Wo die Lehre eine Lerne ist

Hier zählen eigene Interessen und Neugier mehr als Befehle: Joscha Tschanz absolviert seine Lehre zum Mediamatiker EFZ beim Berner Lernbetrieb Yolu und lernt gleichzeitig unternehmerisch zu denken.

YOLU

JOSCHA TSCHANZ


© Dres Hubacher

Fotografiert für Hauptstadt, neuer Berner Journalismus. 

Joscha Tschanz ist im zweiten Lehrjahr zum Mediamatiker. Bei ihm ergibt sich die Theorie aus der Praxis. (Bild: Dres Hubacher)

«Zu dir oder in die Kamera?», fragt der Lernende Joscha Tschanz, als der Fotograf beim Porträtbild darum bittet, noch einmal zu ihm zu schauen. Eine Frage, die das vorangegangene Gespräch über seine ungewöhnliche Ausbildung unterstreicht und veranschaulicht, wonach beim Lernbetrieb Yolu gelebt und gearbeitet wird.

Hier wird mitgedacht statt blind ausgeführt, einfach mal ausprobiert, statt von Anfang bis Ende durchgeplant, zur Eigeninitiative ermutigt statt diktiert, kurz: Yolu ist ein Ort des Co-Learnings, des Von- und Miteinander-Lernens.

Da passt es gut, dass an der Effingerstrasse 10 das ganze Haus eine solche Atmosphäre hat. Hervorgegangen ist Yolu aus dem Effinger, einer Kombination aus Kaffeebar und Coworking-Space, in der Community seit bald neun Jahren gross geschrieben wird.

Marco Jakob, einer von Joscha Tschanz’ Vorgesetzten, gehört zum Gründungsteam und ist als Effianer – so bezeichnen sich die Community-Mitglieder gegenseitig – schon viele neue Wege gegangen. Einer davon ist der zusammen mit Joris Schwarzenbach und Jonathan Hess initiierte Lernbetrieb Yolu.

Der Wendepunkt

Für Joscha Tschanz ist Yolu ein Glücksfall. Nachdem er die ersten Schuljahre noch einigermassen unbeschadet überstanden hatte, funktionierte bei ihm in der Oberstufe mit einem Mal gar nichts mehr. «Der Notendruck in der Übertrittsphase am Ende der sechsten Klasse hat mir den Stecker gezogen und jegliche Freude und Motivation genommen», sagt der heute 17-Jährige.

Zusammen mit seinen Eltern, die Mutter ist selbst Lehrerin, entschied er sich fürs Homeschooling; geknüpft an die Bedingung, dass sich ein Ort findet, an dem sich der fehlende Austausch des heimischen Lernens ausgleichen lässt. «So bin ich im Effinger gelandet.» Neben den Coworking-Möglichkeiten auf inzwischen fünf Stockwerken gibt es hier auch ein Co-Learning-Angebot für Jugendliche und Erwachsene.

YOLU

© Dres Hubacher

Fotografiert für Hauptstadt, neuer Berner Journalismus. 

In seinem Alltag ist viel selbständiges Arbeiten am Computer gefordert. (Bild: Dres Hubacher)

Für Joscha die Tür zu einem völlig neuen Lernen und Entdecken: «Das Miteinander von so vielen unterschiedlichen Leuten, Generationen und Tätigkeitsgebieten entsprach mir sehr und eröffnete mir gleichzeitig unzählige Möglichkeiten. Endlich konnte ich herausfinden, was mir wirklich Spass macht, was vielleicht nur in der Theorie gut klingt, worin ich richtig gut bin und worin weniger. All das in eigenen Projekten und vor allem: selbstbestimmt, in meinem Tempo und meinen Interessen entsprechend.»

Mit Hilfe von «Try and Error», Youtube-Videos und Tipps aus der Community produzierte er in dieser Zeit unter anderem einen Film über Höhlen und arbeitete in der hauseigenen Pilzfarm mit, drehte auch hier Filmchen, kümmerte sich um den Instagram-Account und erweiterte währenddessen Horizont und Know-how gleichermassen.

Die Innovation

Als schliesslich die Berufs- und Ausbildungswahl anstand, war klar: Etwas mit möglichst wenig Schule sollte es sein. Schnuppertage bestätigten Mediamatik bald als passendes Metier. Weiter ging Joschas Berufswahlprozess nicht, denn: Noch bevor er sich selbst auf eine Lehrstelle bewerben konnte, bewarb sich eine Lehrstelle um ihn.

«Eines Tages kamen Marco und Joris und sagten, dass sie mich im Effinger behalten und darum im Verbund mit anderen Effianer*innen eine Lehrstelle schaffen möchten.» Es war die Geburtstunde von Yolu und dem Lernbetriebsverbund: Statt einem Betrieb allein kümmern sich mehrere gemeinsam um die Lernenden und verteilen den dazugehörigen administrativen und koordinativen Aufwand auf mehreren Schultern.

Gleichzeitig stehen den Lernenden während ihrer Ausbildung Expert*innen und Equipment aus den verschiedensten Teilbereichen zur Verfügung. Informatik, Design, Fotografie, Film, Kommunikation, Beratung und kaufmännische Belange sind nur einige davon. Erprobt und angewandt werden die Skills in echten Kund*innenprojekten statt konstruierten Ausbildungsarbeiten, die Theorie ergibt sich in bester «Learning by doing»-Manier meist aus der Praxis.

