Jazz-Land-Graben

Kulturort Zollikofen? Das eigenwillige Veranstaltungskollektiv Zollyphon will die Agglo-Gemeinde dafür erwärmen. Weit draussen, fast in der Wildnis.

Nicolai Wenger, Mitinitiant der Kulturveranstalter Zollyphon im Interview mit dem Online-Medium Hauptsadt, in Zollikofen  am 01.09.23
Ort für Experimente und Herzensprojekte: Nicolai Wenger im Zollyphon-Keller. (Bild: Daniel Bürgin)

Zollikofen ist für viele die Bernstrasse, auf der 20’000 Autos täglich verkehren, darum herum ein Siedlungsteppich, der in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich ausgerollt wurde. Zollikofen sei «gut, praktisch, anständig und funktional», sagte Gemeindepräsident Daniel Bichsel vor einem Jahr im «Hauptstadt»-Porträt. Aber einen zentralen Treffpunkt hat das nüchterne Zollikofen nicht.

Aber es gab und gibt auch ein anderes, weniger unterkühltes Zollikofen. Im Graben, einer Senke am Chräbsbach unweit des Riedernwaldes in Zollikofens Westen, ging einst die Post ab.

Rösti und Musig-Stubeten

Im 17. Jahrhundert vibrierte hier Zollikofens erstes Gewerbegebiet, weil mit dem Wasser Energie bereitstand, mit der eine Mühle und eine Gerberei betrieben wurde. Bald kam ein Wirtshaus hinzu, die spätere Grabe-Pinte. Sie wurde zum ländlichen Stammlokal für viele Zollikofer*innen, die der Verstädterung misstrauten. Bis 1998 gab es Rösti und Kalbsleberli und Musig-Stubeten. Danach verkaufte der Besitzer die Beiz. 

Ein Künstler*innenpaar zog ins denkmalgeschützte Haus und betrieb im Gewölbekeller eine Galerie. Genau dieser Gewölbekeller tat es Nicolai Wenger 2019 besonders an, als er das Haus erstmals besichtigte.

Nicolai Wenger, Mitinitiant der Kulturveranstalter Zollyphon im Interview mit dem Online-Medium Hauptsadt, in Zollikofen  am 01.09.23
Das andere Zollikofen: der Graben, links mit weissem Erdgeschoss das Zollyphon-Haus. (Bild: Daniel Bürgin )

Jetzt sinkt Wenger in ein abgewetztes Ledersofa, das direkt an der Strasse vor dem ehemaligen Wirtshaus steht. Die 12-köpfige Wohngemeinschaft, der er angehört, hat das Haus als Genossenschaft vor vier Jahren gekauft. Aus dem Gewölbekeller ist das geworden, was Wenger beim ersten Anblick durch den Kopf geschossen war: Ein kleiner, feiner Konzertraum mit angedockter Bar. Abgelegen und unangepasst. Die WG nannte ihn Zollyphon und veranstaltet dort zwischen September und Mai einmal monatlich ein Konzert.

Nicolai Wenger, hauptberuflich Lehrer, vertritt das Kollektiv Zollyphon gegen aussen. Wie die ganze Zollyphon-Crew bringt er langjährige Erfahrung als Veranstalter mit, von Konzerten in der Orangerie Münsingen und von Festivals wie dem Solestage auf der Schützenmatte und dem Boui-Boui in Brenzikofen bei Oberdiessbach im Emmental.

Nicolai Wenger, Mitinitiant der Kulturveranstalter Zollyphon im Interview mit dem Online-Medium Hauptsadt, in Zollikofen  am 01.09.23
Hauseigene Verköstigung der Künstler*innen als Markenzeichen: Zollyphon-Booker Nicolai Wenger. (Bild: Daniel Bürgin)

Zollyphon ist ein kollektiver Effort der ganzen WG in der Ex-Pinte im Graben. Wenger besorgt zusammen mit dem Filmschaffenden und Musiker Joder von Rotz das Booking. Vor den Konzerten sind fast alle Bewohner*innen involviert. Die auftretenden Künstler*innen werden aus der WG-Küche verköstigt. Das wurde schnell zum Markenzeichen von Zollyphon und machte den Konzertort unter Künstler*innen offenbar beliebt: Für das Programm der dritten Zollyphon-Saison, die heute beginnt, habe er keine einzige Absage von Künstler*innen erhalten, sagt Nicolai Wenger.

