Kochbuch für eine bessere Welt

Die Wyss Academy trat 2020 mit grossem Ziel an: Weltweit neue Wege zu finden, um die Natur zu schützen und gleichzeitig Wohlstand zu schaffen. Wie weit ist der Berner Thinktank gekommen?

Peter Messerli
Wyss Academy
Bern
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© Danielle Liniger
Blickt kritisch, aber auch mit Zuversicht auf die Welt: Peter Messerli, Direktor der Wyss Academy, vor einem Luftbild kenianischer Trockengebiete. (Bild: Danielle Liniger)

Mild bescheint die winterliche Nachmittagssonne die schneebedeckten Berner Hochalpen. Von den Büros der Wyss Academy an der Kochergasse hat man – am Nobelhotel Bellevue vorbei – einen privilegierten Blick auf das Prachtspanorama. «So schön er ist», sagt Peter Messerli, «eigentlich ist das ein Retortenausblick». Die Landschaft könne sich nur darum so glänzend präsentieren, weil über die Hälfte des ökologischen Fussabdrucks der Schweiz im Ausland anfalle.

Messerli (57) ist Direktor der Wyss Academy for Nature. Die kurze Bemerkung am Fenster sagt viel darüber aus, mit welchem Blick er auf die Welt schaut. Der in den USA lebende Berner Milliardär Hansjörg Wyss (89) hat 2019 für die folgenden 10 Jahre 100 Millionen Franken gesprochen für einen Thinktank in Bern, der Antworten auf ganz grosse Fragen suchen soll: Wie gelingt es, die Natur zu schützen, wirtschaftlichen Wohlstand zu schaffen – und gleichzeitig Ungerechtigkeiten abzubauen?

Der Kanton und die Universität Bern steuerten je weitere 50 Millionen Franken bei. Peter Messerli, damals Co-Direktor des Center for Environment and Development (CDE), übernahm die Leitung des aufzubauenden Nachhaltigkeits-Instituts. Heute beschäftigt die Wyss Academy rund 100 Personen, die in Bern, aber auch in Ostafrika, Südostasien und Südamerika arbeiten.

Und Messerli ist auch fünf Jahre nach dem Start der enthusiastische Antreiber.

Herr Messerli, bei der Wyss Academy ist ungefähr Halbzeit der auf 10 Jahre ausgelegten Startfinanzierung. Was bewirken Sie?

Peter Messerli: Viele Menschen weltweit fühlen sich ohnmächtig, weil sie wissen, wie es um die Welt steht. Es ist immer klarer, wie gross die Krisen sind. Trotzdem können wir uns nicht vorstellen, wie wir konstruktiv ins Handeln kommen. Wir kämpfen entweder für die Natur und gegen alles andere – wenn es sein muss auch gegen die Menschen. Oder wir kämpfen für Entwicklung, Reichtum und Wohlstand und vergessen den Rest. Das produziert vor allem Verlierer*innen. In dieser Blockade stecken wir fast überall auf der Welt seit langem fest.

Die Wyss Academy versucht von Bern aus, die Blockade zu lösen?

Messerli: Unser Anspruch besteht nicht darin, mit einem grossen Wurf die Welt zu retten. Wir können nur glaubwürdig sein, wenn wir uns konkrete Herausforderungen herauspicken. Wenn die Wyss Academy vor Ort Menschen zusammenbringt, die etwas bewegen wollen und können. Wir kombinieren wissenschaftliches Wissen mit dem Know-how lokaler Pioniere, um mit neuen Lösungen zu experimentieren. Idealerweise stossen wir dadurch einen Prozess an, der rasch spürbare Fortschritte bringt. Das ist unser Plan. Wir nennen das Reallabor.

Peter Messerli
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Bern
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«Die Wissenschaft kann nicht sagen, was passieren soll», sagt Messerli. Die Wyss Academy sucht zusammen mit den Menschen vor Ort Lösungen. (Bild: Danielle Liniger)

Mit welchem grösseren Ziel?

Messerli: Die Wyss Academy ist in mehreren Reallabors im globalen Süden – in Südamerika, Ostafrika, Südostasien – tätig, aber auch im Kanton Bern. Ich stelle mir vor, dass wir aus diesen Erfahrungen eine Art Kochbuch entwickeln, das verschiedene Rezepte von Anwendungen enthält, die in der Praxis getestet worden sind. Und die bei ähnlicher Problemlage andernorts eingesetzt werden können.

Wie haben Sie die Reallabors ausgewählt?

Messerli: Wir gehen dorthin, wo wir Vorwissen und bestehende Partnerschaften haben. Ich selber habe zum Beispiel längere Zeit in Laos und Madagaskar gearbeitet, als ich für das Center for Development and Environment der Universität Bern forschte. Berner Wissenschaftler*innen sind seit langem in Kenia und Peru tätig. Das, was unter anderem in Bern in den letzten Jahrzehnten erarbeitet wurde, ist eine wichtige Basis für uns.

