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Energiewende im Realitätscheck

Ein lokales Unternehmen versucht ab 2026, das Könizer Dorf Mittelhäusern komplett mit erneuerbarer Energie zu versorgen. Und versteht das als Praxistest für das nationale Ziel, die Emissionen bis 2050 auf netto null zu senken.

Energieverbund Mittelhäusern fotografiert am Freitag, 19. September 2025 in Mittelhaeusern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Ländliches Kraftwerk: Solarplantage auf dem Bauernhausdach. (Bild: Simon Boschi)

Auch in einem kleinen Dorf können grosse Visionen entstehen.

Mittelhäusern, wo sich einst auch Stadtberner Patrizier über der Schwarzwasserschlucht an sonniger Lage niederliessen, gehört zur Gemeinde Köniz. Im ehemaligen Bauerndorf, das auf halbem Weg zwischen Bern und Schwarzenburg liegt, leben heute 950 Personen. Unter ihnen zufälligerweise drei Männer, die sich je in ihrem Fachgebiet mit Verve für eine ökologische Energieversorgung einsetzen. Sie wollen an ihrem Wohnort innert weniger Jahre realisieren, was die Schweiz erst bis 2050 zustande bringen will: eine Energieversorgung, die völlig ohne fossile Ressourcen auskommt und unter dem Strich keine Treibhausgase verursacht.

Die Idee, obschon sehr ambitioniert, steht unmittelbar vor der Umsetzung: Anfang 2026 startet das Pilotprojekt, jetzt läuft die Suche nach Investor*innen. Das können auch Bürger*innen sein, die Aktionär*innen ihrer eigenen Energieversorgung werden wollen.

Eine naheliegende Frage: Sind die drei Ideengeber fähig, das Projekt auf den Boden zu bringen?

«Ein Modell für die Schweiz»

Alle drei haben unternehmerisches Flair und die Erfahrung, wie man eine Idee marktfähig macht.

Hans Pauli vom Energieverbund Mittelhäusern fotografiert am Freitag, 19. September 2025 in Mittelhaeusern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Kontaktfreudiger Praktiker: Hans Pauli. (Bild: Simon Boschi)

Hans Pauli, ursprünglich Landwirt, war einst Pellet-Verantwortlicher des Fenaco-Konzerns in Bern. 2008 gründete er auf dem elterlichen Bauernhof in Mittelhäusern das Solar-Unternehmen Energy Unlimited, in einer Zeit, als er noch gegen das Vorurteil antreten musste, Solarstrom werde preislich nie konkurrenzfähig. Der kontaktfreudige Praktiker Pauli fand rasch den Draht zu Bauern in der ländlichen Umgebung, die in Solardächern ein zusätzliches betriebliches Standbein sehen. Heute hat Energy Unlimited Filialen in Rapperswil (Seeland) und Oberburg.

Jan Remund beim Energieverbund Mittelhäusern fotografiert am Freitag, 19. September 2025 in Mittelhaeusern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Politischer Pragmatiker: Jan Remund. (Bild: Simon Boschi)

Der Geograf Jan Remund leitet den Bereich Klima und Energie beim Berner KMU Meteotest und sitzt seit 2021 für die Grünen im Grossen Rat. Er gehört zu den pragmatischen Grünen. Eines seiner politischen Kernthemen ist es, den bürgerlich dominierten Kanton auf die Spur zu bringen, damit er bis 2050 klimaneutral wird. Bereits 2007 gehörte er zu den Mitinitianten der damals grössten Könizer Solaranlage, die auf den Dächern der Mittelhäuserer Holzbausiedlung Strassweid installiert ist, in der er wohnt.

