Mathilde alleine unterwegs

Mathilde heisst ein automatisiertes Fahrzeug, das ab dem Güterbahnhof auf dem ganzen Stadtgebiet Pakete anliefert. Was zeigt sich nach sieben Monaten Pilotversuch?

Bern, 30. April 2025- Tag der offenen Tür bei Pflanzer-Logistik, Präsentation desAusliefer-Systems mit autonomen Fahrzeug, der der Start-up- Firma LOXO Relations.  © Annette Boutellier
Das Fahrzeug hat laut Hersteller eine hochpräzise Erkennung von Personen und Objekten in einem Sichtfeld von 360 Grad. (Bild: Annette Boutellier)

Ein weisser Kleinbus mit Elektroantrieb steuert auf die Kreuzung Murtenstrasse/Bremgartenstrasse beim Forsthaus zu, fädelt sich auf die Linksabbiegerspur ein und stoppt vor einem Rotlicht. Eine Szene, wie sie sich an Werktagen bestimmt hundertfach an diesem Ort des Pendlerverkehrs abspielt.

Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass dies kein gewöhnlicher Kleinbus ist. Das Dach und die Seiten des Kleinbusses, den seine Schöpfer*innen «Mathilde» getauft haben, sind mit Kameras und Sensoren gespickt. Sie dienen dem Zustellfahrzeug dazu, sich dereinst komplett automatisiert durch die Stadt zu bewegen. Das heisst, es kann selbstständig am Verkehr teilnehmen und eine Strecke von A nach B zurücklegen, ohne dass ein Mensch an Bord sein muss.

Auf den Türen des Fahrzeugs prangt der Schriftzug von Loxo. So heisst das Berner Startup, das die Technologie und Software entwickelt und zusammen mit dem Logistikunternehmen Planzer das Pilotprojekt mit dem automatisierten Bus angestossen hat. Kürzlich informierten beide über den Stand der Dinge.

Der im September gestartete Pilotbetrieb soll zeigen, inwiefern mit Paketen gefüllte Wechselboxen vom Planzer-Standort am Güterbahnhof auf einer vorgegebenen Route zu 14 Umschlagplätzen auf dem ganzen Stadtgebiet geliefert werden können. In Bümpliz, beim Inselspital oder am Helvetiaplatz können Stadtbewohner*innen dem Fahrzeug unter anderem schon begegnet sein. 

Autonomes Fahren – Stand der Dinge und Rückblick:

Die Begriffe automatisiertes und autonomes Fahren werden häufig gleichbedeutend verwendet. Das Bundesamt für Strassen (Astra) spricht vom automatisierten Fahren. In diesem Bereich gab es in den letzten Monaten wichtige Änderungen, die vergleichsweise wenig Beachtung fanden: Die trocken anmutende «Verordnung über das automatisierte Fahren» erlaubt schweizweit neben dem Einsatz führerloser Fahrzeuge, wie im Fall von Mathilde, auch den Autobahnpiloten. Ist dieser aktiviert, dürfen Fahrer*innen das Lenkrad loslassen und müssen den Verkehr sowie das Fahrzeug nicht mehr dauernd überwachen. Ebenfalls möglich ist das automatisierte Parkieren. Die Regelungen gelten seit dem 1. März 2025.

Automatisiertes Fahren ist in Bern nicht komplett neu. Stadtbewohner*innen erinnern sich vielleicht an das Pilotprojekt von Bernmobil, bei dem ein selbstfahrendes Fahrzeug Menschen durch das Matte-Quartier transportierte. Das aufgrund seiner geringen Geschwindigkeit im Volksmund «Matte-Schnägg» genannte Gefährt zog auch Kritik auf sich: So hielt die Stadt Bern am Ende des Versuchs 2021 fest, dass der Kleinbus selbst bei niedrigem Verkehrsaufkommen für den übrigen Verkehr (inklusive Velos) ein erhebliches Hindernis darstellte.

Da sich die Strassen, auf denen Mathilde verkehrt, in Gemeindebesitz befinden, ist die Stadt Bern beim Pilotprojekt ebenfalls mit von der Partie. Die Strecken seien in Absprache mit Bernmobil und der Kantonspolizei geprüft und abgenommen worden, lässt Peter Schild stellvertretend für das städtische Tiefbauamt ausrichten. 

Sicherheitsfahrer an Bord

Ebenfalls beim Pilotversuch dabei ist das Bundesamt für Strassen (Astra), das federführend die Struktur vorgegeben hat: Es gibt insgesamt drei Phasen – aktuell befindet der Versuch sich in der ersten. 

