Die versteckte Kunst
Die städtische Kunstsammlung: Niemand weiss, wo sie sich befindet. Dabei stehen in einem Depot beim Wankdorf um die 2000 Werke, die der Stadt gehören. Ein Besuch.
An einem sonnigen Märztag wartet Kristina Herbst an einer Busstation im Wylerquartier und führt uns unter die Erde, wo sich die Kunst Berns befindet. Sie arbeitet seit letztem Oktober als Restauratorin der Städtischen Kunstsammlung, deren genaue Adresse nirgends offiziell zu finden ist. «Aus Sicherheitsgründen», sagt Herbst.
Sie schliesst die Türe hinter sich und das Kindergeschrei verstummt. Der Geruch nach Neu und das kalte, helle Licht vermitteln das Gefühl, in einer ausgeleuchteten Lagerhalle zu sein. Um die Kunstwerke zu schützen, fällt kein Tageslicht hinein. Diese, einmal bunt, einmal weniger, stehen in Regalen und hängen an aufziehbaren Schranktüren. Pinsel, Wasserfarben und Klebestreifen sind im ganzen Depot verteilt. Ein kurzer Spaziergang durch die Sammlung enthüllt Landschaften mit fein gemalten Birken und Schwarzweiss-Fotografien von einem kleinen Jungen, moderne Illustrationen und knallrote Stühle. Es scheint alles hier zu geben.
Das ist auch die Idee der Sammlung. «Von Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute – die Sammlung soll die Entwicklung der Kunstszene in Bern zeigen», erzählt Kristina Herbst. Trotzdem bleibt dieser Ort, in der Kunst floriert, vielen Menschen verschlossen.
Es gibt weder öffentliche Führungen noch ein digitales Werkverzeichnis. Zu Gesicht bekommen die Kunstwerke nur die wenigen, die hier arbeiten oder jene, die hierherkommen, um etwas auszuleihen. Eine Ausnahme also, dass wir hier sind.
Als Privatpersonen dürfen wir aber keine Kunst ausleihen. Das ist den städtischen Angestellten vorbehalten. In deren Büros hängen Landschaftsmalereien und moderne Illustrationen an der Wand. Auch in öffentlichen Gebäuden wie Schulen und Museen können Werke aus der Sammlung betrachtet werden.
Als die Kunstsammlung 2016 vom anderen Ende der Stadt ins Wankdorf umzog, fand eine erneute Bestandsaufnahme statt. Seither sind alle städtischen Kunstwerke in einer Datenbank zu finden.
Und in letzter Zeit wird auch aktiv etwas gegen die Verstaubung unternommen. Seit rund zehn Jahren bietet die Sammlung professionelle Dienstleistungen für Transport und Hängung an. Franziska Burkhardt, Leiterin von Kultur Stadt Bern und Kristina Herbsts Vorgesetzte, weiss «Fast die Hälfte der Werke der städtischen Kunstsammlung ist im Umlauf. Das ist für eine Sammlung eine enorm hohe Quote.»
Die Frage nach dem Wert
Jetzt ist alles aufgeräumt, angeschrieben und geordnet. In grossen, aufziehbaren Schränken hängen Jahrzehnte voller Berner Kunst. Ein Gemälde einer nackten Frau findet sich neben einer Micky-Maus Illustration. Links davon hängt neben einer dunklen Pflanzen-Fotografie das wohl wertvollste Gemälde der Sammlung: «Blaue Hortensien» von Augusto Giacometti.
Momentan steht es noch im Depot. Doch schon bald werden die blauen Blumen abgeholt für eine Ausstellung in Aarau. Über den genauen Wert des Gemäldes von 1946 möchte sich Kristina Herbst nicht äussern. Dass es eines der wertvollsten ist, das hier hängt, spielt für die Restauratorin keine Rolle: «Ich weiss, die Wertfrage interessiert immer alle am meisten. Aber in meinem Beruf macht es keinen Unterschied, ob ich ein Gemälde mit einem Wert von hundert Franken oder eines im Wert von fünfzigtausend Franken restauriere. Die Arbeit ist dieselbe»
Seit der Entstehung der Sammlung haben sich im Depot viele Kunstwerke angestaut. Um die 4200 Werke sind in der internen Datenbank verzeichnet. Etwa 2000 davon hängen in Büros und öffentlich zugänglichen Räumen. Und hundert weitere sind als Dauerleihgabe im Kunstmuseum Bern.
