Echos Höhle
Unsere Literatur-Kolumnistin besucht die Aareschlucht. Und begegnet über dem türkisfarbenen Fluss der Nymphe Echo, die plötzlich wieder selber spricht.
Die Aareschlucht ist kalt und ruhig. Licht fällt durch den Felsen, zeichnet eine schlangenförmige Linie auf den Fluss. Zwei auseinandergezogene Felswände schliessen sich, bilden den Eingang zu einer Höhle.
Ich lege meine Hand auf den Stein. Seine Kanten sind scharf. Er tropft, als würde er schmelzen, nur dass kein Sonnenlicht ihn berührt.
Ist jemand hier?, rufe ich, wie Narziss rief, als die Nymphe Echo ihm in einem Wald begegnete. Hier, hier, ruft Echo aus der Höhle zurück. Ich drehe meinen Kopf. Komm! Echo wandert in der Höhle umher, wiederholt meine Worte.
Ich trete aus der Höhle. Helles Licht schlägt an der Felswand auf, zerbricht. Dann trifft ein Strahl auf die von Dunkelheit umschlossene Wasseroberfläche, durchdringt den Fluss zum Grund.
Echos Drang nach Ausdruck beschreibt die Dichterin Anne Carson als haunting garrulity; sie verfolgende Geschwätzigkeit. Sophokles nannte die Nymphe Mädchen ohne Türe vor dem Mund*.
Echos ungefiltertes Bedürfnis, sich zu äussern, führte Zeus dazu, ihr den Auftrag zu verleihen, seine Frau zu unterhalten, während dieser sie betrog. Als Hera herausfand, was Echo getan hatte, verfluchte sie die Nymphe, sodass Echo ihrer eigenen Sprache beraubt war, fähig nur noch, die letzten Worte ihres Gegenübers zu wiederholen.
Als Echo Narziss in einem Wald begegnete, um ihm zu sagen, dass sie ihn liebte, wies er sie zurück, woraufhin Echo sich in eine Höhle zurückzog und ihr Körper zu Stein wurde. Nur ihre Stimme blieb übrig und antwortet bis heute aus hohlen Räumen, die letzten in sie gerufenen Worte wiederholend.
Ich gehe durch die Höhle, dem abgebrochenen Felsen entlang der Schlucht. Nach innen gewendet liegt Echos Ausdruck, ihr Körper im Stein. Türen vor weiblichen Mündern zu verschliessen war ein wichtiges Vorhaben patriarchaler Kulturen von der Antike bis zum heutigen Tag, schreibt Carson.
Betrachte ich den Fluss, denke ich an Echos Sprache. Von seiner Unbeirrtheit war der Ausdruck der Nymphe, deren Worte Schlange stehen hinter ihren Lippen, dem Gegenüber obliegen in ihrem Mund.
Die Sonne fällt flacher auf den Fluss. Beständig höhlen seine Berührungen den Stein, bilden die Bucht, in der er zum Stehen kommt.
Eine Zeile steht eingeritzt am Ende der Schlucht. Ich lese: inversion of the monolith. Und denke: Die Umkehrung des Monolithen bedeutet, dass Echo endlich wieder spricht.
Ich kehre ihre zu Stein gewordenen Worte, übergebe sie dem Fluss, wie der Fluss sich seinem Ausdruck übergibt.
Die veränderte Dichte des Flusses verwandelt sein Wasser in türkisfarbene Milch.
Die Aare fliesst an mir vorbei, entzieht sich meiner Analogie. An ihren Rändern stehen Bäume wie Streichhölzer in grosser Entfernung. Ich trete aus der Schlucht. Sonnenlicht fällt auf den breiter werdenden Fluss. Er blitzt auf, wirft es zurück.
*Anne Carson, gender of sound
Selma Imhof (27) lebt und schreibt in Bern. Aktuell arbeitet sie an ihrem literarischen Debut «Wasser, Taube», das von Stadt und Kanton Bern gefördert wird. Für die «Hauptstadt» schreibt sie einmal im Monat eine literarische Kolumne zur Aare.