Alle schauen weg

Die Berner Autorin Sarah Elena Müller hat mit «Bild ohne Mädchen» einen starken und beklemmenden Roman über Kindsmissbrauch geschrieben.

Illustration Kulturkritik
(Bild: Jörg Kühni)

Was bleibt, ist das Gefühl, dass es alle rundherum bemerkt haben müssten. Dass doch jemand etwas dagegen unternommen haben sollte. Die Eltern, kunstaffin, gebildet, weltoffen. Die Partnerin des Täters, die immer gerade im entscheidenden Moment nicht da war oder weggeschaut hat. Die Nachbarin, die das Kind einlädt, lieber bei ihr fernzusehen, dann aber nicht darauf beharrt.

Doch niemand tut etwas. Und so geht das Kind, das später als Mädchen, Tochter und junge Frau bezeichnet wird, aber nie einen Namen hat, weiterhin zum exzentrischen Nachbarn Ege, um vor dem Bildschirm zu sitzen, den es im elterlichen Haus nicht gibt. Was im dunklen Raum genau geschieht, schildert die Wahlbernerin Sarah Elena Müller in ihrem Romandebüt «Bild ohne Mädchen» nicht ausführlich. Das muss sie auch nicht, denn man kann es sich vorstellen.

Ege ist ein Berliner Medientheoretiker, der sich mit seiner Freundin Gisela in ein Dorf in den Schweizer Bergen zurückgezogen hat, wo er nun dem Alkohol zuspricht und Filme dreht, die niemand sehen will. Ein Linker, der im Dorf unverstanden ist, den nicht einmal seine Freundin mehr richtig versteht, und den das Kind häufig am Nachmittag besucht. Dass es, wie schon früher Eges Sohn aus Berlin, in den Filmen mitspielt, dass Gisela manche Filme sogar dreht, das alles interessiert ihr Umfeld nicht.

Keine Erklärungen

Es ist ein verstörender Stoff, den sich Sarah Elena Müller vorgenommen hat. Die 32-Jährige ist künstlerisch vielseitig und hat in den letzten Jahren von Musikprojekten («Cruise Ship Misery») über launige Mundarttexte («Culturestress») bis zu Projekten mit virtueller Realität («Meine Sprache und ich») schon eine breite Palette bearbeitet. Parallel dazu hat Müller schon lange an diesem Debüt gearbeitet, sieben Jahre waren es insgesamt.

Das 200-seitige Werk ist dicht, nahe am Kind, aus einer kindlichen Perspektive geschrieben, aber als Leser*in weiss man doch immer etwas mehr als das Kind. Die Autorin moralisiert nicht, wertet nicht, sie schildert nur, was das Kind tut (Bett nässen und nicht sprechen), was die nicht in das bäuerliche Umfeld passenden Eltern tun (sich für Biodiversität einsetzen, an Skulpturen arbeiten, zu einem Heiler gehen). Erklärungen müssen die Leser*innen schon selber suchen und finden.

Überlegte Unaufgeregtheit

Das Buch spielt in einem künstlerisch-linken Umfeld, auch aufgeklärt durch die sexuelle Revolution von 1968. Ein Umfeld, in dem man Missbrauch nicht zuerst vermutet. Die behutsame und präzise Sprache, die überlegte Unaufgeregtheit dieses Romans setzen sich wohltuend von der Art ab, wie solche Themen normalerweise in Gesellschaft und Medien verhandelt werden. Es liest sich trotz – oder vielleicht wegen – der knappen Sprache leicht, auch wenn das, was da steht, nicht immer leicht zu verdauen ist.

Das Kind kommt durch diese Zeit, indem es sich einen Engel erfindet, der immer wieder bei ihm ist, ihm Mut macht und ihm die Gewissheit gibt, dass es nicht alles einfach nur erfunden hat. Ein kleiner Trost, wenn schon sonst niemand hinschaut.

Sarah Elena Müller: «Bild ohne Mädchen», Limmat-Verlag, 200 Seiten. Buchvernissage: Di, 14.2., 20 Uhr, Buchhandlung Stauffacher.

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