Doch wer entscheidet, welche Werke in die Sammlung aufgenommen werden? Zuständig dafür ist die städtische Kunstkommission. Sie zählt zum heutigen Zeitpunkt acht Mitglieder unter ihnen Künstler*innen, Kunsthistoriker*innen und auch Kunstsammler*innen. Ihr Budget, mit dem sie jährlich Kunstwerke von zwei bis drei Künstler*innen kaufen, beläuft sich auf mindestens 20’000 Franken.
Sichtbar machen
Die Sammlung wächst und wächst, doch niemand bekommt sie zu Gesicht. Ein Projekt, das dem entgegenwirkt, gibt es in Aarau: Für eine Gebühr von 20 Franken können sich alle im Kanton lebenden Menschen für ein halbes Jahr ein Kunstwerk aus der städtischen Sammlung aussuchen und es bei sich zuhause aufhängen. Auch in Luzern findet ein Umdenken statt. Und in Bern?
«Die Öffnung städtischer Kunstsammlungen für ein breites Publikum ist grundsätzlich eine schöne demokratische Geste; wir verfolgen solche Versuche mit Interesse», sagt Franziska Burkhardt diplomatisch. Das Aber folgt sogleich: «Eine Öffnung setzt die einzelnen Werke aber auch beträchtlichen Risiken aus, die konservatorisch zu begleiten sind.»
In den letzten Jahren lag der Fokus für die Vermittlung deshalb auf der Kunst im öffentlichen Raum. Geplante Spaziergänge versprechen eine neue Sichtweise auf die Stadt – auch für Menschen, die schon seit vierzig Jahren hier wohnen. In der Rathausgasse, im Rosengarten, vor dem Kirchenfeld Gymnasium, überall steht Berner Kunst. Es sind Brunnenfiguren, Schachbrettmuster und abstrakte Skulpturen, die die Stadt durchweben. Doch auch wenn die Öffentlichkeit ein Stück zu sehen kriegt, fristet die Kunst im Depot am Wankdorf immer noch ein Mauerblümchendasein.
Entsprechend werden die Werke dort sicher aufbewahrt und gut umsorgt. Jeden Tag setzt sich Kristina Herbst an ein neues Werk, studiert es, bessert es aus und bereitet es für den Transport vor. Denn wo Kunst hängt, kann schnell einmal etwas Schaden anrichten – sei dies der Wasserkocher in der Nähe oder die Sonnenstrahlen durchs Fenster.
An diesem Tag arbeitet Herbst an einem Gemälde, das einen riesigen Kaktus zeigt. Es steht mitten im Raum auf einer Staffelei, Pinsel und Farbe stehen daneben bereit. Die Woche zuvor hatte sich die Restauratorin mit der «Fricktreppe» von Ueli Berger beschäftigt. Herbsts Lieblingswerk. Jetzt hängt es in den Räumen des Tiefbauamts.
Herbst ist froh, wenn Kunstwerke das Depot verlassen. «Ich finde die Sammlung wahnsinnig schön, sie braucht sich gar nicht zu verstecken», erwähnt die Restauratorin, während ihr Blick den Raum streift. Zusammen mit der Kunsthistorikerin Ba Berger teilt sie sich die Co-Leitung der Sammlung mit insgesamt 110 Stellenprozenten. Aktuell hat sie gerade ziemlich zu tun: «Fünf neue Anfragen für Ausleihen haben wir alleine diese Woche gekriegt», sagt sie.
Hindernisse
Eigentlich stünde der städtischen Kunstsammlung ein wichtiger Veränderungsschritt bevor: die Digitalisierung. Doch dazu fehlt das vielleicht Wichtigste. Das Geld. Oder, in der Amtssprache von Franziska Burkhardt: «Aktuelle Hindernisse sind die Kosten und personellen Ressourcen; wir müssen dieses Anliegen gegenüber anderen abwägen.»
Darum geht es vorerst nur in Babyschritten vorwärts. Im unterirdischen Depot beim Wankdorf stehen mehrere Fotoapparate bereit. Kristina Herbst zeigt auf die mit Wasserfarbe gemalten Zeichnungen darunter, erklärt, wie diese ausgeleuchtet und fotografiert werden. Doch die digitalen Bilder sind zunächst nur für den internen Gebrauch bestimmt und bis alles fotografiert sei, dauere es. Wann ein öffentlicher digitaler Katalog parat sein könnte, steht deshalb momentan noch in den Sternen.
Nach eineinhalb Stunden unter der Erde dreht sich der Kopf ein wenig. Die frische Luft und der blaue Himmel an diesem Tag lassen den leichten Druck an der Stirn und das grelle Licht der Verwahrungsstätte verschwinden. Kristina Herbst verabschiedet sich und schliesst die Tür zu einem kleinen Berner Geheimnis ab.