«Alle verbinden mit dem ‹Chessu› eine Geschichte»
Auf dem Gaswerkareal soll eine Überbauung mit bis zu 500 Wohnungen entstehen. Mittendrin: das Jugendkulturzentrum Gaskessel, das so viele Jugendliche anzieht wie noch nie.
Lena Käsermann (27), die Co-Leiterin des Jugend- und Kulturzentrums Gaskessel, und Vorstandsmitglied Nina Elmer (21) verkörpern ziemlich genau den Grundsatz des Gaskessels: Die sechs Jahre jüngere Nina Elmer ist eine der Vorgesetzten von Lena Käsermann.
«Den Vorstand des Gaskessel besetzen zurzeit 70 Prozent 18- bis 25-Jährige», sagt Co-Leiterin Käsermann. Der «Chessu», wie ihn ganz Bern nennt, verankere damit den Grundsatz «von Jugendlichen, für Jugendliche» strukturell.
Die Strategie scheint hilfreich. Während viele Betriebe des Nachtlebens seit längerer Zeit weniger Gäst*innen und damit weniger Einnahmen beklagen, ist die Zahl der Vereinsmitglieder des Gaskessels im letzten Jahr sogar um rund 50 Prozent angestiegen. Der «Chessu» zähle über 200 Vereinsmitglieder und platze aus allen Nähten, heisst es im Jahresbericht.
Das müsse man aber differenzieren, sagt Lena Käsermann. Anzahl Besucher*innen und Anzahl Vereinsmitglieder seien nicht dasselbe. Mehr Vereinsmitglieder bedeuten für den «Chessu» mehr Bedarf an Ressourcen und nicht mehr Einnahmen. «Den Gaskessel kann man nicht mit anderen Betrieben des Nachtlebens vergleichen.» Sie hätten den Auftrag für soziokulturelle Jugendarbeit. Dafür gebe es die Strukturen im Verein – und nicht für Veranstaltungserfolge.
Was den Gaskessel zur Zeit auch beschäftigt ist seine unmittelbare Umgebung: Die Stadt Bern plant auf dem ehemaligen Industrie- und heutigen Zwischennutzungs-Areal um ihn herum eine grosse Überbauung mit Wohn- und Schulraum sowie Arbeitsplätzen. Der «Chessu» soll Teil des Areals bleiben. Mit der unmittelbaren Nähe zum geplanten Wohnraum erhöht sich aber die Möglichkeit, dass Lärmklagen entstehen.
Die Stadtberner Stimmberechtigten befinden am 30. November über die Richtlinien der Überbauung.
«Man kann einfach kommen»
Doch zuerst zurück zur Frage, was den «Chessu» auszeichnet, dass die Anzahl der Vereinsmitglieder so stark gestiegen ist?
«Wir fragen nicht nur pro forma nach der Meinung junger Menschen und machen dann trotzdem etwas anderes», nennt Lena Käsermann als Beispiel, wie Partizipation im Gaskessel aussieht. Sie meint damit: Wer Mitglied im «Chessu» werde, könne im Nachtbetrieb mitarbeiten, mitgestalten und zum Beispiel auch Events organisieren. Ein Mitgliederbeitrag wird nicht verlangt. Die einzige Voraussetzung ist das Mindestalter von 16 Jahren.
Diese Niederschwelligkeit funktioniert: Oft würden Jugendliche Mitglied, weil ihre Freund*innen auch schon dabei sind. Und im familiären Verein ergäben sich dann neue Freundschaften, sagt Nina Elmer. Auch sie ist vor drei Jahren so in den Verein gekommen. Seit 2025 arbeitet sie im Vorstand mit.
Man gebe allen, die kommen, einen Vertrauensvorschuss, sagt Lena Käsermann. Das führt dazu, dass Jugendliche sich in ihrer Selbstwirksamkeit erproben können, indem sie etwa Veranstaltungen organisieren. Unter der Woche sei der Kulturraum offen für Mitglieder. «Man kann einfach kommen und mitmachen bei Projekten», sagt die Co-Leiterin. Und jedes Wochenende gibt es Events für Menschen zwischen 16 und 25 Jahren.
Nach Angaben der Stadt veranstaltet der Gaskessel pro Jahr rund 140 jugendkulturelle Events.
Auch die Standortgunst sei nicht zu unterschätzen: Auf dem unbebauten Areal des früheren Gaswerks unten an der Aare sei man für sich. «Es ist ein Schutz- und Experimentierraum, und du bist nicht so ausgestellt wie in der Aarbergergasse», findet Käsermann. Gleichzeitig sei der Gaskessel gefordert, konstant ein gutes Programm zu bieten, damit die Menschen runter ins Marzili kommen: «Das werten wir als Vorteil.»
Mehr Mitglieder, weniger Platz
Die wachsende Zahl der Vereinsmitglieder führe aber zu Herausforderungen, sagen Käsermann und Elmer: Der Platz für Mitglieder und Angestellte sei knapp. Das Gebäude sei seit über zehn Jahren sanierungsbedürftig. Der «Chessu» möchte die ursprüngliche Kapazität wiedererlangen. Diese musste er reduzieren, weil die Notausgänge nicht mehr den aktualisierten Sicherheitsauflagen entsprechen, sagt Käsermann.