Wir wollen genauer verstehen, wie Sie arbeiten. Nehmen Sie uns mit in ein Reallabor.

Messerli: Gut, gehen wir nach Ostafrika, in den kenianischen Laikipia-District in der Nähe des Mount Kenya.

Einverstanden. Was ist dort die Herausforderung?

Messerli: Wir befinden uns in einem Trockengebiet, durch das traditionell nomadische Viehhirten ziehen. Bei uns am bekanntesten sind die Massai. Sie nutzen den Boden nachhaltig, indem sie sich mit ihrem Vieh in grossen Räumen stets dort hinbewegen, wo Regen fällt. Doch dieses Modell ist empfindlich gestört.

Wie und warum?

Messerli: Ganz verkürzt: Durch die Kolonialisierung, aber auch durch die Entstehung von Strassen, Siedlungen sowie von Schutzgebieten für Wildtiere, Elefanten oder Giraffen zum Beispiel, die man für die touristische Entwicklung braucht. Das schränkt die Bewegungsmöglichkeiten für die Nomad*innen derart ein, dass sie quasi gezwungen werden, den Boden zu übernutzen. Gleichzeitig trifft sie die Klimaerwärmung voll: Sechs der letzten neun Regenzeiten sind ausgefallen. Absolut dramatisch. Die Frage stellt sich, ob die Massai überhaupt noch eine Zukunft haben.

Was kann die Wyss Academy hier ausrichten?

Messerli: Die Wissenschaft kann nicht sagen, was passieren soll. Deshalb legen wir sehr viel Wert darauf, mit den Menschen selber über ihre Zukunft zu reden. Über das, was sie mit uns ausprobieren möchten. In Kenia kam klar heraus: Junge Hirt*innen wollen einen Effort leisten, das ausgetrocknete Gebiet für sie wieder nutzbar zu machen.

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Messerli sucht nach Innovation: Heute werden in ostafrikanischen Weidegebieten auf Elefantendung Austernpilze gezüchtet. (Bild: Danielle Liniger)

Die Idee für Ihre Forschung kam von den Leuten selbst?

Messerli: Das ist der Geist der Reallabors. Wir wissen nie genug und lernen nur gemeinsam. Indem wir mit Menschen, die eine Herausforderung anpacken wollen, eine Coalition of Change bilden.

Wie läuft das konkret in Kenia?

Messerli: Auf Initiative der Jugendgruppe Green Earth Warriors begannen junge Menschen, halbmondförmige Erdwälle auszuheben. Vorerst 5000. Ein traditionelles Instrument, Wasser zurückzuhalten, was zu erhöhter Bodenfeuchtigkeit führt. So wächst wieder Gras. Wir von der Wyss Academy steuern unter anderem hochaufgelöste Klimadaten bei, die zeigen, dass gar nicht weniger Regen fällt als früher, aber intensiver und lokal konzentrierter. Das hilft, das Projekt effizient zu steuern. Inzwischen gibt es fast 100’000 Erdwälle. Sogar auf Satellitenbildern ist sichtbar, dass das Gebiet grüner geworden ist.

So rasch zeigt sich der Erfolg?

Messerli: Moment! Wir hoffen zwar, dass die erhöhte Feuchtigkeit sogar die Niederschlagshäufigkeit ankurbelt, sich also positiv aufs Klima auswirkt. Aber: Aus wissenschaftlicher Sicht sehen wir, dass dies im Prinzip Symptombekämpfung ist. Es gibt wieder mehr Gras, was rasch dazu führt, dass mehr Vieh gehalten wird. Damit sind wir zurück bei der Übernutzung und dort, wo wir begonnen haben.

Was tun?

Messerli: Wir versuchen, neue Spielregeln für die Weidegebiete zu entwickeln. Das Gras kann etwa den Hirt*innen als Heu verkauft werden. Das schafft Einkommen und Kontrolle über die Nutzung. In den halbmondförmigen Vertiefungen könnten auch alternative Kulturen statt Gras angepflanzt werden.

Zum Beispiel?

Messerli: Ein Unternehmer könnte auf den Gedanken kommen, die Weidegebiete mit Solarparks zu kombinieren. Oder Aloë Vera zu pflanzen. Why not? Ein kenianischer Biologe entwickelte die Idee, auf Elefantendung schmackhafte Austernpilze zu züchten. Ein proteinreiches Nahrungsmittel, das das fleischlastige Essen der Hirt*innen ergänzt, deren Herden eher kleiner werden sollten. In den Halbmonden gedeiht diese Kombination. Mittlerweile haben sich Frauengruppen in das Projekt eingeklinkt und helfen mit, den Wandel in diese Richtung voranzutreiben.

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Peter Messerli findet: «Mit Naturschutz allein rettet man die Welt nicht.» (Bild: Danielle Liniger)

Kann man sich so die Ambitionen der Wyss Academy vorstellen? Das Ziel ist, das System zu verändern? 

