Wenn mit Nachhaltigkeit getäuscht wird

Umweltschädliche Produkte werden immer öfter als «nachhaltig» vermarktet. Unser Philosophie-Kolumnist fragt sich, was solche Irreführungen von Lügen unterscheidet.

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

In der philosophischen Ethik wird seit einigen Jahren eine Debatte darüber geführt, ob es einen moralischen Unterschied zwischen Lügen und sogenannten Irreführungen gibt. Dass Lügen bedenklich sind, bestreitet kaum eine Moraltheorie. Die Frage ist, ob es vielleicht etwas weniger schlecht ist, andere Personen in die Irre zu führen. Oder ob Irreführen vielleicht alles noch schlimmer macht.

Was heisst das aber – in die Irre zu führen, ohne dass man lügt? Gemäss der Standarddefinition der Lüge muss eine lügende Person etwas behaupten, von dem sie denkt, dass es falsch ist, während sie gleichzeitig die Absicht hat, dass eine andere Person diese Behauptung für wahr hält. Bei einer Irreführung möchte man denselben Effekt erzielen – eine Person soll anfangen, etwas Falsches zu glauben –, allerdings muss man dafür nichts Unwahres behaupten.

Täuschen ohne Unwahrheit

Nehmen wir an, Tim möchte aus irgendeinem Grund, dass Frau Maier ihn nicht für einen schlechten Autofahrer hält, während er tatsächlich schon an die hundert Unfälle verursacht hat. Er könnte sagen: «In meinem ganzen Leben habe ich noch keinen Unfall gebaut.» Das wäre aber eine klare Lüge.

Alternativ könnte er auch sagen: «Ich habe schon mal einen Unfall gebaut.» In diesem Fall würde Frau Maier ebenfalls denken, dass er kein schlechter Autofahrer ist. Ein Unfall kann doch jedem mal passieren. Aber Tim würde dieses Ziel erreicht haben, ohne dass er etwas Unwahres behauptet hat. Er hat ja wirklich schon mal einen Unfall gebaut. Aber eben nicht nur einen.

Wer wie Tim in die Irre führt, suggeriert etwas Unwahres, ohne Dinge zu behaupten, die nicht der Wahrheit entsprechen. Wie praktisch! Sollte Frau Maier von Tims Unfällen erfahren und ihn zur Rede stellen, könnte Tim daran festhalten, dass er sie nicht angelogen hat: «Ich hab doch nur gesagt, dass ich einen Unfall gebaut habe. Habe ich ja auch. Was wollen Sie denn?» Nur wäre das angesichts der Tatsache, dass er Frau Maier getäuscht hat, eine ziemlich dreiste Ausrede.

Ist die Irreführung weniger schlimm?

Das ist der Grund, weshalb einige Philosoph*innen die Irreführung für moralisch sogar noch problematischer halten als die Lüge. Wer lügt, übernimmt immerhin noch auf eine Weise die Verantwortung für das, was er oder sie tut. Die in die Irre führende Person macht etwas moralisch Falsches und tut so, als hätte sie es nicht gemacht. Schlimmstenfalls macht sie sogar noch ihr Opfer mitverantwortlich für die Täuschung. «Sie hätten ja nachfragen können, ob ich mehr als einen Unfall gebaut habe», könnte Tim sagen. Und damit seiner Dreistigkeit die Krone aufsetzen. 

Man könnte denken, dass Irreführungen in unserem Alltag eher selten und lediglich ein interessanter Gegenstand zum Nachdenken für spitzfindige Philosoph*innen sind. Wenn wir genau hinschauen, treffen wir sie allerdings in vielen Bereichen unseres Lebens an. Eine weit verbreitete Weise, in die Irre zu führen, besteht darin, absichtlich mehrdeutige Wörter zu verwenden.

