«Bern hat zu viele schöne Gebäude»
Wie die Elektromobilität der Solarenergie in Zukunft helfen wird – und warum die Stadt Bern bei der Sonnenenergie nicht punkten kann, erklärt Photovoltaik-Professor Christof Bucher im Interview, Teil 1.
Herr Bucher, Sie müssen ein glücklicher Mann sein. Noch nie wurden so viele Photovoltaik-Anlagen montiert.
Man sagt ja seit Jahrzehnten, dass Photovoltaik viel Potenzial hat. Und trotzdem hat sie bis heute in der Gesellschaft nicht den Stellenwert erreicht, den sie eigentlich haben müsste. Doch seit diesem Sommer setzt auch das eidgenössische Parlament auf Photovoltaik. Endlich ist das, wofür wir seit Jahrzehnten kämpfen, angekommen.
2022 war das Jahr der Sonnenenergie. Die «Hauptstadt» zeigt: Wo liegt das Potenzial? Wo stockt die Entwicklung? Und wie geht es weiter? In einem zweiteiligen Interview äussert sich Photovoltaik-Professor Christof Bucher zu Chancen und Stolpersteinen bei der Solarenergie. Bucher ist seit 2020 Photovoltaik-Professor an der Berner Fachhochschule in Burgdorf. Zuvor war er während 12 Jahren als Projektleiter in der Solarbranche tätig.
Wie merken Sie das?
Im Moment werden so viele Photovoltaik-Anlagen gebaut, dass die Wartelisten bei den Firmen lang sind. Zum Teil bekommen die Installateur*innen keine Produkte mehr. Zum Beispiel Wechselrichter (ein elektrisches Gerät, das Gleichspannung in Wechselspannung umwandelt, Anm. der Redaktion), die könnte man jetzt auf Ricardo wohl zum doppelten Neupreis verkaufen.
Trotz diesem Boom hinkt der Kanton Bern hintendrein. Warum?
Eigentlich hat der Kanton viele ländliche Gebiete, die ein sehr grosses Solarpotenzial haben. Es gibt dort grosse Dächer, zum Beispiel auf Scheunen oder Lagerhäusern, an Orten wo nicht verdichtet gebaut wird. Diese Regionen könnten mehr Solarenergie produzieren als sie selbst nutzen.
Aber genau dieses Potenzial wird nicht ausgeschöpft.
Es wurde ab 2008 relativ stark genutzt, weil man damals eine Einspeisevergütung erhielt. Die fiel vor einigen Jahren weg, seither lohnt sich die Produktion von Solarstrom nur noch, wenn man ihn gleich selber verbraucht. Es gibt zu wenig wirtschaftlichen Anreiz, mehr Solarstrom zu produzieren, als man selber braucht. Das muss dringend ändern.
«Es geht nicht darum, Wasserkraft gegenüber Photovoltaik auszuspielen. Schliesslich ist Photovoltaik ohne Wasserkraft sehr schnell am Anschlag.»
Christof Bucher
Ab Januar tritt eine neue nationale Regelung in Kraft, laut ihr müssen auf allen Neubauten ab 300m2 Solaranlagen gebaut werden.
Diese Regelung bringt direkt nicht viel. Durch diese Regelung drückt man aus, dass Solaranlagen eine Selbstverständlichkeit werden. Es steht einfach im Gesetz.
Es geht also um ein Umdenken?
Ja. Wenn jetzt alle nur das gesetzliche Minimum machen, würde es nichts bringen. Aber als Signal ist es eine sehr starke Botschaft. Und ich bin überzeugt, dass diese Botschaft sehr viel weiter wirkt als das minimale Gesetz.
Sie sehen grosses Potenzial auf dem Land im Kanton Bern – könnte das Land den ganzen Kanton versorgen, wenn nun ein bisschen vorwärts gemacht werden würde?
Im Rahmen der Energiestrategie 2050 definitiv. Und was mir dabei wichtig ist: Es geht nicht darum, Wasserkraft gegenüber Photovoltaik auszuspielen. Schliesslich ist Photovoltaik ohne Wasserkraft sehr schnell am Anschlag. Das ist übrigens auch bei der Kernkraft so, auch sie hätte ein grosses Problem ohne Wasserkraft.
Warum?
Beide sind zu unflexibel. Photovoltaik kann man zwar ausschalten, aber die Energie kommt dann, wenn die Sonne scheint. Bei den Kernkraftwerken ist das Gegenteil der Fall, die Energie kommt immer, man kann sie nicht abschalten. Bisher hat man deshalb Warmwasserboiler in der Nacht mit Niedertarifen gefördert. Wir haben heute in der Schweiz noch eine Million Boiler, die mit niedrigen Nachttarifen zur Netzintegration der Atomkraftwerke in der Nacht gewärmt werden.
