Der Koloss, den wir uns leisten
Bühnen Bern erhalten 38 Millionen Franken Subventionen im Jahr – von Stadt, Kanton und der Regionalkonferenz. Ist das zu viel Geld? Oder zu wenig für die Kunst, die Bern sich wünscht? Ein altes Drama, neu inszeniert, vor und hinter den Kulissen. Vorhang auf für Akt I!
Der Applaus will fast nicht enden, wieder und wieder treten die Opernsänger*innen einzeln vors Publikum und verbeugen sich. Jubelrufe. Es ist ein Sonntagabend, draussen herrschen dreissig Grad, eben wurde die letzte Vorstellung der Mozart-Oper «Idomeneo» im Stadttheater gespielt. Vor halbleeren Rängen, wie das häufig geschah in den letzten Monaten.
«Idomeneo» gilt als langweilige Oper, aber sie wurde vom serbischen Theaterregisseur Miloš Lolić unkonventionell und abwechslungsreich inszeniert, mit herausragenden Sänger*innen: Die Ensemblemitglieder Giada Borrelli (Sopran), Evgenia Asanova (Mezzosopran), Masabane Cecilia Rangwanasha (Sopran), Attilio Glaser (Tenor), Filipe Manu (Tenor) und Matheus França (Bass). Allesamt internationale Jungtalente und in dieser Saison nach Bern geholt, sangen sie sich ihr Herz aus der Seele, was sie an jenem Punkt ihrer Karriere auch müssen. Auch an Humor liessen sie es nicht fehlen. Befeuert von einem fulminant spielenden Orchester, angeleitet von Nicholas Carter, dem jungen, aufstrebenden, international umworbenen Dirigenten, der seit dieser Saison Co-Leiter der Opernsparte bei Bühnen Bern ist, aber wohl bald an die grossen und renommierten Häuser ziehen wird.
Das ist das Schicksal des Berner Theaters.
Die Bühnen Bern rechnen mit jährlichen Einnahmen von 48 Millionen Franken (hauptsächlich zusammengesetzt aus Subventionen, Zuwendungen und Ticketverkäufen). Bern ist damit ein mittelgrosses Theater, vergleichbar mit dem Luzerner Theater. Das Opernhaus Zürich und das Theater in Basel sind grösser. Wer als Künstler*in, Regisseur*in, Intendant*in hoch hinaus will, braucht Bern höchstens als Zwischenstation. Wer als Zuschauer*in eine Kulturreise zu einem Opern- oder Theaterhaus macht, reist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nach Bern.
Man könnte sogar sagen: Für die Bundesstadt ist Bühnen Bern zu gross. Für grosse Kunst ist Bühnen Bern zu klein. Das ist das Dilemma.
Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) wünschte sich bei der Präsentation der Kulturbotschaft, in der die Verteilung der Kulturgelder ab 2024 festgelegt wird, eine Debatte nicht nur über Geld, sondern über Kultur. «Ist Bern bereit dafür?», fragte die «Hauptstadt». Wir möchten einen Beitrag dazu leisten und starten mit einer dreiteiligen Begegnung mit Bühnen Bern, der mit Abstand grössten Berner Kulturinstitution, die von aussen reich erscheint, sich selber aber als unterfinanziert empfindet.
Mit Scholz im Theater
«Kommen Sie, wir werfen gleich einen Blick hinter die Kulissen und ich zeige Ihnen, wie man bei Bühnen Bern angeblich die Millionen verprasst.» Florian Scholz, seit 2020 Intendant bei Bühnen Bern, springt über die Steintreppen hoch ins Stadttheater am Kornhausplatz. Er sprüht vor Ironie, könnte glatt im Theater auftreten damit. Scholz macht zu schaffen, dass dem hochsubventionierten Betrieb, den er verantwortet, in Bern oftmals das Bild des intransparenten Milionarios anhaftet, der Geld ausgeben kann, ohne sich wirklich anstrengen zu müssen.
Die «Hauptstadt» hatte der Medienstelle von Bühnen Bern eine Liste mit Fragen, vor allem zu Finanzlage, Auslastung und Anstellungspolitik geschickt. Intendant Florian Scholz lud darauf zu einem Gesprächsrundgang, der in diesem Text in kursiver Schrift wiedergeben wird.