An diese Form der Irreführung muss ich seit einigen Jahren immer dann denken, wenn ich das Wort «Nachhaltigkeit» höre. Es ist zu einer Art Modewort verkommen. Von Nachhaltigkeit wird sehr oft gesprochen, wenn eine Person oder ein Unternehmen sich den Anstrich von ökologischem Verantwortungsbewusstsein geben will, tatsächlich aber andere Ziele und Prioritäten im Blick hat.

Das bedeutet nicht, dass es keine angemessenen Verwendungsweisen des Wortes gibt. Es gibt verschiedene Theorien und Konzepte der Nachhaltigkeit, und viele wissenschaftliche Disziplinen versuchen, den Gebrauch dieses Wortes auf ein solides Fundament zu stellen. Zurzeit scheint es aber immer noch zu vielen Missverständnissen einzuladen. 

Meine «nachhaltigen» Ferien

Als Privatperson könnte ich mir die mit Nachhaltigkeit verbundene Mehrdeutigkeit zunutze machen, indem ich zum Beispiel behaupte, dass mir an meinen Ferien besonders wichtig ist, dass sie nachhaltig sind. Wer mir zuhört, müsste meinen, dass ich versuche, auf Flugreisen zu verzichten oder in veganen Hotels zu übernachten. 

Tatsächlich kann es aber sein, dass mir das alles egal ist, und dass ich stattdessen von Ferien lediglich erwarte, dass sie mich möglichst langfristig entspannen. Danach gefragt, warum ich um die Welt fliege, wo ich doch behauptet hätte, dass mir Nachhaltigkeit wichtig sei, könnte ich – ähnlich dreist wie Tim – daran festhalten, dass ich nichts Unwahres behauptet habe. Mit Nachhaltigkeit meinte ich eben nur, dass ich nicht schon eine Woche nach der Rückkehr nach Hause wieder reif für die Ferien bin.

Die Welt der Werbung und die Selbstdarstellungen von wirtschaftlichen Unternehmen sind voll von Täuschungen, die diese Struktur haben. Man erklärt sich für nachhaltig operierend, meint in Wahrheit aber, dass man als Firma so wirtschaftet, dass man nicht schon nach drei Jahren pleite geht. Oder so, dass ein Börsengang wahrscheinlich wird. Oder so, dass die Aktienrenditen jährlich steigen. Das alles können Menschen unter «Nachhaltigkeit» verstehen. Für sich genommen ist auch nichts gegen einen solchen wirtschaftlich orientierten Nachhaltigkeitsbegriff zu sagen.

Nachhaltigkeit als Werbemassnahme

Es ist nur eben ein ganz anderer Begriff als das, was Klimaaktivist*innen fordern, wenn sie mehr Nachhaltigkeit anmahnen. Allzu oft wird uns aber das eine für das andere verkauft. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Es setzt sich langsam die Einsicht durch, dass wir in ökologischer Hinsicht nicht so weitermachen können wie bisher. Ökologische Nachhaltigkeit wird für immer mehr Bürger*innen zu einem Anliegen. Und diese Menschen möchte man als Kund*innen nicht verlieren. Da erklärt man dann einfach das Waschmittel oder den Anlagefonds für nachhaltig und hofft, dass hinreichend viele sich damit zufriedengeben werden. 

Man könnte einwenden, dass ich polemisch und unfair gegenüber den Verfechter*innen eines eher ökonomisch orientierten Nachhaltigkeitsverständnisses bin. Ganze Wirtschaftsdepartements an Unis und Hochschulen sind heute darum bemüht zu zeigen, warum ökonomische Nachhaltigkeit ein hehres Ziel ist und warum es im Grunde keinen Unterschied zwischen ökologischer und ökonomischer Nachhaltigkeit gibt. Wenn man die Wirtschaft nur machen lässt und sich auf Akteur*innen verlässt, die seriös, das heisst ökonomisch nachhaltig wirtschaften, dann werde die ökologische Nachhaltigkeit schon automatisch folgen, hört man immer wieder. Was gut ist für die Wirtschaft, ist auch gut fürs Klima. Man könne beides haben – hohe Rendite und eine saubere Umwelt.

Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben allerdings in verschiedenen Bereichen gezeigt, dass das eine allzu naive Sicht der Dinge ist. Die Selbstregulierungskräfte des Marktes sind so potent wie homöopathische Präparate. Wer an die unsichtbare Hand glaubt, kann genauso gut an die zwei weissen Täubchen glauben, die die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen stecken. Es rieselt nichts nach unten in der Trickle-Down-Wirtschaft. Und genauso wenig wird besser in einer Welt, in der Unternehmen für sich Nachhaltigkeit reklamieren, aber nur an Gewinnmaximierung interessiert sind. 

Wie man es anders machen kann

Greenwashing dieser Art ist natürlich bereits seit Jahren bekannt und wird von vielen Seiten zu Recht kritisiert. Dass man auch anders mit dem Schlagwort der Nachhaltigkeit umgehen kann, ist mir vor ein paar Tagen aufgefallen, als ich mit meiner Familie einen Ausflug auf den Gurten gemacht habe. Ein schlicht aber effektvoll designtes Plakat informiert dort darüber, was es heisst, dass der «Park im Grünen» auf Nachhaltigkeit setzt: Dass auf mit dem Flugzeug importierte Lebensmittel verzichtet wird, dass für die Toilettenanlagen Regenwasser verwendet wird, dass der gesamte Strom auf der Anlage aus Wasserkraft stammt, dass Gebäude mit einer Holzschnitzelheizung beheizt werden. Und so geht es weiter, Punkt für Punkt.

Es kann gut sein, dass einzelne dieser Behauptungen nicht stimmen. Sollte das aber rauskommen, könnte man den Gurtenpark-Betreiber*innen den Vorwurf der Lüge machen. Mit Festlegungen, wie sie auf der Info-Tafel festgehalten sind, macht man sich eben angreifbar. Deswegen ist es nicht einfach, auf ehrliche Weise nachhaltig zu sein. Man muss etwas tun, wenn Nachhaltigkeit kein Lippenbekenntnis sein soll und ich vermute zumindest, dass es auf dem Gurten in Sachen Nachhaltigkeit tatsächlich mit rechten Dingen zugeht.

Eine Aufgabe für die Politik?

Könnte man das nicht überall so machen? Wie schön wäre doch die Welt, wenn man uns nicht auf Schritt und Tritt in die Irre zu führen versuchte! Sollten wir solchen Irreführungen nicht durch politische Massnahmen einen Riegel vorschieben?

Im vergangenen Jahr hat sich Finanzministerin Karin Keller-Suter genau dieses Ziel im Bereich der Finanzdienstleistungen gesetzt. Letzten Monat erfolgte dann die Kehrtwende. Der Bundesrat hat beschlossen, auf verbindliche Regulierungen zu verzichten und setzt stattdessen erst einmal weiter auf die Selbstregulierung der Finanzbranche. 

Versteht man das doppelte Spiel mit der Nachhaltigkeit als eine Form der Irreführung, ist leicht zu sehen, warum das eine absurde Strategie ist. Die Irreführung unterscheidet von der Lüge, dass keine im strengen Sinne unwahren Behauptungen gemacht werden. Gemeinsam ist ihnen, dass die irreführende Person, genauso wie die Lügnerin, ihr Gegenüber zu täuschen versucht. Wer eine Täuschungsabsicht hat, wird aber nicht von sich aus auf die Täuschung verzichten wollen. Darauf kann man nicht ernsthaft hoffen. Das wäre so, wie wenn man als Reaktion auf Fälle von Ladendiebstahl auf die Selbstregulierung der Kundschaft mit Diebstahlabsichten setzen wollte. 

Angesichts dieser Tatsache sollten wir als Bürger*innen weiterhin Druck auf die Politik machen und angemessene Regulierungen fordern. Und solange sie fehlen, sind wir gut beraten, genau hinzuschauen, wenn uns jemand ein nachhaltiges Produkt zu verkaufen versucht.

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