Messerli: Genau. Wir sind nicht Feuerwehrleute, die Symptome bekämpfen. Das System soll am Schluss anders funktionieren als zuvor. So, dass es sowohl Menschen wie auch der Natur besser geht. Voraussetzung ist, dass wir keine falsche Romantik pflegen von glücklichen, armen Kleinbauern, die vor sich hin werkeln. Der Wille zu nachhaltiger Innovation ist da. Was wir tun können, ist, ihn zu fördern. 

Aber ist die Wyss Academy aus der Schweiz die Richtige dafür? Die Schweiz verhält sich wie das Gegenteil einer Nachhaltigkeits-Weltmeisterin.

Messerli: Da haben Sie Recht. Die Schweiz ist sehr gut darin, Wohlstand zu schaffen. Aber wenn es darum geht, Lösungen zu finden für Wohlstand, der im Einklang mit der Natur entsteht, sind wir definitiv ein Entwicklungsland. Für den Ressourcenverbrauch der Schweizer*innen bräuchten wir zweieinhalb Erden. Was wir aber trotzdem können: Wissen, Kontakte und eben auch Geld zur Verfügung stellen zur Unterstützung von Experimenten für den Systemwandel.  

A propos Geld zur Verfügung stellen: Was sagt der 89-jährige Mäzen Hansjörg Wyss zu dem, was Sie und die Wyss Academy bis jetzt erreicht haben?

Messerli: Wir sind mit Hansjörg Wyss und seinem Stiftungsmanagement in regelmässigem, intensivem Austausch. Wyss ist sehr interessiert. Er war persönlich mit uns in Laos, in Kenia, wir marschierten mit ihm durchs Gantrisch-Gebiet, wo wir ebenfalls engagiert sind. Er stellt uns ja vor eine schwierige Herausforderung.

Nämlich?

Messerli: Hansjörg Wyss engagiert sich mit seiner Stiftung weltweit sehr stark im Naturschutz. Wir hingegen sagen, mit Naturschutz allein rettet man die Welt nicht. In unserem System-Ansatz ist es zentral, Menschen und Wirtschaft einzubeziehen. Auch wenn Wyss unseren Zugang kritisch sieht: Wenn wir Wirkung erzielen, ist er dabei. Das bedeutet für ihn Innovation.

Und? Ist Hansjörg Wyss weiterhin dabei?

Messerli: Wir haben die Evaluation für die erste Hälfte der 10-Jahres-Phase abgeschlossen. Das Ergebnis ist glücklicherweise klar. Hansjörg Wyss ist auch in den nächsten fünf Jahren dabei. Einzelheiten hierzu werden wir gerne in Kürze gemeinsam mit der Direktion für Wirtschaft, Energie und Umwelt des Kantons Bern bekanntgeben.

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Die Gebiete sollen wieder grüner werden – und bleiben. Messerli glaubt an solche Erfolgsgeschichten. (Bild: Danielle Liniger)

Und was passiert nach 2030?

Messerli: Die längerfristige Zukunft der Wyss Academy wird von unserer nächsten Evaluation im Jahr 2028 abhängen. Ich hoffe, dass wir genügend Erfolgsgeschichten zu erzählen haben und die Wyss Foundation ihr Engagement verlängert. Aber ich bin auch sonst zuversichtlich: Ich glaube schon, dass es philantropisches Kapital gibt, das einen guten und glaubwürdigen Zweck sucht.

Sie, Herr Messerli, verausgaben sich dafür, punktuell die Nachhaltigkeit zu verbessern. Aber im grossen Bild dominieren die Krisen: Klimaerwärmung, Kriege, Biodiversitätsrückgang.

Messerli: Es gibt sehr viele Gründe, besorgt oder sogar alarmiert zu sein. Mich beschäftigt, wie stark die Demokratie in Bedrängnis gerät, aber auch, wie wenig faktenbasiert öffentliche Debatten oft geführt werden. Aber wir haben eine Verpflichtung: Glaubwürdige Wege aufzuzeigen, wie Verbesserungen doch möglich sind.

Gibt es sie?

Messerli: Sicher. Täglich kommen weltweit ungefähr 100’000 Menschen aus der Armut, seit 1990 ist die Armutsquote von 37 auf 9 Prozent gesunken. In der Stromproduktion ist die Solarkraft auf unaufhaltsamem Vormarsch. China baut im grossen Stil Solarpanels , die USA ebenfalls, das ist ein Business, dem kann auch der Bremsfaktor Trump nichts anhaben. Und: Die Kindersterblichkeit ist so stark gesunken, dass heute weltweit im Schnitt noch 2,3 Kinder pro Frau geboren werden. Das heisst: Das Wachstum der Weltbevölkerung ist gebremst. Längst nicht alles ist gut. Aber ja, Erfolgsgeschichten, es gibt sie.  

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Diskussion

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Ruedi Muggli
01. Februar 2025 um 09:29

Solche Geschichten tun gut - besser als immer über Trump und AfD zu reden !