechtfertigen, dass ihre Handlungen ja nicht belästigend gemeint seien und dass ihre Opfer sich doch ‘nicht so anstellen’ sollten. Im extremsten Fall kann es also zu Belästigungen kommen, die nicht als solche gemeint und nicht als solche empfunden werden; das ändert aber nichts daran, dass es Belästigungen sind.
  • Schliesslich kann ein und dieselbe Handlung eine Belästigung sein, je nachdem in welchem Kontext sie stattfindet oder auf welche Weise sie ausgeführt wird. Es ist keine Belästigung, wenn ich auf einem Ausflug einen halben Meter hinter meiner Mutter gehe. Auch in einer belebten Fussgängerzone kann es unproblematisch sein, in so einem Abstand hinter einer fremden Frau zu gehen. Ganz anders sieht die Situation aber nachts auf einer menschenleeren Strasse aus. Anderes Beispiel: Jemanden anzulachen kann belästigend sein, je nachdem, wie genau gelacht, wer die lachende Person ist, wen sie anlacht und wann sie es tut. Aber zum Glück gibt es nichts, was prinzipiell belästigend daran wäre, eine andere Person anzulachen.

Es gibt selbstverständlich auch ganz klare Fälle von Belästigung. Weil sexualisierte, sexuelle und queerfeindliche Belästigungen aber Ausprägungen von strukturellen Mechanismen der Diskriminierung sind, ist nicht zu verhindern, dass es auch subtilere und komplexere Formen davon gibt. Das mag der Grund dafür sein, dass in den letzten Jahren immer wieder die Forderung nach verbindlichen Verhaltensregeln gestellt wurde. Aber gerade weil sich nicht jede Belästigungsform in ein starres Korsett von Regeln pressen lässt, steht nicht zu erwarten, dass sich sexualisierte, sexuelle und queerfeindliche Belästigungen alleine mit der Einführung von Regeln und Meldetools werden aus der Welt schaffen lassen.

Dazu bedarf es vielmehr einer positiven Kultur der Nicht-Belästigung, zu der unter anderem gehören würde, dass potentielle Täter sich einfühlend in die Perspektive der Personen hineinzuversetzen lernen, die sie belästigen könnten. Wer sich intensiver damit beschäftigt hat, was Frauen oder queere Personen belästigt, wird recht schnell ein gutes Gespür dafür entwickeln können, welche Handlung in welchem Kontext belästigend sein könnte. Zu diesem Zweck ist nichts so hilfreich, wie die Geschichten derjenigen anzuhören, die Belästigungen erlebt haben. Jenseits des Meldetools, das in den letzten Wochen so viel Aufmerksamkeit generiert hat, steckt gerade hier die grosse Chance der Kampagne: Es geht vielleicht nicht nur darum, dass Bern hinschaut. Das zusätzliche Ziel könnte darin bestehen, dass Bern zuhört, über Belästigung als Problem redet und so lernt, wie man sie am besten vermeidet.

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.

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