Dauerthema Geld
Heute geht die Theatersaison 21/22 zu Ende, die erste, die Scholz vollständig mit dem von ihm zusammengestellten künstlerischen Leitungsteam verantwortet hat. Die Schauspielsparte wagt Neues und erntet dafür gleichzeitig Lob und Unverständnis, der Tanz ist beliebt wie seit Jahren, die Oper inszeniert mutig und kämpft mit schwindenden Zuschauer*innenzahlen.
Das passiert auf der Bühne. Hinter der Bühne ist Geld ein Dauerthema.
Scholz wird wiederholt auf sein Gehalt angesprochen. Bühnen Bern gibt es nicht bekannt, nur die Gesamtentschädigung für die Geschäftsleitungsmitglieder (2021: 1,4 Millionen Franken brutto für neun Mitglieder). Das macht im Durchschnitt knapp 160’000 Franken pro Jahr und GL-Mitglied, wobei offen bleibt, wie stark sich die Löhne innerhalb der GL unterscheiden.
Die Stadt als grösste Subventionsgeberin verlangt von den Empfänger*innen die Angabe des höchsten und tiefsten Lohns. Auf Anfrage der «Hauptstadt» gab die Stadtkanzlei diese Zahlen nicht bekannt. Das private Interesse an der Geheimhaltung der Lohndaten überwiege nach Ermessen der Stadt ein allfälliges Interesse der Öffentlichkeit auf Einsicht in die entsprechenden Daten.
Unterfinanzierter Koloss?
Florian Scholz steht jetzt im Foyer des Theaters, das seit der grossen Renovation 2014, die 45 Millionen Franken kostete, in neuem Glanz erstrahlt. Einem Glanz allerdings, dem eher etwas Aristokratisches anhafte, und «nicht das Ambiente des Theaters für alle, das wir sein wollen», wie Scholz findet. Er will etwas für die Transparenz tun, die Alltagsrealität hinter den Kulissen zeigen. Darum ist er mit der «Hauptstadt» unterwegs. Er will zeigen, wie «wir hier schwierigen Umständen mit grösster Leidenschaft die Kunst abringen, die wir machen». Schon wieder klingt er dramatisch wie ein Bühnenkünstler.
Durch eine Seitentüre tritt Scholz auf die Bühne, wo ein Dutzend Arbeiter*innen damit beschäftigt sind, die Kulisse der am Vortag gespielten Oper abzubauen. «Hier wird unter körperlich anspruchsvollen Bedingungen gearbeitet», sagt er. Die Bühnenarbeiter*innen sind laut Scholz zu einem GAV-Gehalt angestellt, ihnen sei in den letzten 30 Jahren gerade mal zwei Prozent Reallohnerhöhung zugestanden worden, sagt der Intendant. Ein Skandal, findet er. Bühnen Bern tue alles, damit nächstes Jahr eine Lohnerhöhung möglich sei – aber, ergänzt Scholz, es gebe kaum Spielraum, wenn die Geldgeber*innen nicht bereit seien, mitzuziehen.
Ist in dem Millionenbudget tatsächlich kein Platz, um die tiefsten Löhne aufzubessern? «Es würde nicht einmal etwas nützen, wenn man meinen Intendantenlohn kürzen und umverteilen würde», entgegnet Scholz. Der Punkt, dem Bern in die Augen schauen müsse: Bühnen Bern sei unterfinanziert. «Uns fehlen pro Jahr gut zwei Millionen Franken.»
Aus der Berner Froschperspektive ist Bühnen Bern ein Koloss. 2011 aus der Fusion zwischen Berner Symphonieorchester (BSO) und Stadttheater entstanden, ist es das einzige Vierspartenhaus (Theater, Oper, Tanz, Orchester) der Schweiz. Durch die Fusion ergaben sich Synergien: Das ganze Backoffice kann gemeinsam genutzt werden, die technische und kaufmännische Abteilung, Marketing und Kommunikation. Entstanden ist aber auch ein grosser, komplizierter, schwer durchschaubarer Apparat.
