Europawahl – «Hauptstadt»-Brief #321
Donnerstag, 23. Mai – die Themen: Europawahlen; ADHS; Kunst mit der Kettensäge; Theaterfestival; Klimapolitik; Downhill-Piste; lebendiger Journalismus und ein Neubau.
Bei dir auf dem Küchentisch liegt vielleicht noch das Couvert mit den Unterlagen für die Abstimmungen vom 9. Juni. In der Stadt Bern geht es unter anderem um Kredite für Schulbauten. Ich kann mich an der Urne nicht äussern, weil ich keinen Schweizer Pass habe und deshalb nicht stimmberechtigt bin. Ein Umschlag mit Wahlunterlagen liegt aber auch bei mir auf dem Küchentisch – jener für die Europawahl. Rund 350 Millionen wahlberechtigte Bürger*innen der Europäischen Union sind vom 6. bis 9. Juni 2024 aufgerufen, das zehnte Europaparlament zu wählen. Auch die im Ausland lebenden EU-Bürger*innen, zu denen ich zähle. Gehörte die Schweiz zur EU, könnte ich als Unionsbürger auch für Schweizer Kandidat*innen abstimmen – weil das nicht der Fall ist, muss ich mein Kreuz für Kandidat*innen aus meinem Herkunftsland machen.
Das sorgt bei mir für eine sonderbare Zeitreise, weil ich zur norddeutschen Gemeinde, bei der ich meine Wahlunterlagen bestellen muss, im Grunde keinen Bezug mehr habe. Seit 15 Jahren lebe ich nicht mehr dort.
Meine Hirnwindungen werden zudem strapaziert, wenn ich bei Politiker*innen der konservativen CDU zwischen Kandidaten eines Bundeslandes entscheiden soll, alle anderen Parteien aber nur nationale Listen führen. Vor ähnlichen Herausforderungen stehen vielleicht auch die anderen rund 17‘000 wahlberechtigten EU-Bürger*innen, die in Bern leben.
In gewisser Weise wird mein Wahlentscheid aber auch mein Leben in Bern beeinflussen. Denn die Beziehungen der Schweiz zur EU sind trotz aller Spannungen der letzten Jahre eng. Viele EU-Regelungen muss die Schweiz – Sonderrolle hin oder her – schlicht nachvollziehen.
Das Verhältnis Schweiz - EU ist auch Thema einer Ausstellung, die aktuell im Politforum Käfigturm läuft. Sie wird begleitet von verschiedenen Veranstaltungen – heute Abend diskutieren zum Beispiel die Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan, Petros Mavromichalis, Botschafter der Europäischen Union in der Schweiz, und Fabio Wasserfallen, Professur für Europäische Politik, über den Zustand der aktuellen Beziehungen.
Am 26. Juni veranstaltet die «Hauptstadt» dann zusammen mit dem Politforum ein Pubquiz zum Thema Schweiz-Europa, bei dem es neben Politik, Geschichte und Geografie auch um Sport und Monarchien gehen wird. Zusammen mit Politforum-Leiter Tom Berger werde ich durch den Abend führen – hier kann man sich anmelden.
Und jetzt noch zu anderen Themen des Tages:
- Psychische Gesundheit: Die Wartelisten für eine ADHS-Abklärung sind voll. Schweizweit muss man rund ein- bis eineinhalb Jahre warten, um abklären zu lassen, ob eine Aufmerksamkeits-Defizit-Störung mit oder ohne Hyperaktivität vorliegt. Meine Kollegin Andrea von Däniken hat mit einem Betroffenen gesprochen und sich gleichzeitig gefragt, woher der Hype um die Diagnose rührt.
- Klimapolitik: Am Mittwoch haben verschiedene Parteien und Verbände in Bern die städtische Klimagerechtigkeitsinitiative lanciert. Sie fordert unter anderem einen städtischen Klimafonds, der von den Hauptversursacher*innen der Klimakrise finanziert wird. Mit dem Geld sollen energetische Gebäudesanierungen, Photovoltaikanlagen, Förderung von Fuss- und Veloverkehr und die Gestaltung autofreier Quartiere finanziert werden. Für das Grüne Bündnis um Ursina Anderegg ist die Initiative auch Teil des städtischen Wahlkampfs.