Deshalb nimmt vorerst stets ein Mitarbeiter Loxos auf dem Fahrersitz Platz. Seine Pose mutet eher ungewöhnlich an: Anstatt das Steuer mit beiden Händen zu greifen oder sich entspannt zurückzulehnen, ist er leicht vorgebeugt und hält eine Hand vor einem roten Knopf.

Dieser ist dazu da, auf den manuellen Betrieb umzuschalten, sollte es zu einem unerwarteten Zwischenfall kommen. Eine solche Versuchsanordnung schreibt das Astra für das automatisierte Fahren in diesem Stadium vor. Im mittlerweile sieben Monate dauernden Pilotbetrieb ist es gemäss den Verantwortlichen noch zu keinen Zwischenfällen gekommen. 

Bern, 30. April 2025- Tag der offenen Tür bei Pflanzer-Logistik, Präsentation desAusliefer-Systems mit autonomen Fahrzeug, der der Start-up- Firma LOXO Relations.  © Annette Boutellier
Das umgerüstete Fahrzeug-Cockpit inklusive rotem Notfall-Knopf. (Bild: Annette Boutellier)

Wie von Geisterhand dreht sich das Lenkrad von links und nach rechts – das Fahrzeug passt seine Geschwindigkeit dem vorausfahrenden Verkehr an und erkennt Hindernisse. Alles von Sensor und Computer gesteuert.

Das Fahrzeug ist vom Planzer-Standort an der Murtenstrasse gestartet und fährt zu einem 2,4 Kilometer entfernten Umschlagplatz beim Freibad Weyermannshaus. Weil eine Kamera im Fahrzeuginneren eingebaut ist, können die angereisten Besucher*innen an diesem Mittwoch die Fahrt live am Bildschirm mitverfolgen. Nachdem Mathilde die Kreuzung Murtenstrasse/Bremgartenstrasse überwunden hat, fährt sie an der Energiezentrale Forsthaus vorbei. Am Zebrastreifen bremst sie ab und beschleunigt dann wieder.

Vorausfahrenden Autos rollt sie in gebührendem Abstand hinterher. Das Fahrzeug ist zwar auf einer vorgeschriebenen Route unterwegs, doch diese ist nicht vollständig als Modell abgespeichert. Vielmehr sorgen Sensoren und Kameras dafür, dass die Route samt potentieller Hindernisse jedes Mal neu vermessen wird. 

Eine Schwierigkeit besteht darin, dass Mathilde ihre Fracht an einem öffentlichen Platz ablädt. Dieser ist also auch für andere Fahrzeuge zugänglich. Noch habe dies aber zu keinen Problemen geführt, beteuern die Projektverantwortlichen von Loxo und Planzer. Sollte es einmal zu einem Engpass kommen, sei Mathilde in der Lage, einen neuen Platz zu finden. An diesem Tag kommt der Kleinbus auch an der angepeilten Stelle zum Stehen. Anschliessend übernimmt wieder der Mensch. Angestellte von Planzer laden die Inhalte der Boxen auf ihre Elektrodreiräder um. Mit ihnen geht es bis vor die Haustüre der Kund*innen.

Den Menschen entlasten – und ersetzen?

«Mit dem Pilotversuch wollen wir die mittlere Meile automatisieren», erklärt Anna Baschung, Projektleiterin Innovation bei Planzer. Um diese Aussage zu verstehen, muss man den Aufbau der Logistik bei Planzer kennen.

Der Grossteil der Waren wird per Zug und Lkw über lange Strecken zu den Logistikzentren des Unternehmens transportiert. Anschliessend folgt die sogenannte mittlere Meile, auf der bislang meist grosse Lieferwagen mit Chauffeur*innen unterwegs waren. Laut Baschung können neu automatisierte Lieferbusse den Transfer der Waren in die Städte übernehmen.

Dabei gehe es nicht darum, das bestehende Personal zu ersetzen, sondern dieses zu entlasten. Weil die Verstädterung und der Internethandel zunehmen, gehen Logistikunternehmen wie Planzer davon aus, dass die Paketflut noch zunehmen wird. Und: «Stop-and-Go Fahrten im Stadtverkehr werden von Menschen als sehr ermüdend empfunden», erläutert Baschung. Jede automatisierte Fahrt könne dem entgegenwirken.

Der Mensch sei mehr gefragt, wenn es um die Auslieferung der Ware «auf der letzten Meile» gehe, so Baschung. Also um die Übergabe eines Pakets an der Haustür. Denn dort wäre eine Automatisierung noch viel aufwendiger. Zudem sind der Orientierungssinn und die Flexibilität des Menschen hilfreich.