YOLU

Links JOSCHA TSCHANZ
Rechts MAËL DUWAN

© Dres Hubacher

Fotografiert für Hauptstadt, neuer Berner Journalismus. 

Die beiden Lernenden Joscha Tschanz und Maël Duwan haben selbst ein Podcast-Studio gebaut. (Bild: Dres Hubacher)

Aus der Anfrage für eine Podcast-Produktion etwa wurde ein professionelles Podcast-Studio. Die beiden Lernenden – neben Joscha ist auch Maël Duwan auf dem Weg zum Mediamatiker – planten, bauten und betreiben es selbst.

«In einer klassischen Lehre wäre uns einfach ein Studio zur Verfügung gestellt worden», so Joscha. «Wir hingegen durften bei Null beginnen und waren von der Anfrage über das Erstgespräch bis zur tatsächlichen Umsetzung und späteren Rechnungsstellung in jeden Projektschritt involviert.» Dieser Punkt ist Ausbildner Marco Jakob besonders wichtig: «Wir wollen nicht einseitig lehren, sondern gegenseitig lernen. Also heisst die Lehre bei uns Lerne.»

Die Herausforderung

Im Kontrast dazu stehen die Tage an der Berufsschule. Auf diese könnte Joscha getrost verzichten, wie er lachend gesteht. Zumindest, so lange sie nach altbekanntem Schema abgehalten werden. «Wenn ich sehe, wie weit ich in meinem selbstbestimmten Arbeiten bisher gekommen bin, wie viel Know-how ich mir dabei erarbeitet habe, frage ich mich manchmal schon, warum an der Schule immer noch auf Frontalunterricht und fix vorgeschriebenen Schulstoff gesetzt wird.» Es sei nicht so, dass ihn die Themen nicht interessieren würden, ganz im Gegenteil: «Ich kann sie mir einfach sehr schlecht verinnerlichen, wenn sie auf diese uniforme Art an mich herangetragen werden.»

Lieber würde er Schilderungen aus dem Berufsalltag der Lehrpersonen hören, sie nach ihren Learnings fragen, an ihren Erfahrungen teilhaben. «Ich bin sicher, das wäre nicht nur für mich der spannendere Ansatz. So lernen wir ja auch sprechen als Kleinkind. Wir sehen respektive hören allen um uns herum dabei zu und wollen selbst auch mittun können. Also eignen wir uns aus eigenem Antrieb nach und nach Laute und Worte an.» Er ist überzeugt: Diese Energie und Neugier tragen wir auch später noch in uns. «Im klassischen Schulalltag findet sie einfach kaum Platz.»

Die Vision

Damit sind wir mittendrin in der Motivation hinter Yolu. «Die Frage, wie wir den Prozess des Lernens renaturieren können, treibt mich fast schon mein ganzes Berufsleben lang um», sagt Marco Jakob, der einst das Höhere Lehramt machte und heute primär als Experte für Bildung und Digitales tätig ist.

YOLU

Von links nach rechts: 
MAËL DUWAN
JORIS SCHWARZENBACH
MARCO JAKOB
JOSCHA TSCHANZ

© Dres Hubacher

Fotografiert für Hauptstadt, neuer Berner Journalismus. 

Ein etwas anderer Lernbetrieb: Lernende Joscha Tschanz (ganz rechts) und Maël Duwan mit Ausbildnern Joris Schwarzenbach und Marco Jakob (mit Brille). (Bild: Dres Hubacher)

Im Blick hat er vor allem die Annäherung von Schul- und Arbeitswelt. «Du verbringst neun Jahre im Schulzimmer, siehst kaum je jemanden arbeiten – und sollst dann aus dem Stegreif entscheiden, wo du deine Zukunft siehst?» Natürlich sei das überspitzt formuliert. Aber den Übergang von der Schul- in die Arbeitswelt empfinde er schon als krassen Bruch.

Jakob plädiert darum für frühstmögliches Co-Learning, auf dass die Kinder und Jugendlichen die Berufswelt nicht nur beobachten, sondern in einer aktiven Rolle erkunden können. «Ob das Coworking Spaces an Schulen oder Schultage in Coworking und Co-Learning Spaces wie dem Effinger sind, spielt keine Rolle. Wichtig wäre, dass die Türen in beide Richtungen offen sind. So werden die Übergänge automatisch fliessender.»

Letztlich seien auch Yolu und der Lernbetriebsverbund so entstanden. «Mit Joscha kam die Frage, wie sich das Co-Learning-Setting weiterziehen liesse. Eine Lerne statt Lehre war quasi die logische Schlussfolgerung.»

Noch ist es ein Versuch, doch die Chancen stehen gut, dass sich das Modell bewähren wird. Dann möchte Marco Jakob ausbauen. Seine Vision sind verschiedene Mini-Betriebe, die von Lernenden geführt werden. Dort sollen die Lernenden ihre eigenen Produkte entwickeln und in Eigenregie auf den Markt bringen. «Natürlich braucht es Mut, die Jungen einfach mal machen zu lassen. Es ist allerdings auch unglaublich bereichernd und befreiend, nicht immer alles selbst wissen und können zu müssen.»

tracking pixel

Das könnte dich auch interessieren