Die Vision fürs Zehendermätteli
Ein essbarer Wald, Permakultur, Slowflowers und soziale Arbeitsplätze für Geflüchtete und benachteiligte Menschen: Die Visionen fürs Zehendermätteli sind gross. Wie weit sind sie bisher gediehen?
Die Aare plätschert, der Wald rauscht leise, die Vögel singen und die Obstbäume blühen. Die Lichtung im Norden der Engehalbinsel direkt an der Aare umfasst vier Hektaren. Bei schönem Wetter ist sie ein Magnet für Berner*innen, die durch den Wald hier hinunter spazieren oder mit der Fähre von der anderen Seite aus Richtung Bremgarten kommen. Hier einkehren, spielen, Feste feiern.
Das Zehendermätteli ist in Bern eine Institution. Es gehört der Burgergemeinde, vor gut zwei Jahren hat sie es neu verpachtet. Seither heisst das Restaurant mit der dazugehörigen Landparzelle Zehendermätteli im Glück, geführt wird es von Simon und Anna Tauber sowie Marcel Geissbühler.
Sie haben mit dem Ort viel vor: Es soll eine ressourcenschonende Kreislaufwirtschaft entstehen, sie wollen Landwirtschaft betreiben, Gastronomie, Kultur – und dabei erst noch soziale Arbeitsplätze anbieten. Wie weit sind sie in den zwei Jahren gekommen?
Simon Tauber wartet auf dem Kiesplatz, seine langen Haare sind zerzaust, aber so, dass man merkt, dass das sein Stil ist. Er bezeichnet sich selber als Visionär, als der, der netzwerkt und alles vorantreibt. Ursprünglich ist er Landschaftsgärtner, dann arbeitete er als Arbeitsagoge, das heisst, er begleitete Menschen mit erschwertem Zugang zur Arbeitswelt bei der beruflichen Integration. Anschliessend baute er zusammen mit seiner Partnerin Anna Tauber den Wagen im Glück auf, ein mobiles Gastroprojekt in Worblaufen, das Geflüchteten Arbeitsplätze und Perspektiven bot. Nun will er im Grossen weiterführen, was er im Kleinen begann.
Tauber stapft voran Richtung Wiese. Dort befindet sich ein Gehege mit Hühnern, sie liefern Eier für den Gastrobetrieb, auf der anderen Seite steht der Bauwagen, mit dem alles angefangen hat – und mittendrin thront ein blau-gelbes Zirkuszelt für kulturelle Anlässe und Feste.
Tauber hat heute Zeit, denn es ist bewölkt – der Besucher*innenansturm ist sehr vom Wetter abhängig. «Bald kommen die Schafe, die das Feld abgrasen werden», erzählt er. Den Sommer durch weiden sie auf den ungedüngten Dauerwiesen, später werden sie geschlachtet und landen im Restaurant auf dem Teller. Die Wolle der Tiere will der Betrieb in Zukunft zu Pellets verarbeiten und als ökologischen Langfristdünger einsetzen. Die Agrarhochschule in Zollikofen (HAFL) begleitet die Verwandlung des Zehendermätteli in eine Kreislaufwirtschaft wissenschaftlich. Die Burgergemeinde unterstützt die Pächter*innen mit verschiedenen Beratungsleistungen.
Mehrere junge Obstbäume blühen, bisher wurden um die 15 davon gepflanzt, am Schluss sollen es zirka 90 sein. Eine Investition in die Zukunft, bis zur ersten richtigen Ernte von Obstbäumen dauert es mehrere Jahre. Noch ist es nicht so weit.
Der Pachtvertrag mit der Burgergemeinde gilt vorerst für zehn Jahre. Doch klar ist auch, für die Vision der Betreiber*innen braucht es mehr Zeit. Auflagen von Seiten Burgergemeinde gibt es nicht, die stellvertretende Sprecherin Karin Grossen sagt: «Die Zusammenarbeit muss für beide Seiten passen, damit eine erfolgreiche Verlängerung möglich ist.» Und schliesslich zahlen die Pächter*innen auch einen marktkonformen Mietzins mit steigender Umsatzbeteiligung für die Burgergemeinde.
Was Taubers und Geissbühler im Zehendermätteli vorhaben, ist ein ganzheitlicher Ansatz, der Natur, Tiere und Menschen in Einklang bringen will, bei dem es mehr Platz für Biodiversität geben soll und gleichzeitig die Produkte vom Betrieb selber kommen sollen. Der die lokale Bevölkerung miteinbeziehen will, sie soll mithelfen und mitfinanzieren.
So kommt zum Beispiel ein älterer Mann aus dem nahegelegenen Rossfeld regelmässig ins Zehendermätteli, um Wildbienenhäuser und Vogelhäuschen zu bauen und zu installieren. Auch Bienen, die von einem in der Nähe wohnenden Imker betreut werden, gibt es im Zehendermätteli.