Wobei der Nachttarif ja in Zukunft abgeschafft werden soll.
Das ist zwingend. Es geht um Flexibilität. Es spielt ja keine Rolle, wann man den Boiler aufwärmt, warm duschen kann man immer. Aber wegen der Atomkraft sind die Boiler auf die Nacht ausgerichtet.
Wie könnte man flexibler werden?
Ich nehme das Beispiel Elektroautos. Die wird man sehr bald nicht mehr abends, wenn man um sechs heimkommt, einstecken dürfen. Das ergibt auch keinen Sinn.
Warum nicht?
Weil man das Auto erst am nächsten Morgen wieder braucht.
Und wann soll die Person das Auto aufladen?
Gut für die zukünftige Versorgungslage wäre es, das Auto anzuschliessen und zu sagen, wann man es braucht. Wichtig wäre auch, es tagsüber am Arbeitsplatz aufzuladen. Das Auto hätte dann endlich auch einen Zweck, wenn es steht. Es ist am Netz, es kann das Netz stabilisieren, es kann dynamisch geladen werden. Es kann Überschussenergie aufnehmen. Ich gehe davon aus, dass Autos in Zukunft auch oft bidirektional sein werden, dass man also wieder Energie aus ihnen herausnehmen kann, wenn man zu wenig davon hat.
Sie sprechen jetzt von einer Zukunft mit Photovoltaik.
Genau, denn das Problem der Photovoltaik ist, dass sie im Frühling und Sommer, bei einer typischen Mittagsspitze, fünf mal mehr Leistung erbringen wird, als nötig wäre.
Wir hätten also zu viel Strom.
Viel zu viel Strom. Dafür hätten wir in der Nacht zu wenig. Und diesen Ausgleich müssen wir unbedingt irgendwie hinbringen. Da haben wir im Vergleich zum Ausland viele Schalthebel. Wir haben unsere Warmwasserboiler, die Speicherkraftwerke und künftig eine riesige Flotte an Elektroautos.
Wie fern in der Zukunft liegen diese Szenarien?
Viele der Massnahmen lassen sich bereits jetzt umsetzen. Aber die Endverbraucher*innen hatten bisher zu wenig Anreize. Das ändert sich jetzt notgedrungen.
Warum?
Bei der Elektromobilität reicht es, wenn an einem Dorfrand zwei Nachbarn eine Schnellladestation für ein Elektroauto kaufen. Dann ist das Netz am Anschlag. Und weil das so schnell geht, sehen wir in Sachen Elektromobilität eigentlich viel die schnelleren Entwicklungen und den schnelleren Handlungsbedarf.
Die Elektromobilität hilft der Photovoltaik?
Ja. Wenn wir ein Elektroauto kaufen wollen, steht das übermorgen in unserer Garage. Wenn wir eine Photovoltaik-Anlage wollen, dann greifen wir zum Telefonhörer – und haben sie, wenn es gut geht, ein halbes Jahr später. Die Anlage steht danach 30 Jahre auf dem Hausdach, während wir uns vom Auto bei sich ändernden Rahmenbedingungen wieder trennen können. Das braucht Planung.
Mit anderen Worten: Die Elektromobilität kann viel schneller wachsen als die Photovoltaik.
Genau. Die ganze Schweiz mit Elektroautos ausrüsten? Das geht, wenn es sein muss, in zehn Jahren, so lange ist etwa die durchschnittliche Lebensdauer eines Autos. Aber Dächer? Die durchschnittliche Sanierungsrate von Gebäuden liegt bei einem Prozent. Das heisst, wenn wir einfach nur warten, haben wir erst in 100 Jahren das Solardächerpotential ausgenutzt.
Ist das ein Problem?
Photovoltaik entwickelt sich viel träger als Elektromobilität. Aber weil die Elektromobilität im Moment so vorwärts macht, hilft sie, den Ernst der Lage aufzuzeigen. Wegen dem erhöhten Strombedarf braucht es jetzt schnell Massnahmen, und das hilft der Photovoltaik.
Von welchem Zeitraum sprechen wir da?
