Was bedeutet eigentlich Fachkräftemangel?
Kein Thema beschäftigt die Berner KMU mehr als der Fachkräftemangel. Was genau ist das Problem? Und wie könnten Lösungen aussehen? Eine Auslegeordnung.
Die Stimmung im Herbst 2022 hat sich aufgehellt. Deutlich mehr kleine und mittlere Unternehmen (KMU) als im Vorjahr (43 Prozent) haben den Umsatz gesteigert, über ein Viertel der Berner Unternehmen rechnen auch in den kommenden Monaten mit einem Wachstum. Das schreibt der Gewerbeverband Berner KMU in seinem neusten Barometer, den er seit 2020 jeden Jahr veröffentlicht. Er misst mit einer repräsentativen Umfrage bei den Unternehmen im Kanton deren Stimmung.
Allerdings sind sie gleichzeitig mit Schwierigkeiten konfrontiert, die dieses Wachstumspotenzial schwächen: Sie finden nicht oder nur mit Mühe Personal, das die Umsatzsteigerungen bewältigen könnte. Der Fachkräftemangel ist die wichtigste Sorge der Berner KMU, und sie ist im Vergleich mit den Vorjahren auch grösser geworden, wie der Barometer nachweist
Das Problem ist an sich nichts Neues: Handwerkliche Branchen – zum Beispiel Bäckereien – kämpfen seit längerem mit Rekrutierungsschwierigkeiten, ebenso das Ingenieurwesen, der IT-Sektor und die Pflege. Das Spital Thun STS versucht etwa gerade, mit einer Videokampagne dem Arbeitskräftemangel entgegenzutreten.
Neue Branchen betroffen
Das Fehlen geeigneter Arbeitskräfte akzentuiert sich in diesem Jahr nicht nur, sondern greift auch verstärkt auf weitere Branchen über. Auf Gastro und Hotellerie etwa sowie den Detailhandel, Apotheken zum Beispiel. Das stellt der Gewerbeverband KMU Stadt Bern fest. Notorisch ist der Fachkräftemangel im Bereich der öffentlichen Verwaltung – so sehr, dass er sogar zum Argumentarium der Befürworter*innen einer allfälligen Fusion von Ostermundigen mit der Stadt Bern gehört: «Eine grössere Gemeinde hat tendenziell bessere Karten am hart umkämpften Arbeitsmarkt.»
Die Konsequenzen des Fachkräftemangels erschöpfen sich nicht in getrübten Wachstumsaussichten einzelner Unternehmen oder unbesetzten Stellen auf Gemeindeverwaltungen. Sie zeigen sich auch im gebremsten technologischen und gesellschaftlichen Wandel. Der in der Schweiz für die Energiewende zu schleppende Zubau von Fotovoltaikanlagen hat auch damit zu tun, dass die Solarbranche zu wenig Personal findet. Sie will sich jetzt unter damit behelfen, ab Herbst 2024 eine neue Berufslehre als Solarinstallateur*in zu lancieren.
Rekordtiefe Arbeitslosigkeit
Sehr oft wird die Akademisierung als Mit-Ursache für den Fachkräftemangel angeführt. Während praktische Lehrstellen unbesetzt blieben, würden beispielsweise zu viele Historiker*innen ausgebildet, was den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts nur teilweise entspreche.
Dieser Begründung steht entgegen, dass die Arbeitslosenquote im Kanton Bern zurzeit auf rekordtiefem Niveau liegt: Für den September meldete der Kanton einen Wert von 1,4 Prozent – tiefer lag die Arbeitslosigkeit letztmals vor über 20 Jahren. Das spricht nicht dafür, dass zu viele falsch ausgebildete Menschen auf den Arbeitsmarkt kommen.
Allerdings ist gut möglich, dass in den nächsten Monaten eine wirtschaftliche Baisse kommt und die Arbeitslosigkeit wieder steigt, wenn erste Firmen Konkurs gehen oder weniger Aufträge haben. Dann erschiene der Fachkräftemangel plötzlich wieder in anderem Licht.
Die Frage ist: Gibt es tragfähige, langfristige, neue Ideen, die die grösste Sorge der Berner KMU-Wirtschaft entschärfen könnten? Oder ist man dem Fachkräftemangel einfach ausgeliefert? Die «Hauptstadt» versucht in den nächsten Wochen, abseits ausgetretener Argumentationspfade, Lösungsansätze auszuleuchten.
Arbeitskräfte aktivieren
Grundsätzlich gilt: Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht lässt sich der Fachkräftemangel nur beheben, wenn mehr Menschen in den Arbeitsprozess geholt werden. Das können neu aktivierte Arbeitskräfte wie Mütter, die bis dahin tiefprozentig oder gar nicht gearbeitet haben, Asylsuchende, Rentner*innen oder IV-Rentner*innen sein. Oder es können Arbeitskräfte aus dem Ausland sein.
«Ohne Zuwanderung geht es nicht», sagt beispielsweise Michael Siegenthaler, Leiter der Rechercheabteilung Schweizer Arbeitsmarkt bei der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich. «Die Schweiz hat in den letzten Jahren über eine Million zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Ausland geholt.»
Für ihn, der streng die gesamtwirtschaftliche Situation anschaut, ist klar: Wenn weiterhin so viele zusätzliche Arbeitsstellen entstehen wie im Schnitt der letzten 20 Jahre, können diese höchstens teilweise durch neu aktivierte Arbeitskräfte gedeckt werden. In der jüngeren Vergangenheit brauchte es für eine von vier ausgeschriebenen Stellen Zuwanderung oder Grenzgänger*innen. Das dürfte in Zukunft nicht anders sein.