Ausserdem sei es finanziell eng, obschon die Stadt den Gaskessel mit einem Leistungsvertrag abgelte. «Wir sind zu 71 Prozent eigenfinanziert. Gleichzeitig leisten wir seit Jahren mehr, weil der Bedarf in Bezug auf die Jugendarbeit und Begleitung sowie Prävention im Bereich der psychischen Gesundheit der Jugendlichen steigt», sagt Käsermann. Bei der Höhe der Eintrittspreise habe man die Zahlungsmöglichkeit der jungen Zielgruppe ausgereizt.
Deshalb setzte sich der Gaskessel für eine Erhöhung des Beitrags der Stadt ein – offenbar mit Erfolg: Mitte Oktober teilte die Stadtregierung mit, dass sie den Gaskessel für die Jahre 2026/2027 mit insgesamt 1,59 Millionen Franken entschädigen will – das sind pro Jahr 155’000 Franken mehr als bisher. Diesen Betrag muss der Stadtrat noch absegnen.
Um wieder den gängigen Betriebsstandards zu entsprechen und damit auch mehr Raum zur Verfügung zu haben, ist eine Sanierung des Gaskessels geplant. Diese werde sicherlich später als Frühling 2027 beginnen. «Wir möchten mit dem Bedarf an Jugendkultur mitwachsen. Dafür brauchen wir mehr Ressourcen», sagt Nina Elmer.
Eine Zäsur in der Biografie
Der Gaskessel versteht sich auch als Bildungsstätte. Mit der hohen Fluktuation, die sich durch den jung gehaltenen Vorstand ergibt, würden die Leute das «Chessu»-Team immer dann verlassen, wenn sie Kompetenzen erworben haben. Aber genau das sei ja die Idee.
Der «Chessu» spiele in vielen Biografien eine zentrale Rolle. «Er ist eine persönliche Zäsur bei allen, die hier waren», sagt Lena Käsermann.
«Unter der Woche stogglen immer wieder ältere Leute mit ihrem Date oder Freund*innen hier in den Gaskessel rein», erzählt Käsermann. Sie erklärten dann, dass sie «nur kurz» ihren Bekanntschaften zeigen wollten, wo sie ihre Jugend gelebt haben. «Ich glaube, es gibt niemanden in Bern, der keine persönliche Geschichte mit dem ‹Chessu› verbindet.»
Der «Chessu» im Sandwich
Jedoch stehen dem Gaskessel nun einschneidende Veränderungen bevor. Die Stadt Bern plant seit rund zehn Jahren auf etwa 60’000 Quadratmetern des Gaswerkareals eine Überbauung mit bis zu 500 Wohnungen, 300 Arbeitsplätzen sowie Schulraum für über 500 Schüler*innen. Das Areal befindet sich zwischen Sandrainstrasse und Aareufer, beginnt bei der historischen Ryff-Fabrik an der Marzilistrasse und endet nach etwa 550 Metern beim Sportplatz. Der Gaskessel steht also mittendrin.
Am 30. November entscheiden die Berner Stimmberechtigten über die baurechtlichen Rahmenbedingungen der Überbauung (konkret: eine neue Zuordnung zu einer Zone mit Planungspflicht, kurz ZPP) und zwei weitere Vorlagen in Bezug zum Areal ab. Was das genau bedeutet, liest du in der Box weiter unten.
Aus der Sicht des Gaskessels wichtig ist: Mit der «Zone mit Planungspflicht» werden einige Eckpunkte der künftigen Überbauung festgelegt. Für den heutigen Standort des Gaskessels zum Beispiel ist Folgendes festgeschrieben: «Der Betrieb eines Jugend- und Kulturzentrums mit genereller Überzeitbewilligung und mit lärmintensiven Anlässen während den Nachtstunden sowie Sport-, Freizeit- und Kulturanlässen, die bis zur Nachtruhe im erweiterten Aussenbereich rund um das Jugend- und Kulturzentrum stattfinden, wird gewährleistet».
Seit über 10 Jahren ist die Überbauung Thema für den Gaskessel, weshalb sich das Team des Gaskessels mit Co-Leiterin Lena Käsermann für dessen weitere Existenz engagiert. Seit 2021 setzt es sich konkret für günstige Bedingungen des Jugendkulturzentrums in den Richtlinien der ZPP ein.
Käsermann ist fast seit Beginn der Planung dabei: Kurz bevor sie mit 16 Jahren in den Gaskessel Verein eingetreten ist, hatte sie die Jugendmotion zum Standorterhalt des «Chessus» unterschrieben. 2014 habe das Bauunternehmen Losinger Marazzi im Auftrag der damaligen Grundstückbesitzerin EWB eine Testplanung für das Gaswerkareal gemacht, in der der Gaskessel als Störfaktor verschoben werden sollte, erinnert sich Käsermann.