Bisher waren wir in der Schweiz wie gesagt so unterwegs, dass es 100 Jahre dauern würde, bis wir das Ziel umgesetzt haben. In diesem Jahr haben wir aber vorwärts gemacht wie nie zuvor. Wenn wir jetzt jedes Jahr so weiterfahren würden, wären wir in ungefähr 30, 40 Jahren am Ziel. Wir hätten dann nur noch Elektromobilität, keine Öl- und Gasheizungen mehr, alle Atomkraftwerke wären abgeschaltet und die Wasserkraft wäre um das ausgebaut, was noch möglich ist. Alles Fehlende würde in der Jahresbilanz mit Photovoltaik abgedeckt.
Reichen 30 oder 40 Jahre?
Das ist jetzt der Kurs. Aber ich würde sagen, wegen der Versorgungssicherheit sollte man die Geschwindigkeit noch einmal verdoppeln. Dann reden wir von 15 oder 20 Jahren.
Das ist ambitioniert.
Ja, aber da ist alles hineingepackt. Wenn wir die Atomkraftwerke laufen lassen würden, bräuchten wir nur die Hälfte davon. Dann würden wir das Ziel, dass wir die fossilen Energien weitgehend aus der Schweiz drängen, im Idealfall in sieben bis zehn Jahren erreichen. Allerdings müsste dafür auch die Sanierungsrate der Gebäude massiv beschleunigt werden.
«Die Stadt könnte die Führungsrolle übernehmen, wenn es um Kreativität geht, um schöne Lösungen, um Leuchttürme.»
Christof Bucher
Und wo überall sehe ich dann Photovoltaikanlagen, wenn ich durch den Kanton Bern fahre?
Auf jedem zweiten gut geeigneten Dach. Und wenn die Atomkraftwerke wegfallen, auf jedem geeigneten Dach.
Von einer wie grossen Fläche pro Einwohner*in sprechen wir da?
Wenn wir sagen, dass die Schweiz 10 Millionen Einwohner*innen hat und 50 Gigawatt Leistung braucht, dann wären das fünf Kilowatt pro Einwohner*in. Das heisst, auf jede*n Einwohner*in kommen 25 Quadratmeter Modulfläche. In der Stadt, mit dem verdichteten Bauen, ist das schwierig, aber insgesamt haben wir genügend Dachfläche.
Und die Fassaden?
Die würden helfen. Vor allem im Winter, weil sie dann mehr Energie produzieren als Dachanlagen. Fassaden sind in diesen Plänen extra zurückhaltend berücksichtigt worden, weil es dort einfach noch einen weiteren Wandel braucht. Es braucht Visionen aus der Architektur.
Wollen Sie damit sagen, dass die Architekt*innen schuld sind?
Nein, sicher nicht. Bei repräsentativen Bürogebäuden zum Beispiel funktioniert Photovoltaik an Fassaden recht gut, ohne den leisesten Abstrich zu machen. Da sind die Fassaden vorgehängt. Im Wohnbereich ist es schwieriger, da haben wir verputzte Häuser, Bauernhäuser aus Holz. Will man dort wirklich Photovoltaik-Module vorne dran hängen?
Die Stadt Bern wurde kritisiert, weil sie sehr wenig Photovoltaik-Anlagen hat.
Bern hat zu viele schöne Gebäude. Es ist anspruchsvoll, teuer und architektonisch fragwürdig, ganze Dächerlandschaften von historischen Stadtkernen mit Solarmodulen zu belegen. Ich möchte ja auch nicht ein Bundeshaus mit einer Photovoltaik-Hülle überziehen. Die ganze Dächerlandschaft der Stadt Bern hat man bei diesen Berechnungen schon weggelassen.
Weil sie denkmalgeschützt ist?
Ja, darum ist die Kritik unangebracht. Es gibt sehr gute Gründe, warum es in Bern nicht mehr PV-Anlagen hat. Man muss sich eher überlegen, ob es nicht Orte gibt, wo es möglich wäre. Wenn ich den Bahnhofsplatz mit dem geschwungenen Glasdach anschaue, das ja extra kleine Verschattungen drin hat, damit die Leute nicht von der Sonne geblendet werden – da hätte man auch semitransparente Solarmodule installieren können. Aber die Stadt Bern wird im Photovoltaikbereich nicht die Anführerin der Energiewende sein.
Sie finden, dass man beim Photovoltaik-Ausbau auf das Umland setzen sollte.
Was die Mengenproduktion betrifft, definitiv. Und die Stadt könnte die Führungsrolle übernehmen, wenn es um Kreativität geht, um schöne Lösungen, um Leuchttürme. Ich denke, da braucht es noch mehr politischen und planerischen Willen, und da ist die Architekturbranche gefragt mit ihren Visionen, um den Bauherrschaften aufzuzeigen, was alles möglich ist.