Aufbauanleitung für einen Findling
Vor 15 Jahren kaufte der Kanton für seine Sammlung ein drei Meter hohes Kunstwerk. Doch niemand wusste, wie man es aufstellt. Studierende der Hochschule der Künste haben es nun geschafft.
Das Kunstwerk ist nicht zu übersehen. Die über drei Meter hohe Installation «Halber Findling (Martin)»* steht in einem Atelier der Hochschule der Künste Bern (HKB) an der Fellerstrasse in Bümpliz. Sie besteht aber nicht aus Stein. Sondern aus einer Aussenschale mit grossen, dunklen Holzbrettern und einer Innenkonstruktion – helle Holzlatten, welche die Aussenschale zusammenhalten.
Der Künstler Reto Steiner hatte das Kunstwerk im Jahr 2010 für die Weihnachtsausstellung im Kunstmuseum Thun an Ort und Stelle konzipiert und aufgebaut. «Er schuf einen Kontrast, indem er das rustikale Holzwerk in einem Raum mit weissen Wänden und Parkettboden aufgebaut hat», sagt Janik Studer. Er studiert Konservierung und Restaurierung an der HKB und hat gemeinsam mit weiteren Studierenden im Rahmen eines Atelierprojekts das Werk erstmals seit 2010 wieder aufgebaut.
Fehlende Aufbauanleitung
Davor lagen die rund 500 Einzelteile, vor allem Holzplatten und Dachlatten, jahrelang im Depot der Kunstsammlung Kanton Bern. Die kantonale Kunstkommission hatte das Werk anlässlich der Weihnachtsausstellung im Kunstmuseum Thun entdeckt, worauf es für 12'000 Franken gekauft und in die Kunstsammlung aufgenommen wurde. Reto Steiner sei nicht davon ausgegangen, dass er den halben Findling verkaufen könne, sagt Martina Pfenninger Lepage. Deshalb habe er keine präzise Aufbauanleitung erstellt. Pfenniger ist Dozentin im Fachbereich Konservierung und Restaurierung und Co-Leiterin der Vertiefung moderne Materialien und Medien, wo man sich mit der Erhaltung von zeitgenössischen Kunstwerken beschäftigt. «Vermutlich hätte der Künstler den halben Findling abgebaut und das Material wiederverwendet, um ein neues Werk zu kreieren.»
Es kam anders. Zum damaligen Ankauf sagt Kathrin Hofmann, Sammlungsverantwortliche der Kunstsammlung des Kantons Bern: «Ich glaube, damals wurde einfach nicht genug weit vorausgeschaut». So gut es ging, habe man zwar noch von der fertigen Installation detaillierte Fotos gemacht, eine Anleitung zum Aufbau des Findlings fehlte aber. Eine solche würde man heute verlangen, sagt Hofmann. Man habe aus früheren Erfahrungen gelernt. Kathrin Hofmann ergänzt: «Im Nachhinein eine solche Anleitung zu erstellen, ist sehr schwierig». So kam die Hochschule der Künste Bern ins Spiel.
Die Kunstsammlung des Kantons Bern und der Fachbereich Konservierung und Restaurierung der HKB stehen ohnehin in regelmässigem Austausch. Dabei geht es oft um Projekte, in denen sich die Studierenden einer Thematik widmen, zum Beispiel der richtigen Lagerung oder der Restaurierung von Werken. Kathrin Hofmann hat den «Halben Findling (Martin)» als Studienobjekt vorgeschlagen. Er sei schon länger auf der Liste möglicher Atelierprojekte gestanden. Ein Vorteil dieser Zusammenarbeit: «Im Studium kann man sich mit Fragestellungen, die nicht einfach zu beantworten sind, länger beschäftigen», sagt Hofmann.
Während fast einem Jahr haben die Studierenden unter Betreuung ihrer Dozentin den «Halben Findling (Martin)» wieder aufgebaut und gleichzeitig eine Aufbauanleitung erstellt. «Hätte man für diesen Aufwand professionelle Restaurator*innen engagiert, wären die Kosten nicht zu rechtfertigen gewesen», sagt Kathrin Hofmann.