Doch das Ziel ist mehr: Monatlich gibt es einen Mitmachanlass, bei dem bisher zwischen fünf und 15 Leute einen Tag lang mithelfen und dafür ein Mittagessen offeriert bekommen. Ein Newsletter mit rund 300 Abonnent*innen macht darauf aufmerksam. Und noch bis Ende Mai können Interessierte sogar einen Teil des Zehendermätteli kaufen, indem sie für 1000 Franken eine Aktie erwerben. Gut 180 Aktien wurden bereits verkauft, das Ziel sind 500. Damit will das Zehendermätteli ganzjährig öffnen können – und auch die sozialen Arbeitsplätze rund ums Jahr anbieten können. Die Zehendermätteli-Betreiber*innen brauchen eine Community, die sie unterstützt.
Denn so gross die Visionen, so gross ist auch der finanzielle Druck. Die Frage ist, wie man Idealismus und Wirtschaftlichkeit zusammenbringt.
Das Betreiber*innen-Trio hat sich damals gegen 20 Mitbewerber*innen durchgesetzt, am Schluss waren neben ihnen nur noch grosse Institutionen im Rennen. Überzeugt habe die Burgergemeinde laut Sprecherin Karin Grossen einerseits die soziale Komponente mit Integrationsarbeitsplätzen für junge Erwachsene mit Fluchthintergrund sowie Arbeitsmarktchancen für ältere Personen, die von der Aussteuerung betroffen sind. «Andererseits konnte das Konzept mit dem kulinarischen Angebot punkten: regionale, fair und biologisch produzierte Zutaten, auch aus der eigenen Gärtnerei.»
Da ist viel Herzblut, aber das braucht auch viel Kraft. 59 Lohnausweise hat der Betrieb im letzten Sommer ausgestellt. Darunter sind eine Umweltingenieurin, eine Landwirtin, eine Floristin, ein Landschaftsgärtner, Köch*innen und Servicepersonal.
Dabei sind die Hierarchien flach. Eine grosse Verantwortung, oder, wie Tauber formuliert «eine grosse Kiste». Und darum werde das nur im Sommerhalbjahr geöffnete Zehendermätteli nur auf Ganzjahresbetrieb ausbauen, wenn dafür genug Geld zusammenkomme. «Wir haben gemerkt, dass es Dinge gibt, die wir aufschieben müssen. Wir können nicht alles gleichzeitig machen», sagt er. Das schliesst er aus Erfahrungen, die das Team in den letzten zwei Jahren gemacht hat. «Wir sind zu steil eingestiegen, wollten zu viel aufs Mal.»
Anna und Simon Tauber wohnen auf dem Gelände, sie haben drei Kinder, das jüngste ist 11 Monate alt, das älteste im Kindergarten. «Es ist schön, so können wir immer zusammen essen», sagt Simon Tauber. Er sehe, wenn Andrang herrsche im Restaurant, wenn es ein Problem gebe, wenn ein Gewitter aufziehe. Er könne immer sofort zur Stelle sein. «Und schliesslich sind wir auch das Gesicht des Zehendermätteli.»
Neben dem vor zwei Jahren von der Burgergemeinde für 2,5 Millionen Franken neu renovierten Gasthaus steht ein Schild mit einem Plan, der zeigt, was im Zehendermätteli noch alles passieren soll. Da ist auch bereits der essbare Wald eingezeichnet, der erst entstehen soll. Eine ein Kilometer lange Wildhecke. Die zusätzlichen Bächlein und Becken, die von der eigenen Quelle abgezapft werden und Verstecke und Lebensraum für kleine Tiere und Insekten bieten sollen. Doch dafür wartet Tauber noch auf die Bewilligung des zuständigen kantonalen Amts für Gemeinden und Raumordnungsplanung.
Die eingezeichneten Hügelbeete hingegen existieren bereits, schneckenfrei gehalten werden sie von Laufenten. Alles Mischkulturen, der Boden bleibt immer bedeckt und wird permanent ernährt, es sind die Grundprinzipien der Permakultur. Die Hügelbeete sind auf dem ausgezehrten Gelände entstanden, auf dem sich vorher eine Topfgärtnerei befand. Mit ihnen soll gleichzeitig die Bodenqualität verbessert werden.
Seit kurzem kann man beim Zehendermätteli auch einen Gemüsekorb abonnieren. Zudem wird ein Blumenabo angeboten. «Das sind Slowflowers», sagt Tauber und zeigt auf das Feld, «das heisst, sie werden ohne Pestizide und nicht in beheizten Treibhäusern produziert». Einige farbenfrohe Sträusse aus saisonalen Blumen stehen zur Ansicht vor dem Restaurant.
Bald soll die Produktion von Sirup und Lollipops aus den eigenen Produkten beginnen. So viele Ideen, so viele Projekte. «Was mich begeistert, ist die Buntheit des Teams, zuzuschauen, wie sich die Leute hier entfalten», sagt Tauber. Und dabei mitzuerleben, wie die Landschaft sich entwickle. Bereits wurden die vielen Neophyten, die sich auf der Aarehalbinsel breit gemacht hatten, ausgerissen, vom Damm aus, auf dem man rund ums Gelände spazieren kann, hat man nun Aussicht auf das sich langsam verändernde Areal.
Simon Taubers Blick schweift über die Landschaft. «Ich bin überzeugt, dass diese Art, mit der Natur zu leben, die Zukunft ist», sagt er. Er sieht hier bereits das Paradies.