- Theater: Seit Mittwoch geht das Auawirleben-Festival über die Bühne. Es beschäftigt sich in diesem Jahr mit der Frage, wie wir als Gesellschaft in den aktuellen Schlamassel geraten sind – «How did we get there?». Und wie wir trotz Kriegen, Klimakrise, Rechtsrutsch trotzdem die Kurve kriegen könnten. Einen Beitrag zur Verbesserung der Welt, wie wir sie kennen, leistet das Festival seit jeher bei der Barrierefreiheit. Unsere Kolleg*innen von «Reporter*innen ohne Barrieren» haben mit der Dramaturgin Silja Gruner darüber gesprochen, warum Zugänglichkeit für das Festival ein grosses Anliegen ist.
- Kunst: Ich weiss nicht, wie es dir geht, aber bei der Erschaffung grossformatiger Portraits denke ich zuerst an Pinsel – und nicht an Kettensägen. Genau diese nimmt aber der Berner Künstler Andreas Wiesmann zur Hand, um zweidimensionale Holzschnitte zu erstellen. Derzeit fertigt er Porträts von Menschen an, die im Asylzentrum in Steffisburg wohnen – was es damit auf sich hat, verrät er in der neuesten Fotokolumne.
- Bikesport: Am Gurten soll eine erweiterte Downhillpiste für Mountainbiker*innen entstehen. Geplant sei eine 2,4 Kilometer lange Neubaustrecke durch den Wald, wie Radio SRF berichtet. Diese sei länger, flacher und weniger gefährlich als ihre Vorgängerin. Ausserdem werde so der Unterhalt erleichtert. Gegen das Projekt liegt laut SRF allerdings noch eine Einsprache vor. Derzeit kurven jährlich bis zu 50'000 Personen von der Bergstation des Gurtenbähnli durch den Gurtenwald hinunter nach Wabern.
- Neubau: Bei der Sport- und Freizeitanlage Weyermannshaus sollen Beachvolley-Sportler*innen eine neue Heimat bekommen. Für das «Home of Beach» beantrage der Gemeinderat dem Stadtrat, das Grundstück im Baurecht abzugeben, wie dieser am Donnerstag mitteilte. Der Gemeinderat beantragt ausserdem zwei Verpflichtungskredite in Höhe von 5,84 Millionen Franken. Der Neubau des Beachcenters ist Teil einer grösseren Umgestaltung des Gebiets – am 9. Juni wird an der Urne über den Rahmenkredit für die öffentliche Infrastruktur abgestimmt.
- Lebendiger Journalismus: Zwischen Freitag und Sonntag sind 45 Reporter*innen aus 25 Ländern in Bern zu Gast für das «True Story Festival». Am Samstag wird das Schauspiel-Ensemble von Bühnen Bern einen der nominierten Texte als szenische Lesung in der Mansarde des Stadttheaters präsentieren. Am Sonntagnachmittag ist auch die «Hauptstadt» involviert: Meine Kollegin Marina Bolzli spricht mit dem syrischen Investigativjournalisten Mohammed Bassiki, mein Kollege Jürg Steiner lässt sich vom nigerianischen Journalisten Justice Nwafor erklären, wie Separatisten in Kamerun ihren Aufstand über eine App finanzieren.
- Denkmal: Die Stadt Bern hat den Kindlifresserbrunnen auf dem Kornhausplatz neu beschriftet. Die Informationstafel erwähne nun auch einen seit dem 19. Jahrhundert kursierenden antisemitischen Interpretationsansatz, wie die Stadt am Mittwoch mitteilte. In der bisherigen Beschriftung war nur die Deutung der Figur als Kinderschreck berücksichtigt worden.
PS: Das «Festival der Natur» macht derzeit Biodiversität zum Thema. Dafür spannen Akteure aus Naturschutz, Landwirtschaft, Tourismus und Verwaltung zusammen. In Bern spricht zum Beispiel am Freitagabend Silvia Hunkeler im Zentrum Eichholz über die (Rück-) Verwandlung der Elfenau in eine Auenlandschaft.