Wiederaufbau aus den Einzelteilen
Also wurden vor einem Jahr die 55 Holzsegmente der Aussenschale, 120 Holzlatten und 300 Schrauben der HKB übergeben. Zunächst ohne zu wissen, ob die Bestandteile vollständig sind und wie man sie genau zusammenbauen soll. Martina Pfenninger Lepage beschreibt die Lage folgendermassen: «Ohne das Wissen darüber, wie ein installatives Kunstwerk aufgebaut werden soll, kann dieses nicht gezeigt werden.» Die Situation sei vergleichbar mit Ikea-Möbeln. Wenn die Anleitung fehlt, könne man sie nicht zusammenstellen und nutzen.
Die drei beteiligten Master-Studierenden mit Vertiefung Moderne Materialien und Medien (siehe Infobox) hatten die Aufgabe, das Werk originalgetreu nachzubauen. Dabei mussten sie sehr genau vorgehen. Janik Studer sagt: «Wir haben versucht, das Werk Holzlatte für Holzlatte zu rekonstruieren. Die Form ist sehr komplex, deswegen summieren sich schon kleine Ungenauigkeiten schnell auf.» Durch Ausprobieren konnten sie mit der Zeit herausfinden, welches Stück wo hingehört.
«Es ist eher ein empirisches Experiment, bei dem man sich Schritt für Schritt vortastet, oder manchmal sogar zwei Schritte vor und einen zurück», erzählt Dozentin Martina Pfenninger Lepage. Durch Auf- und Abbau sollten möglichst wenig bleibende Spuren entstehen. «Jeder Nagel, der reingeht und wieder rauskommt, hinterlässt Spuren», sagt Janik Studer. «Um das zu vermeiden, haben wir nach kreativen Lösungen gesucht.» So haben sie gewisse Holzstücke zusammengesteckt, mit Nylonfaden festgebunden oder Methylcellulose – wasserlöslichen Klebstoff – verwendet.
Die HKB betreibt an der Fellerstrasse in Bümpliz-Nord einen Standort. Hier ist die Vertiefung «Moderne Materialien und Medien (MMM)» beheimatet, welche zum Fachbereich «Konservierung und Restaurierung» gehört. Als die Spezialisierung MMM 1999 gegründet wurde, war sie die erste weltweit, die sich auf die Konservierung und Restaurierung von zeitgenössischer Kunst und Medien spezialisierte. Um geeignete Erhaltungsstrategien für Kunstwerke zu finden, beschäftigt man sich intensiv mit den einzelnen Künstler*innen und dem Konzept, welches einem Kunstwerk zugrunde liegt. Dabei spielt auch die Art und Weise, wie ein Kunstwerk erschaffen wurde und was der Kontext der Entstehung ist eine Rolle. Diese ist von Künstler*in zu Künstler*in sehr unterschiedlich. Auch die verwendeten Technologien und Materialien weisen eine grosse Vielfalt auf.
Beispielhafte Fragen, die sich die Restaurator*innen stellen: Wie konserviert man Virtual-Reality-Kunstwerke? Wie können spröde gewordene Werke aus Latex erhalten und gleichzeitig ausgestellt werden? Die Restaurator*innen werden aber nicht erst aktiv, sobald etwas kaputt geht. Vielmehr beteiligen sie sich bereits bei Ankäufen durch Kunstsammlungen, um frühzeitig Informationen über Künstler*innen zu erhalten und den Kontext der Entstehung sowie Wünsche zur Erhaltung eines Kunstwerks zu dokumentieren.