Der Sparauftrag
Aktuell beschäftigt Bühnen Bern gemäss eigenen Angaben 470 Mitarbeiter*innen, die sich 350 Vollzeitstellen teilen. Dazu kommen rund 250 Gäste, die vorübergehend bei Bühnen Bern arbeiten. Das Angestellten-Portefeuille reicht vom Bühnentechniker über die Schneiderin zur Tänzerin, dem Klarinettisten, der Opernsängerin. Bühnen Bern hat beispielsweise einen Chor aus 32 Stimmen, je 16 Männer und 16 Frauen. Die professionellen Sänger*innen – viele von ihnen haben mal eine Karriere als Solist*in angestrebt – sind fest angestellt, auch wenn sie wie in der nun zu Ende gehenden Saison neben Konzertauftritten im Casino Bern und im KKL Luzern nur in vier von sechs Produktionen der Opernsparte zum Einsatz kommen.
Das ergibt jährliche Lohnkosten von 39 Millionen Franken. Nur in den beiden Corona-Saisons sind diese Kosten – bedingt durch Kurzarbeit – auf etwa 33 Millionen Franken gesunken. Der totale Betriebsaufwand sank um eben diese 6 Millionen Franken auf um die 40 Millionen.
Die meisten Mitarbeiter*innen unterstehen einem künstlerischen oder technischen Gesamtarbeitsvertrag und erhalten so mindestens die branchenüblichen Löhne, die zum Beispiel bei Bühnenassisten*innen ab kommender Saison bei 4200 Franken im Monat liegen.
Das die Ausgabenseite. Auf der Einnahmenseite sieht es so aus:
Bühnen Bern ist die grösste Kulturinstitution im Kanton Bern, die öffentliche Hand unterstützt sie mit mehr als 38 Millionen Franken im Jahr (Stadt: 18 Millionen; Kanton: 15 Millionen; Regionalkonferenz: 5 Millionen). Kann man mit einem solchen Betrag «unterfinanziert» sein?
Klar ist: Erstmals seit Jahren muss Bühnen Bern jetzt zurückbuchstabieren. Das Theater hat seit 2021 seinen Anteil von 400’000 Franken an der sogenannten Bundesmillion, die der Bund nicht mehr an die Bundesstadt Bern zahlt, verloren. Zudem will die unter Spardruck stehende Stadt Bern gemäss ihrer Kulturbotschaft 2024 – 2027 ihren Beitrag an Bühnen Bern leicht kürzen. Insgesamt soll sich die Subvention von Stadt, Kanton und Regionalkonferenz um 470’000 Franken pro Jahr verkleinern.
Die Begründung der Stadtregierung: In den letzten beiden jeweils vier Jahre lang geltenden Kulturbudgets seien die Beiträge an Bühnen Bern am stärksten erhöht worden – explizit auch «zum Ausgleich der betriebsinternen Lohnunterschiede», wie der Gemeinderat anmerkt. Aufgrund des städtischen Spardrucks und der absoluten Höhe der Subvention sei jetzt die Kürzung bei Bühnen Bern «zwingend», hält die Regierung fest – und das, obschon Bühnen Bern eigentlich eine weitere Erhöhung der Unterstützung beantragt hatte.
Was sich Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) mehr wünscht als eine Auseinandersetzung um finanzielle Unterstützung: dass sich die Stadt zu einer «richtigen kulturpolitischen Debatte» aufrafft. Einer Debatte, die sich auch schwierigen Fragen nicht versperrt. Wo beginnt Kultur und wo hört sie auf? Mit welcher Kunst lassen sich die Menschen abholen und ansprechen?
Ob Bern bereit ist zu dieser Debatte, ist eine andere Frage.
Mit dem Lift ist Florian Scholz von den Künstler*innengarderoben hoch oben im Theater hinunter ins Souterrain gefahren, jetzt nestelt er an seinem Schlüsselbund und öffnet vorsichtig die Tür zum Proberaum des Chors. In der schwülen Hitze des schmucklosen Raums üben die 32 Sänger*innen eine Passage der Oper «Sycorax», die der Komponist Georg Friedrich Haas im Auftrag von Bühnen Bern geschrieben hat und die Mitte September uraufgeführt wird. Sycorax ist eine sprachlose Figur im «Sturm» von Shakespeare, die nun in einer Oper eine eigene Stimme erhält. Es ist eine Hommage an eine schwarze Performerin und Aktivistin Mollena Williams-Haas, ein Stück, das den Anspruch von Bühnen Bern, aktuelle gesellschaftliche Fragen auf die Bühne zu bringen, einlösen soll.
