Die vergessenen Kinder
Freizeitaktivitäten für geflüchtete Kinder sind in Kollektivunterkünften nur marginal vorgesehen. In der Containersiedlung Viererfeld sind sie trotzdem entstanden. Wie war das möglich?
Wie ein Mahnmal steht das grosse, weisse Tipi-Zelt verlassen im dichten Herbstnebel des Viererfelds. Ein Mahnmal für Freizeit und Freiheit.
«Kinder sind wild, aber das Gelände eignet sich heute für wilde Kinder. Es ist bei uns ein bisschen wie auf einem Campingplatz geworden», sagt Francesca Chukwunyere, Betriebsleiterin der temporären Unterkunft Viererfeld (Tuv): «Ich glaube, Kinder fühlen sich hier ziemlich wohl.»
Das ist ein erstaunlicher Satz. Denn Kinder und ihr Recht, spielen zu dürfen, werden bei der Unterbringung von geflüchteten Menschen in der Schweiz normalerweise weder richtig mitgedacht noch ausreichend finanziert.
Warum es in der Containersiedlung Viererfeld anders gekommen ist, das wollte die «Hauptstadt» bei einem Besuch in Erfahrung bringen. Die Kinder sind an diesem Vormittag in der Schule, deshalb sind die Spielorte gerade ungenutzt.
«Essen, trinken, schlafen»
Die Tuv ist die grösste Asylsiedlung in der Schweiz. 2022, kurz nach Beginn des Kriegs in der Ukraine, wurden in langen Reihen 450 Container aufgestellt, in denen Betten für eine Maximalauslastung von 620 Menschen zur Verfügung stehen. Aktuell leben knapp 500 Menschen im Viererfeld. Die Stadt Bern, regionale Partnerin des Kantons für die Betreuung von Schutzsuchenden, hat die Leitung der Siedlung an die Heilsarmee übergeben. Der Betrieb der Tuv ist auf drei Jahre befristet, im Sommer 2025 soll sie geschlossen werden.
«Essen, trinken, schlafen.» Das, sagt Francesca Chukwunyere, beinhalte der Auftrag des Kantons an die Heilsarmee in Bezug auf die Beherbergung von Flüchtlingen mit Status S. Mehr nicht. Für alles, was die Betreiber*innen der Unterkunft darüber hinaus anbieten wollen, müssten sie andere Finanzquellen finden.
Das betrifft auch Kinder. Die Behörden, sagt Chukwunyere, «gehen grundsätzlich davon aus, dass die Eltern zu den Kindern schauen». Deshalb waren in der Grundausstattung des Viererfelds beispielsweise Sozialräume für die Freizeit – Spielzimmer oder Spielplätze – nicht vorgesehen.
Magischer Moment
Thomas Eberhard, Co-Geschäftsleiter des Dachverbands für offene Arbeit mit Kindern in der Stadt Bern (Dok), erinnert sich an eine Sitzung im Frühjahr 2022. Eben war bekannt geworden, dass binnen weniger Tage vor allem Familien – mit oder ohne Väter – aus der Ukraine in die damals neu aufgestellten Container ziehen würden. Die Kinder, so war es geplant, würden auf dem Areal die Schule besuchen, einen Halbtag fünfmal die Woche.
Aber was ist mit der Freizeit?
«Uns war sofort klar», sagt Thomas Eberhard, «dass da über 100 Kinder in eine Umgebung kommen, die nicht für sie vorgesehen ist und in der es nichts für sie hat.» Es sei ein Schock gewesen. Mitarbeiter*innen des Dok, der Stadt, der Kirchen- und Quartierarbeit seien um einen Tisch gesessen, da habe jemand in die Stille gesagt: «Jedes Kind hat das Recht zu spielen. Jedes.»
Das sei eine Art magischer Moment gewesen, findet Eberhard im Rückblick. Noch bevor jemand wusste, ob das Geld dafür aufgetrieben werden kann, begannen Freiwillige aus dem Quartier und Fachpersonen zusammen mit der Zentrumsleitung ein kinderfreundlicheres Umfeld zu schaffen: Sie richteten einen Container mit Spielzimmer oder eine Feuerstelle ein – und stellten ein Tipi auf. Man pflanzte auch schattenspendende Bäume, um den Aussenraum in der Sommerhitze nutzbar zu machen. Fundrising dafür betrieb die Heilsarmee, die sich die Kosten von 66'000 Franken mit Stadt und Burgergemeinde teilte.
Dok-Co-Geschäftsleiter Eberhard ist auch Kinder- und Jugendpsychologe. «Spielen», sagt er, «ist für die gesunde Entwicklung von Kindern unabdingbar und für die Verarbeitung schlimmer Erlebnisse zentral.»
Das unterstreicht auf Anfrage auch Nina Hössli, Leiterin der Schweizer Programme der international tätigen Kinderrechtsorganisation Save the Children: «Unabhängig vom Aufenthaltsstatus brauchen Kinder eine Umgebung, wo sie Schutz, Förderung, Normalität und Stabilität erleben. Sie brauchen Momente, in denen sie unbeschwert Kind sein dürfen.» Save the Children beschaffte die Mittel, um bei der Containersiedlung einen Aussenspielplatz einzurichten.
Sehr viel Energie
Für Stabilität und Förderung sorgen mehrere Sport-, Spiel- und Bewegungsprogramme, die unter anderem von einem professionellen Dok-Team wöchentlich angeboten und in den Ferien verstärkt werden. Nicolas Tognini ist für soziokulturelle Animation zuständig und koordiniert diese Aktivitäten in der Unterkunft. Seine Anstellung wird von der Heilsarmee finanziert.