Wenn man es mit zeitgenössischen Kunstwerken zu tun hat, kann man bei vielen Fragestellungen oft noch die Künstler*innen miteinbeziehen. Für die am Projekt beteiligte Studentin Sophie Berger war das hilfreich: «Das Interview mit dem Künstler hat mir das Werk noch einmal viel näher gebracht.» Durch die Gespräche sei ihr klar geworden, dass besonders die Aussenwirkung wichtig sei: Dass der halbe Findling als einheitliches Massiv erscheine. Die Innenkonstruktion erlaube dabei eine gewisse Variabilität. Der Wiederaufbau der Studierenden ist auch in dieser Hinsicht geglückt. Die 2025er-Installation habe die Zustimmung des Künstlers Reto Steiner erhalten, sagt Sophie Berger.
Und jetzt?
Vom ganzen Prozess gibt es nun viele Daten. Neben einer Schritt-für-Schritt-Anleitung für den Aufbau wurden unter anderem auch Zeitrafferaufnahmen und Tagebucheinträge vom Aufbau, Fotos, eine Excel-Tabelle mit einer detaillierten Inventarliste sowie 360-Grad-Panoramaaufnahmen erstellt. So kann man sich, ähnlich wie bei Google Street, bildlich ins Werk hineinversetzen. Nicht alles wird schlussendlich auf dem Server der kantonalen Kunstsammlung landen. «Im Zentrum steht für uns, was uns bei einem weiteren Aufbau des Werks dienen wird», sagt Kathrin Hofmann. Gerade weil Videos viel Speicherplatz benötigen, gilt: Weniger ist manchmal mehr.
Die kantonale Kunstsammlung umfasst über 6’000 Werke. Der Kanton erweitert seine Sammlung primär mit Ankäufen an der Jahresausstellung «Cantonale Bern Jura» (bis 2010 Weihnachtsausstellung) oder in Ateliers, immer von lebenden Künstler*innen und keine Nachlässe. Ihre drei Hauptaufgaben sind das Fördern, Vermitteln und Dokumentieren regionaler Kunst. Rund ein Drittel der Werke ist in Verwaltungsgebäuden des Kantons Bern ausgestellt. Öffentliche Institutionen wie Museen oder Verwaltungsgebäude und kantonale Angestellte haben die Möglichkeit, diese Kunstwerke auszuleihen. In der Online-Sammlung wurden etwa 4’000 Werke zugänglich gemacht.
Das Aufbau-Vorhaben ist also geglückt. Kathrin Hofmann sagt dazu: «Besser wird es nur noch, wenn wir es irgendwann einmal platzieren könnten.» Nur, wo?
Das Kunstwerk ist schwierig zu vermitteln. In den 15 Jahren seit dem Ankauf durch die kantonale Kunstsammlung gab es keine einzige Anfrage. Nachdem die Studierenden der HKB viel Arbeitszeit investiert haben, könnte das Kunstwerk nun relativ einfach und zeitsparend aufgebaut werden. Deswegen ist die Hoffnung nun gross, dass es jemand in Zukunft ausleihen und aufstellen möchte. In Frage kommen hier kantonale Ämter und Institutionen. Sie können die Kunstwerke für öffentliche Gebäude und Büros ausleihen. Der «Halbe Findling (Martin)» sei wegen der Grösse dafür prädestiniert, in einem grossen Eingangsbereich aufgestellt zu werden. Kathrin Hofmann ergänzt: «Davon gibt es in der kantonalen Verwaltung nicht wahnsinnig viele.» Und wenn stellen sich auch noch praktische Fragen: «Oft gibt es feuerpolizeiliche Vorschriften, welche die Präsentation in solchen Durchgangsbereichen zusätzlich erschweren.»
Zunächst bauen die HKB-Studierenden das Drei-Meter-Kunstwerk wieder ab. Sie werden dabei auch entscheiden müssen, wie man die Holzelemente geschickt in den Boxen verstaut, damit dann auch ein rascher Aufbau gemäss der Anleitung möglich ist. Danach wird das Kunstwerk vorerst wieder im Depot der kantonalen Kunstsammlung gelagert.
*«Halber Findling (Martin)» 2010, von Reto Steiner, Kunstsammlung Kanton Bern