Kleine Risse in die Luft
Unsere Literatur-Kolumnistin lauscht den Tönen der Natur. Spürt an der Aare dem Wind nach. Und beobachtet, was er mit ihr macht.
Ich schlafe nicht ein. Die Nacht umschliesst nur meinen Körper. Vor meinem Fenster reisst eine Krähe kleine Risse in die Luft. Sie punktiert die Stille, die sich in meinem Zimmer ausgebreitet hat.
Der Ruf sitzt tief in ihrer Brust. Er ist eine Klage dem langen Weg der Kehle entlang. Ich liege in meinem Zimmer und wache nicht auf. Die Nacht verlässt nur meinen Körper. Sie ragt durch mich in den Tag.
Auf der Dachrinne gegenüber geht die Krähe hin und her. Ihre schwarzen Federn leuchten.
Als ich vor die Tür trete, schlägt sie die Gasse dreimal, dann ist es still.
Der Ruf der Krähe gehört zum Ufer wie die Reflektion der Sonne auf den Fluss. Ich höre sie nicht, wie ich das Geräusch sich bewegenden Wassers nicht höre und atme, ohne dass ich denke.
Aber höre ich, tritt der Gruss der Waldtaube in fünf Klängen aus den Bäumen auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses hervor.
Der erste ist ein Anlauf, der zweite heiser, weil es schmerzt, sich zu verlauten. Auf dem dritten landet sie, stösst sich ab zum vierten, den sie in gleicher Länge wie den fünften zu seinem Ende hin punktiert.
Höre ich weiter, unterscheide ich ihren Gruss von anderen Rufen. Einer klingt, als löse er sich aus Versehen. Einer schaukelt auf zwei Tönen hin und her. Einer springt von eins bis drei, kehrt rückwärts zurück zum ersten Ton.
Sie verweben sich miteinander, breiten einen Teppich aus. Dann zerfallen sie wieder zu einem Geräusch und ich kann sie nicht mehr unterscheiden.
Die mit Lauten angefüllte Luft ergiesst sich über den Fluss. Schiebt die Wasseroberfläche zurück, legt eine zweite Oberfläche frei. Dort erscheinen Wellen, gegen die der Wind sich lehnt.
Der Wind nimmt die Wellen auseinander und setzt sie neu zusammen. Sie sind Nähte, die er auftrennt und zueinander führt wie er will.
Nur dass er die Luft rückt, unterscheidet ihn von der Luft. Und dass er die Luft öffnet, sodass sie ihren Geruch freigibt.
Er hebt jedes meiner Haare einzeln an. Lehnt sich an die rechte Hälfte meines Gesichts.
Dann wäscht er mich, wie er die Landschaft wäscht. Wühlt sich durch die Wasseroberfläche, die Baumkronen, mein Haar. Biegt die Bäume, bis sie rauschen.
Und obwohl es wirkt, als wäre die Berührung nicht geschehen, hat er auch mich, als ich das Ufer verlasse, auseinandergenommen und neu zusammengesetzt wie er wollte.
Selma Imhof (27) lebt und schreibt in Bern. Aktuell arbeitet sie an ihrem literarischen Debut «Wasser, Taube», das von Stadt und Kanton Bern gefördert wird. Für die «Hauptstadt» schreibt sie einmal im Monat eine literarische Kolumne zur Aare.