Ein Nullsummenspiel?
Das liege ganz einfach an der demografischen Struktur. Eine andere Lösung zur Bekämpfung des Fachkräftemangels sieht er im eher theoretischen Versuch, das Stellenwachstum zu bremsen oder sogar die Standortaktivität zu schwächen. Etwas, was bei den derzeitigen politischen Verhältnissen schlicht nicht umsetzbar wäre.
Aus dieser Perspektive ist es teilweise ein Nullsummenspiel, wenn einige Arbeitgeber*innen oder Branchen an den Arbeitsbedingungen schrauben, um attraktiver für Arbeitnehmer*innen zu wenden. Denn: «Das ist nur dann eine gesamtwirtschaftliche Lösung, wenn sie mehr Leute dazu bringt, eine Arbeit aufzunehmen oder in die Schweiz zu ziehen. Sonst funktioniert das vielleicht für den einzelnen Betrieb, der ist dann attraktiver – dafür fehlen die Arbeitskräfte woanders», sagt Siegenthaler.
Das Potenzial an Arbeitskräften in der Schweiz sei schlichtweg zu klein. Ob daher durch Steigerung der Attraktivität eines Arbeitsplatzes das Grundproblem des Fachkräftemangels allein mit ansässigen Arbeitskräften behoben werden kann, hält er für fraglich.
Widersprüchlich ist in diesem Zusammenhang der Umgang mit älteren Arbeitskräften. Laut einer Arbeitsmarktstudie, die das Forschungsinstitut Sotomo des Zürcher Politgeografen Michael Hermann für den Versicherungskonzern Axa realisierte, praktizieren viele KMU formelle oder informelle Altersgrenzen: Jedes zehnte Unternehmen stellt keine Mitarbeiter*innen neu an, die älter als 45 Jahre alt sind – obschon ältere Mitarbeiter*innen durch die KMU-Verantwortlichen generell positiv beurteilt würden. Mit ein Grund für die Nichtberücksichtigung älterer Mitarbeiter*innen dürften die Sozialversicherungskosten sein, die steigen, je älter ein*e Angestellte*r wird.
Lässt sich nur so wenig tun?
Menschen in den Arbeitsmarkt zu holen, bedeutet nicht nur, sie auszubilden und Strukturen zu schaffen wie Kinderbetreuung, sondern auch, ihren Ansprüchen an den Arbeitsplatz entgegenzukommen. Dass sich diese Ansprüche gerade ändern, ist offensichtlich – zum Beispiel zu Teilzeitarbeit oder unbezahltem Urlaub.
Erstaunliches hat Michael Hermann in der Axa-Studie herausgefunden: 38 Prozent der Schweizer KMU stehen einer Viertagewoche – die der Vereinbarkeit von Beruf und Familie entgegekäme – im Grundsatz positiv gegenüber. Bei grossen KMU sind es sogar 43 Prozent. «Der verbreitete Mangel an Fachkräften könnte hier zu einem Abbau mentaler Barrieren beigetragen haben und die Offenheit für neue Ansätze auch im KMU-Bereich fördern», so Michael Hermann.
Eigentlich ist diese Entwicklung überfällig – auch aus psychologischer Sicht. Norbert Semmer beschäftigt sich seit 50 Jahren aus wissenschaftlicher Sicht mit dem Arbeitsmarkt. Er war Professor für Arbeitspsychologie an der Universität Bern, inzwischen ist er emeritiert. «Die Intensität der Arbeit hat zugenommen. Heute müssen die Leute in den acht Stunden bedeutend mehr schaffen als vor etwa 30 Jahren.»
Er beobachtet einen Wandel in der Einstellung zum Job. «Früher waren viele froh, überhaupt eine Stelle zu haben», so Semmer. Die Arbeitnehmer*innen hätten sich stark mit ihren Arbeitgeber*innen identifiziert und seien vielfach ein ganzes Arbeitsleben lang ihrer Firma treu geblieben. Heute werde Flexibilität verlangt, man müsse parat sein, das Unternehmen zu wechseln, da entwickle sich weniger Identifikation. Zudem möchten viele mehr Zeit für Familie und Freizeit.
Wert der Wertschätzung
Gerade die jüngere Generation wird mit dem Begriff des «Quiet Quitting» in Verbindung gebracht. Die «innerliche Kündigung» beschreibt die Haltung, dass Arbeitnehmer*innen die vertraglich vereinbarte Leistung bringen – nicht mehr, nicht weniger. Überstunden und andere Zusatzefforts wollen die Quiet Quitter*innen nicht leisten. Mit dieser Haltung liegt es auch näher, einen Job tatsächlich zu kündigen, wenn er den eigenen Anforderungen nicht mehr genügt.
Was in der Situation eines Fachkräftemangels schwer zu verkraften ist. Norbert Semmer sieht Möglichkeiten, wie Arbeitgeber*innen ihre Mitarbeiter*innen halten können: «Sehr wichtig ist die Wertschätzung. Ist diese vorhanden, lässt sich auch besser mit Stress umgehen.»
Ausdrücken kann sich die Wertschätzung in einem angemessenen Lohn und einem freundlichen Umgang miteinander, aber auch durch eine gute Arbeitsgestaltung. Als zentral erachtet Semmer die Autonomie. «Wer seine Angestellten ständig überwacht und interveniert, drückt Misstrauen aus.» Können Arbeitnehmer*innen aber ihre Arbeit selbst einteilen, werde ihnen so signalisiert, dass die Chef*innen ihnen vertrauen – und sie wertschätzen.