Intendant Scholz will sich von den Sänger*innen verabschieden, da bittet ihn Chordirektor Zsolt Czetner, noch zwei Minuten zu verweilen. Kurzes Gelächter im Chor. Doch dann schmettern die 32 Stimmen einen Ausschnitt von Gioachino Rossinis «Guillaume Tell» in den Raum, Czetner selber hüpft vor lauter Engagement wie ein Gummiball von seinem Klavierstuhl hoch. Grossartige Kunst, die durchs offene Fenster hinaus Richtung Kornhausbrücke verklingt.
Ein paar Minuten später sitzt Scholz in seinem Büro. Er habe sich gewundert, sagt er, dass sich nach Bekanntgabe der Kürzungsabsichten der Stadt vor drei Wochen kein*e Journalist*in bei Bühnen Bern nach einer Reaktion erkundigte. Offenbar werde der Schnitt bei den Subventionen bei der Berner Öffentlichkeit als klein und nicht bedeutend wahrgenommen. Scholz kündigt an, dass Bühnen Bern während der Vernehmlassung, die bis zum 21. August dauert, die demokratischen Rechte wahrnehmen und sich gegen die Kürzung wehren wolle. Natürlich werde man am Schluss die politischen Entscheide akzeptieren, aber eines sei klar, sagt Scholz: «Das geht an die Substanz. Wir werden nicht mehr das gleiche Programm herauspressen können.»
Er stelle sich gerne der Kulturdebatte, die der Stadtpräsident anrege, sagt Scholz. Die zentrale Frage, die man diskutieren müsste: «Will Bern ein Theater, das auch fähig ist, eine Oper von Verdi, Mozart oder Wagner so auf die Bühne zu bringen, dass es Freude macht, sie sich anzusehen und anzuhören?» Er kämpfe sieben Tage die Woche mit Leidenschaft dafür, dass Bern diese Frage nach der Theaterkunst in grosser Besetzung mit Ja beantworte, beteuert Scholz.
Vor wenigen Wochen hat die von Scholz zusammengestellte Leitung von Bühnen Bern das Programm der kommenden Saison vorgestellt. Die Spartenleiter*innen und die Kommunikationschefin sassen gemeinsam im altehrwürdigen Foyer des Stadttheaters, der Intendant in der Mitte. Scholz eröffnete die Medienkonferenz mit wenigen Bemerkungen: «Wir haben hier ja ein neues Berner Modell, das ein grosses Miteinander fördern soll», sagte er. «Dennoch sind die Sparten in ihrer Planung für die Spielzeit autark.»
Seine Aussage brachte auf den Punkt, was seit der Fusion ein Hauptproblem von Bühnen Bern ist: Man will und sollte miteinander, interessiert sich aber vor allem für die eigene Sparte. Sinnbildlich dafür steht Bühnen Berns Motto für die kommende Saison: «Wie wollen wir leben?»
Eine Antwort darauf steckt vielleicht in der Produktion «Carmilla oder das Zeitalter der Vampire» (Premiere: 3. Dezember, Stadttheater). Es ist eine Schauspieloper des Hamburger Komponisten und Autoren Jan Dvořák (der in der nächsten Saison gleichzeitig Composer in Residence bei der Camerata Bern ist), Regie führt Schauspielchef Roger Vontobel, für die Dramaturgie zeichnen Opernspezialistin Rebekka Meyer und Chefdramaturgin Felicitas Zürcher. Überdies wirken Chor und BSO mit. Grösser kann das Miteinander fast nicht sein. Das lässt hoffen. Zu Recht?
Schaffen es Bühnen Bern unter der Intendanz Scholz, das Publikum zu gewinnen? Haben Bühnen Bern auf die nach aussen gerichtete Frage «Wie wollen wir leben?» auch in ihrem Inneren überzeugende Antworten?
Lies mehr dazu am Montag in der «Hauptstadt», in Akt II der Begegnung mit «Bühnen Bern».
Mitarbeit: Joël Widmer
Zur Transparenz: Hauptstadt-Co-Redaktionsleiterin Marina Bolzli hat von Februar bis September 2021 als Kommunikationsverantwortliche bei Bühnen Bern gearbeitet.