Raoul Knittel vom Energieverbund Mittelhäusern fotografiert am Freitag, 19. September 2025 in Mittelhaeusern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Ambitionierter Vordenker: Raoul Knittel. (Bild: Simon Boschi)

Der Umweltingenieur Raoul Knittel war unter anderem Geschäftsführer des Emmentaler Unternehmens «Strom von hier», das lokalen Ökostrom vermarktete. Später ging dieses an das Start-up Sunraising über, an dem unter anderen die Stadtberner Finanzdirektorin Melanie Mettler (GLP) beteiligt ist. Sunraising fördert Solarpanels auf Stadtberner Dächern. Knittel aber gründete sein eigenes Unternehmen namens Wandu Energie und zog nach Mittelhäusern.

Dort entwarf er eine unbescheidene Vision für seinen Wohnort, die auch Remund und Pauli begeisterte: «Energieverbund Mittelhäusern. Ein Modell für die Schweiz.»

Land versorgt Agglo

Was Knittel vorschwebt: Sämtliche Energie, die in Mittelhäusern verbraucht wird, soll aus erneuerbaren Quellen stammen. Geheizt wird mit Holz oder Wärmepumpen, Haushalte und Gewerbe nutzen Ökostrom, der auch als Treibstoff dient für die Autos, die von den Einwohner*innen von Mittelhäusern gesteuert werden. «Das Ziel ist nicht Autarkie», präzisiert Knittel, «alle Energie vor Ort zu produzieren wäre unrealistisch.» Er strebt einen einheimischen Strom-Mix an, der zur Hälfte aus Wasserkraft und zur Hälfte aus lokalen Solaranlagen stammt.

Allerdings ist selbst dieses Ziel sportlich. Der Ersatz von Erdöl und Erdgas bedeutet: Die Nachfrage nach Strom steigt gemäss Knittel in Mittelhäusern um ein Viertel. Für den Ausbau der Solarstrom-Produktion hat das Dorf jedoch beste Voraussetzungen: Um einen dicht besiedelten Dorfkern gruppieren sich weitläufig rund 20 Bauernhöfe, deren riesige Dächer ideal sind für die intensive Belegung mit Solarpanels. Weil die bäuerlichen Solaranlagen mehr produzieren als die Betriebe selber brauchen, steht der Strom für die Versorgung des dichter bebauten Dorfkerns zur Verfügung.

Die Peripherie versorgt das Zentrum: Das wäre das Modellhafte am Projekt in Mittelhäusern. Denn auch der Solarstrom-Ausbau in der Schweiz läuft über den Stadt-Land-Graben hinweg: Von den grossen Dachflächen im ländlichen Raum werden die verbrauchsintensiven Agglomerationen beliefert. Allerdings gebe es seines Wissens bisher keine Ortschaft in der Schweiz, die ihr Potenzial systematisch ausnutze und an der bestehenden Infrastruktur und Nachfrage vor Ort ausrichte, sagt Raoul Knittel.

Teuren Netzausbau vermeiden

Der Energieverbund Mittelhäusern will deshalb Lösungen aufzeigen für zwei grundlegende Probleme des Solarstromausbaus: Erstens wird Solarstrom dann produziert, wenn die Sonne scheint (tagsüber) und nicht dann, wenn die Verbrauchsspitzen sind (morgens und abends). Und zweitens überfordert die unregelmässige Produktion von Solarstrom die bestehenden Stromnetze. Sie müssen zu hohen Kosten ausgebaut werden, um die zeitweise grossen Strommengen aufnehmen zu können.

Für beides glauben Knittel & Co in Mittelhäusern smarte Auswege zu finden. In einem Netz von lokalen Batteriespeichern könnte der tagsüber produzierte Strom zwischengelagert werden, bis er am Abend gebraucht wird. Mindestens ebenso wichtig: Damit kann auf den teuren Leitungsausbau verzichtet werden, weil der Solarstrom lokal verbraucht und gleichmässig ins Netz abgegeben wird. «Würde dieser Ansatz auf die gesamte Schweiz ausgeweitet», prophezeit Knittel, «darf man enorme volkswirtschaftliche Einsparungen erwarten», was den Solarstrom vergünstigt.