Die heutige Co-Leiterin wurde daraufhin Vereinsmitglied, stieg bald in den Vorstand ein und übernahm von 2015 bis 2021 das Ressort Öffentlichkeitsarbeit und politische Arbeit, in das das Gaswerkareal damals fiel. Sie hat damit die Entwicklungen und Debatten um den «Chessu» und das Gaswerkareal nah mitverfolgt und mitgeprägt.
Salopp gesagt bedeutet die Überführung in eine Zone mit Planungspflicht Folgendes: Das Areal wird als Ganzes geplant, obschon es in einzelne Baufelder unterteilt wird, auf denen später zum Teil die Stadt selber, zum Teil private Investoren ihre Bauprojekte realisieren. Konkret bedeutet das, dass Grundsätze der künftigen Überbauung in Vorschriften festgelegt werden – zum Beispiel zur Erschliessung, zum Umgang mit Baudenkmälern auf dem Perimeter, zur Nutzung in den einzelnen Sektoren, zum Lärm- und Uferschutz.
Auf rund 60’000 Quadratmetern soll ein «nachhaltiges, baulich dichtes und nutzungsdurchmischtes Stadtquartier» entstehen, das Wohnen, Schulraum, Gewerbe und Freizeit vereint. Neben den bereits erwähnten Zielen sind folgende Punkte festgelegt:
Mindestens drei Viertel der 300 bis 500 Wohnungen sollen im preisgünstigen Segment vermietet werden.
Die Geschichte der industriellen Produktion und der alternativen Lebens- und Jugendkultur soll auf dem Areal ablesbar und der Gaskessel sowie andere schützenswerte Gebäude (zum Beispiel die Ryff-Fabrik oder deren Direktoren-Villa an der Sandrainstrasse) bleiben erhalten.
Deshalb soll die Lärmgrenze für einen Teil des Areals erhöht werden.
Mit der ZPP liegen aber noch keine konkreten Baupläne vor, wie das Gaswerkareal dereinst aussehen soll. Gemäss Entwicklungsplan soll das Areal in Etappen entwickelt werden.
Die erste Etappe sei mit der Realisierung des Schulhaus- und Turnhallenprovisoriumsbereits abgeschlossen. Als zweite Etappe sei die Sanierung des Gaskessels vorgesehen. Die dritte Etappe sehe die ersten Neubauten mit Wohnen und Gewerbe im Sektor Ryff-Fabrik vor, schreibt der Informationsdienst der Stadt Bern auf Anfrage.
Die Ausschreibung eines Projektwettbewerbs für die Ryff-Fabrik sei für 2026 vorgesehen. Der Baubeginn dieser Etappe werde frühestens ab 2028 möglich sein. Die restlichen Projektwettbewerbe werden anschliessend bis voraussichtlich 2028 durchgeführt. Der Bezug der letzten Etappe (Areal-Mitte) hänge von der Nutzungsdauer des Schulhaus- und Turnhallenprovisoriums ab und sei vor 2033 nicht möglich, so der Informationsdienst.
Lena Käsermann ist zufrieden mit den Verhandlungsergebnissen in der ZPP-Verordnung, die den Gaskessel betreffen: «Was man im Sinne des Gaskessels sichern konnte, haben wir in der ZPP gesichert», sagt Käsermann.
Die Zukunft bleibt unsicher
Die Schwierigkeit sei für den «Chessu»: «Wir wissen nicht, was genau kommt.» Es gebe zwar ein Richtprojekt, das eine Überbauung visualisiert und die – allgemein gefassten – Richtlinien in der ZPP. Aber das alles heisse noch nicht, dass die Überbauung an sich kein Problem für den «Chessu» darstelle. Aus Sicht des Gaskessels habe man noch nicht für alle Knackpunkte eine Lösung gefunden.
Zum Beispiel brauche der «Chessu» um den Haupteingang, der auf die gegenüberliegende Seite in Richtung Marzili verlegt werden soll, genug freie Fläche für die Besucher*innen. Dies, damit er Sicherheit und Aufenthaltsqualität gewährleisten könne. Grund für die Verlegung des Haupteingangs sei die zukünftig hohe Wohnnutzung im Süden.
Auch die Zu- und Wegfahrt zum Jugendkulturzentrum sei noch nicht geklärt. Und wichtig sei für den Gaskessel zudem, wie die Wohnquartiere rundherum geplant würden. Seien sie zu durchlässig, bestehe die Gefahr, dass Besuchende des «Chessus» in die Wohnräume ausschwärmen. Das maximiere das Konfliktpotenzial mit Lärm und anderen Begleiterscheinungen des Nachtlebens, sagt Käsermann.
Die Richtlinien der ZPP würden das Minimum an Vorschriften festlegen, um die weitere Planung so zu gestalten, dass der Gaskessel damit funktionieren könne, sagt die Co-Leiterin. Die Zukunft des Jugendkulturzentrums sei zwar durch die breite Abstützung der Stadt in einem politischen und ideellen Sinn gesichert.
Nun müsse sie einfach auch planerisch so gestaltet werden. Man sei eben noch nicht dort, wo alles für ein problemloses Weiterbestehen des Gaskessels definiert sei, schliesst Lena Käsermann.
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