Profis mit Herzensprojekten

Das WG-Kollektiv investiere viel ehrenamtliche Arbeit in Zollyphon, um bei knappem Budget den eigenen Qualitätsanspruch mit dem Auszahlen einer Gage einlösen zu können: «In unseren Gewölbekeller bringen wir ausschliesslich Profis, also Menschen, die von ihrer Musik leben», sagt Wenger, «die Crème de la Crème des musikalischen Untergrunds von Bern und darüber hinaus.» Die stilistische Klammer: Verwurzelung im Jazz. Er frage die Künstler*innen stets nach ihren aktuellen Herzensprojekten. «Darin steckt viel Liebe. Diesen Projekten geben wir bei Zollyphon eine Bühne», sagt Wenger.

Nicolai Wenger, Mitinitiant der Kulturveranstalter Zollyphon im Interview mit dem Online-Medium Hauptsadt, in Zollikofen  am 01.09.23
Denkmalgeschützte Landliebe mit Offenheit für jazzige Experimente. (Bild: Daniel Bürgin )

Das ist für Nicolai Wenger die kulturelle Bereicherung, für die ein peripherer Veranstalter wie Zollyphon sorgen könne: Wer als Besucher*in in den Graben von Zollikofen an ein Konzert fahre, verzichte darauf, sich einfach durch das städtische Kulturangebot treiben zu lassen, sondern fälle einen bewussten Entscheid: «So, als würde man eine Vinyl-Platte in die Hand nehmen und sich nicht einfach durch eine Spotify-Playlist durchhören.»

Das spüre man im Konzertkeller: «Die Besucher*innen sind aufmerksam und schwatzen nicht herum, wie das sonst bei vielen Konzerten üblich ist.» So entstehe eine konzentrierte, intensive Atmosphäre, die Künstler*innen und Besucher*innen schätzten. «Für uns macht es deshalb sehr viel Sinn, genau hier in der kulturellen Wüste von Zollikofen mit experimenteller Musik aktiv zu sein. Und zu bleiben», sagt Nicolai Wenger.

Stadt Bern zahlt mit

Der kommerzielle Druck sei weniger gross, allerdings bleibt auch das Publikum überschaubar. Zollyphon hat schon Konzerte vor sieben Zuschauer*innen durchgeführt. Kommen 35 Leute, fühle sich der Konzertkeller gut gefüllt an, sagt Wenger. Finanziell wird Zollyphon unter anderen von der Gemeinde Zollikofen und der Burgergemeinde Bern unterstützt. Und erstaunlicherweise auch von der Stadt Bern.

Nicolai Wenger, Mitinitiant der Kulturveranstalter Zollyphon im Interview mit dem Online-Medium Hauptsadt, in Zollikofen  am 01.09.23
Bereicherung für Bern: Via Diavolo in Zollikofen. (Bild: Daniel Bürgin )

Lukas Iselin, selber Musiker und Fachspezialist Musik bei Kultur Stadt Bern, führt auf Anfrage aus, unterstützte Projekte hätten «einen genügenden Bezug zur Stadt Bern» aufzuweisen. Dieser müsse jedoch nicht zwingend durch den Veranstaltungsort begründet sein. Er könne auch durch die beteiligten Personen hergestellt werden.

Bei Zollyphon träten fast ausschliesslich Künstler*innen aus der Stadt Bern auf, so Iselin. Zudem habe es die städtische Musikkommission als sehr positiv bewertet, dass Zollyphon «ein derart spannendes Programm» in Zollikofen durchführe und damit wohl ein überwiegend Bern-orientiertes Publikum anspreche. Die Stadt findet toll, was Zollyphon in Zollikofen für ganz Bern veranstaltet.

Ausgerechnet der Jazz im Zollikofer Graben scheint zu zeigen, wie nah sich Stadt und Agglomeration sein könnten.

Saisoneröffnung 23/24 bei Zollyphon: Heute Freitag Abend, 8. September, 20.30 Uhr, Fitzgerald&Rimini mit Ariane von Graffenried und Robert Aeberhard. Eintritt frei, Richtpreis 20 Franken.  

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Diskussion

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Michael Bonanomi
10. September 2023 um 15:51

Diesen Ort kann ich nur dringend empfehlen. Ich werde mir am 22. September Schrödingers Katze reinziehen.

Manuel Friedli
08. September 2023 um 20:31

Super, dieser Artikel! Da werde ich auf etwas aufmerksam gemacht, das ich noch nicht kannte, wo ich aber wohl sehr gerne mal ein Konzert besuchen werde! Vielen Dank