Energieverbund Mittelhäusern fotografiert am Freitag, 19. September 2025 in Mittelhaeusern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Ort der Energiezukunft: das bäuerliche Mittelhäusern. (Bild: Simon Boschi)

Diese Perspektiven haben dem Mittelhäuserer Projekt einflussreiche Unterstützung beschert. Christof Bucher, Professor für Fotovoltaik an der Berner Fachhochschule in Burgdorf, stellt sein Expertenwissen in Batteriespeicherung und Netzmanagement zur Verfügung. In einem zweiteiligen Interview mit der «Hauptstadt» leuchtete er bereits vor drei Jahren das Potenzial von Solarstrom aus, wie es jetzt in Mittelhäusern in die Praxis umgesetzt wird.

Das Interesse der BKW

Mit im Boot ist auch der Energiekonzern BKW mit der Abteilung Power Grid. Sie erhofft sich als Forschungspartnerin Aufschluss darüber, wie sie ihr Netz unter den Anforderungen der Energiewende möglichst wirtschaftlich betreiben kann. Interessant ist die Teilnahme der BKW aus einem zweiten Grund: Künftig wird der Energieverbund Mittelhäusern die BKW um Stromkunden konkurrenzieren.

Das neue, vom Volk gutgeheissene schweizerische Stromgesetz erlaubt es ab 2026 lokalen Elektrizitätsgemeinschaften, vor Ort produzierten Solarstrom in Quartieren oder Gemeinden selber zu vermarkten. Genau das will der Energieverbund Mittelhäusern pünktlich auf Inkrafttreten des Gesetzes machen. Ähnlich wie ein städtischer Energieversorger – zum Beispiel EWB – wird die Energieverbund AG in Mittelhäusern die Photovoltaikanlagen auf den Bauernhausdächern bauen, die Stromspeicherung managen und vor Ort Kund*innen akquirieren. Raoul Knittel geht davon aus, dass die neue AG sehr effizient wirtschaften wird. Ihr Endkundenpreis für Strom wird laut Knittel um zehn Prozent tiefer liegen als derjenige der BKW.

Bis es soweit ist, warten jedoch noch einige Schwierigkeiten. Eine davon betrifft Dächer der sechs Bauernbetriebe im einst von Berner Patriziern gegründeten Weiler Grossgschneit, die in der ersten Umsetzungsetappe als Solarstromproduzenten einsteigen wollen. Die Dächer enthalten Asbest und müssen saniert werden, ehe Photovoltaik-Monteur*innen an die Arbeit können. Das erzeugt nicht amortisierbare Mehrkosten.

Den Businessplan von Raoul Knittel bringt das nicht durcheinander. Er rechnet damit, dass ungefähr in einem Jahr erste Kund*innen den modellhaften und günstigen Ökostrom aus Mittelhäusern beziehen können. Für Aktionär*innen stellt er eine Rendite von gut drei Prozent in Aussicht. Neben Investor*innen sucht Knittel aktuell auch Sponsor*innen, um genügend Startkapital zusammenzubringen. Bis jetzt, hält er gegenüber der «Hauptstadt» fest, tue er das mit Erfolg. Rund die Hälfte der 1,3 Millionen Franken, die für den Start nötig sind, seien bereits zugesichert.

Naheliegend wäre, dass die BKW nicht nur als Forschungspartnerin dabei sein will, sondern auch finanziell einen Fuss im Energieverbund Mittelhäusern haben möchte. Auf Anfrage der «Hauptstadt» hält BKW-Mediensprecher Manfred Joss fest: Eine finanzielle Beteiligung werde geprüft, definitive Entscheide seien noch nicht gefällt. Aber: «Grundsätzlich sind wir sehr interessiert daran, dass das Projekt in Mittelhäusern ein Erfolg wird.»

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