Bern, 30. April 2025- Tag der offenen Tür bei Pflanzer-Logistik, Präsentation desAusliefer-Systems mit autonomen Fahrzeug, der der Start-up- Firma LOXO Relations.  © Annette Boutellier
Kein Gaming-Traum, sondern die Arbeitsrealität eines Teleoperators, wenn dieser virtuell das Steuer von Mathilde übernimmt. (Bild: Annette Boutellier)

Aktuell fährt das teilautomatisierte Fahrzeug an zwei bis drei Tagen die Woche während einer Stunde durch die Strassen Berns. Planzer gibt an, dass in den ersten vier Monaten des Jahres 14'200 Pakete mit Hilfe der Kyburz-Roller auf der letzten Meile ausgeliefert wurden – ein Bruchteil dieser Pakete sind zuvor von Mathilde transportiert worden.

Planzer zählt insgesamt 6500 Mitarbeitende und liefert in einer einzigen Nacht 240 Bahnwagen an Gütern innerhalb der Schweiz. Ungefähr 2500 (nichtautonome) Fahrzeuge hat das Unternehmen derzeit auf der Strasse. Das macht deutlich: selbst wenn das hochautomatisierte Fahren nach und nach bei Planzer Einzug hält, dürfte es eine ganze Weile dauern, bis ein Teil des Fuhrparks ersetzt ist. 

Nächste Phase in Sicht

In den kommenden Wochen und Monaten muss Loxo aber erst einmal unter Beweis stellen, dass es mit dem Fahrzeug die nächste Phase des Pilots erreichen kann. Hier kommt wieder das Bundesamt für Strassen ins Spiel, das für die jeweils nächste Phase grünes Licht geben muss. Läuft alles wie vorgesehen, kann der Sicherheitsfahrer für die nächste Phase auf den Beifahrersitz wechseln. 

In der dritten und letzten Phase verlässt der Sicherheitsfahrer ganz das Fahrzeug. Ab dann kann nur noch ein sogenannter «Teleoperator» eingreifen, wenn etwas schieflaufen sollte. So ist dies auch im Regelbetrieb vorgesehen, sollte es ihn einmal geben.

Wie die Überwachung aus der Ferne genau vonstatten gehen soll, zeigt Planzer bei der Vorführung Ende April: In einem kleinen Büro sind Bildschirm, Lenkrad, Gas- und Bremspedale und ein Sessel aufgebaut – die Ähnlichkeit zu einer Videospiel-Traumkulisse eines 14-Jährigen ist nicht von der Hand zu weisen. Von hier aus könnte der oder die Teleoperator*in die Fahrt überwachen und wenn nötig eingreifen und den Camion selbst steuern. Damit dies überhaupt gelingt, ist allerdings – anders als bei der automatisierten Steuerung des Fahrzeugs selbst – eine stabile 5G-Internetverbindung zwischen den beiden Akteuren nötig.

Gelingt der Durchbruch?

Das Lieferfahrzeug ist an diesem Mittwochnachmittag wieder zurück auf den Hof von Planzer gerollt. Es gab keine Vorkommnisse auf der Fahrt – sie dauerte je Strecke rund sieben Minuten. Loxo-Mitgründerin Lara Amini läuft um den Kleinbus. Für sie ist der Pilotversuch Teil eines grösseren Plans: Das Startup will mit selbstfahrenden Lieferfahrzeugen nach Europa expandieren. Laut Amini ist der Berner Testbetrieb in seiner Dimension und Komplexität europaweit einzigartig. 

Bern, 30. April 2025- Lara Amini Co-Founder und CBO LOXO Relations am Tag der offenen Tür bei Pflanzer-Logistik, Präsentation des Ausliefer-Systems mit autonomen Fahrzeug, der der Start-up- Firma LOXO Relations.  © Annette Boutellier
Lara Amini ist eine der wenigen weiblichen Gründerinnen in einer weiterhin männlich dominierten Automobil- und Techbranche. (Bild: Annette Boutellier)

Loxo will mit den in Bern gewonnenen Erkenntnissen bis Ende des Jahrzehnts rund 300 bis 400 Fahrzeuge mit der hauseigenen Technologie ausstatten. Dabei verkauft das Unternehmen vor allem die Software, die sich für verschiedene Fahrzeugtypen eignet. Die komplette Umrüstung der Fahrzeuge, inklusive Sensoren, Kameras und Bordelektronik, sollen vorwiegend andere Unternehmen übernehmen.

In der Logistikbranche will Loxo dazu beitragen, ein drängendes Problem zu lösen: «Wir wollen dem Fahrer*innenmangel in der Branche entgegenwirken». Die Automatisierung funktioniere dort am besten, wo sich die Anforderungen häufig wiederholen.

Ganz so, wie bei Mathildes Päckli-Dienst.

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