Ursprünglich kam Tognini über «Rock the Block» ins Viererfeld, ein niederschwelliges Bewegungsangebot für Kinder und Jugendliche in sozioökonomisch eher benachteiligten Quartieren. Konzipiert hat es eine Gruppe von Sportwissenschaftler*innen der Universität Bern, zu der auch Tognini gehört.
Die meisten Kinder in der Siedlung Viererfeld «haben sehr viel Energie», sagt Tognini. Logisch, findet er: In den engen und kargen Containerzimmern sei kein Platz zum Spielen. Zudem würden sie und ihre Familien natürlich die Fluchterfahrung belasten. Aber auch die kulturellen Unterschiede seien eine Herausforderung. Rund ein Drittel der Ukrainer*innen in der Containersiedlung sind Roma.
«Die Familien hier schauen sehr gut zu ihren Kindern. Aber eben anders, als wir das gewohnt sind», sagt Francesca Chukwunyere. Das bestätigt Nicolas Tognini: Die Art, wie sie miteinander umgehen, sei direkter, rauer: «Aus der Sicht vieler Eltern hier sind wir eher zu lieb mit ihren Kindern.»
Dazu komme die Sprachbarriere: Die Kinder vom Viererfeld gehen auf dem Gelände zur Schule und lernen dort zwar Deutsch. Aber weil sie auch die meiste Freizeit auf dem Areal verbringen, findet der Austausch mit dem Quartier und die Verfestigung der Sprachkenntnisse selten statt. Im Gegenteil: Ein türkischer Junge, der einige Wochen / Monate mit seiner Familie im Viererfeld lebte, aber im Quartier die Schule besuchte, habe mit der Zeit sogar ukrainisch gelernt.
Erfahrungen für die Tiefenau?
Dass es allmählich immer besser gelungen ist, das Vertrauen der geflüchteten ukrainischen Eltern für die offene Kinder- und Bewegungsarbeit made in Bern zu gewinnen, kann man als Erfolg des Engagements bezeichnen, das im Frühjahr 2022 unbürokratisch begann. Viele der im Durchschnitt über 100 Kinder, die in der Unterkunft Viererfeld leben, nutzen die Angebote. «Die Eltern haben schnell gemerkt, wie gross für sie die Entlastung ist, ihre Kinder betreut und beschäftigt zu wissen», sagt Francesca Chukwunyere.
Auf den ersten Blick trägt paradoxerweise auch der Zaun dazu bei, der um die Siedlung errichtet und oft kritisiert wurde. «Er ist unser Laufgitter», sagt Chukwunyere – und aus Sicht der Eltern eine Garantie, dass kein Kind in einem unachtsamen Moment das Gelände verlassen und sich in Gefahr bringen könnte.
Eine andere Frage ist, ob die im Viererfeld gesammelten Erfahrungen mit der Betreuung von Kindern auch in anderen Kollektivunterkünften nutzbar sind. «Die Unterkunft im Viererfeld ist ein Ausnahmefall», sagt Francesca Chukwunyere. Weil so viele Kinder hier leben, habe sich der Sonderaufwand der zahlreichen Beteiligten leichter mobilisieren lassen.
Allerdings ist ein Erfahrungstransfer bereits eingefädelt. Die im Oktober eröffnete Kollektivunterkunft im ehemaligen Tiefenauspital ist mit 820 Betten nur unwesentlich kleiner als die Containersiedlung Viererfeld. Noch ist aber unklar, wie viele Familien mit Kindern in der Tiefenau untergebracht werden.
Stefan Frei arbeitet in einer von der reformierten Kirche finanzierten Teilzeitstelle als soziokultureller Animator in der Containersiedlung Viererfeld, wo er unter anderem für die Einbindung von Freiwilligen zuständig ist. Anfang nächstes Jahr wechselt er in die Tiefenau, bleibt aber weiterhin zu einem kleinen Pensum im Viererfeld. Er wird wichtige Erfahrungen mitnehmen, wie er sagt. Zum Beispiel, dass es sehr hilfreich und vertrauensbildend ist, wenn personell stabile Teams in der Freizeitarbeit mit Kindern eingesetzt werden.
Aus der Erfahrung im Viererfeld sieht Frei in der Tiefenau neue Chancen. Die Unterkunft ist räumlich weniger abgetrennt, der Kontakt mit dem Quartier deshalb automatisch intensiver. «Wenn es uns gelingt, über Freiwillige die Vernetzung mit dem Quartier herzustellen, sehe ich für die Kinder die Möglichkeit, eher als im Viererfeld, aus ihrem abgetrennten Mikrokosmos herauszukommen.»
Was gleich bleibt wie im Viererfeld: Es braucht engagierte Menschen, die mithelfen, das Recht geflüchteter Kinder aufs Spielen durchzusetzen.
Kinderrechtstag: Am Mittwoch, dem 20. November, ist internationaler Kinderrechtstag. Aus diesem Anlass findet am Dienstagnachmittag, 19. November, von 14 bis 16 Uhr, eine Sondersession des städtischen Kinderparlaments statt. Tagungsort ist das Naturhistorische Museum. Im Anschluss an die Session steigt eine Kinderdisco, organisiert vom Dok.
Kollektivunterkunft Tiefenau: Am 21. November und 23. Januar findet je ein Info-Anlass für interessierte Freiwillige statt. Mehr Details hier.