Berns lange Bremsspur
Vom ersten Sauerteigbrot und der krassesten Aristokratie Europas zur konservativen Revolution der späteren SVP: Berner Historiker*innen haben Berns Geschichte von der Eiszeit bis heute auf 300 Buchseiten verdichtet.
«Bern war unzimperlich, gross, pedantisch und mutig, aber auch tragisch, zaudernd und immer wieder mutlos.» Das sagte die Historikerin Lea Haller kürzlich an der Vernissage des Buchs «Geschichte des Kantons Bern» (siehe Box weiter unten). Die sechs Autor*innen beleuchten Bern ohne Schönfärberei.
Die «Hauptstadt» nimmt dich mit auf einen historischen Kurztrip. Sie versucht in diesem Text, sechs wichtige Phasen der Berner Geschichte zu skizzieren. Sie will fünf Monate vor den kantonalen Wahlen zeigen, wie stark Vergangenes in den gegenwärtigen Zustand des Kantons einwirkt. Etwa in Form einer Konstante in Berns Geschichte: Der heftigen Reibung von Stadt und Land.
Der Text basiert auf der Lektüre der «Geschichte des Kantons Bern», enthält aber auch persönliche Wertungen des Autors*.
1 Der Röstigraben in der Steinzeit
Die Dörfer Oberwil, Boltigen und Erlenbach liegen im Simmental. Oberhalb der heutigen Siedlungen befinden sich Felsbänder mit Höhlen. Von dort stammen die ältesten Nachweise menschlicher Besiedlung auf dem Gebiet des heutigen Kantons Bern. Diese Menschen bewegten sich dort ungefähr 30’000 Jahre vor Christus.
Knochenfunde belegen, dass nomadische Wildbeutergruppen schon in Warmphasen vor der jüngsten Vergletscherung im alpinen Gebiet unterwegs waren. Nach der letzten Eiszeit, während der mit Ausnahme des Napfgebiets und des Schwarzwassergrabens das ganze nachmalige Bernbiet unter Gletschern verschwand, entwickelte sich vorerst eine Tundralandschaft. Nomad*innengruppen jagten Mammuts und Rentiere, zum Beispiel um den Moossee. In Moosseedorf wurden archäologische Spuren eines Lagerplatzes späteiszeitlicher Jäger und Sammler sowie von Pfahlbauern aufgedeckt.
Aufsehenerregend: In einer Siedlung in Twann fand man das älteste Sauerteigbrot Europas, das 3500 vor Christus gebacken wurde. Und: Keramikfunde weisen auf eine Kulturgrenze hin, die sich etwa auf dem Gebiet der heutigen Sprachgrenze befand. Der steinzeitliche Röstigraben zeigt, dass man sich vom Bielersee aus eher nach Westen orientierte, vom Moossee eher nach Osten.
Im heutigen Bern entwickelte sich bereits drei Jahrhunderte vor Christus ein urbanes Zentrum – jedoch nicht am aktuellen Standort der Stadt, sondern auf der Engehalbinsel zwischen Tiefenau und Reichenbach. Brenodor war zuerst eine keltische, dann eine römische Stadt, ehe sie aus ungeklärten Gründen verlassen wurde. Der Berner Akkordeonist Mario Batkovic widmete dem versunkenen Brenodor eine Komposition, weil sie ihn an sein Dorf im Balkan erinnert, in dem er geboren wurde.
Geschichtsbücher sind meist nicht unbedingt geschrieben, um gelesen zu werden. Und üblicherweise so dick, dass nur zu ihnen greift, wer eine Forschungsarbeit schreiben muss. Oder sehr viel Zeit hat.
Regine Stapfer (Urgeschichte), Annina Wyss Schiltknecht (Frühmittelalter), Regula Schmid, Armand Baeriswyl (beide Mittelalter), Martin Stuber (Frühe Neuzeit und Übergang in die Moderne) und Christian Lüthi (neuste Zeit) sind sechs Berner Historiker*innen, die gelesen werden wollen. Sie haben ein reich bebildertes Buch über den Kanton Bern geschrieben und sich im Text knapp gefasst. In einer betörenden Reise durch die Zeit spannen sie einen sehr weiten Bogen. Von der frühesten nachgewiesenen Präsenz von Menschen, die mehr als 20’000 Jahre vor Christus auf dem Boden des heutigen Kantons Bern unterwegs waren, bis zur Besetzung der Reitschule 1987 und den Fussball-Meistertiteln von YB ab 2018.
Nicht, dass ihr Buch eine gemütliche Lektüre wäre. Zu sehr fühlen sich die Autor*innen als Wissenschaftler*innen auch in der Kürze zu Exaktheit und langen Sätzen verpflichtet. Da und dort hätte man sich aus Leser*innensicht weniger vorsichtige Formulierungen gewünscht, damit sich die Entwicklungslinien dieses Kantons schärfer abzeichnen.
Trotzdem ist das Verdienst der sechs Historiker*innen gross. Der Kanton Bern ist heute für viele Menschen eine abstrakte, bürokratische Staatsebene. Die Autor*innen machen ihn als Lebensraum fassbar, den spektakuläre politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Ereignisse erschütterten. Besonders wertvoll: Sie verzichten auf Schönfärbereien.
Herauslesen lässt sich, dass in Bern Unternehmergeist, Aufbruchswille und Risikofreude knappe Güter sind. Der zweitgrösste Kanton der Schweiz, der eine Million Einwohner*innen hat, ist durchwirkt von Zögerlichkeit. Sie führt ihn seit 200 Jahren auf einen Weg des wirtschaftlichen Bedeutungsverlusts. Das ist nicht einfach Schicksal, sondern auch die Folge von lange zurückliegenden Entscheidungen, inneren Widersprüchen – und einem notorischen Konservativismus. Diese Konstellation legt «Die Geschichte des Kantons Bern» frei. (jsz) Geschichte des Kantons Bern. Von der Eiszeit bis heute. Verlag Hier und Jetzt.
2 Die städtische Machtmaschine
1191 gründete das deutsche Adelsgeschlecht der Zähringer die Stadt Bern in der Aareschleife. Das Areal war zuvor nicht besiedelt, womit die Stadtgründer Konflikten aus dem Weg gingen. Zudem ermöglichte die Aarebucht den Bau eines Gewerbekanals in der Matte.
Das Gebiet des heutigen Kantons Bern war eine periphere, dünn besiedelte Landschaft, die im Mittelalter neu bestückt wurde. Über Jahrhunderte dehnte die Stadt Bern ihre Herrschaft über das umliegende Land aus. 1528 übernahm sie im Zug der Reformation etwa alle Klöster – und deren Untertanen wurden zu Untertanen des Berner Patriziats, wie die Historiker*innen Armand Baeriswyl und Regula Schmid lakonisch schreiben. Die wachsende Stadt war ein Wirtschaftsmotor. Sie generierte eine neue Nachfrage nach Lebensmitteln, was etwa im Simmental die Grossviehzucht und im Emmental die Käsetechnologie befeuerte.
Mit smarten Bündnissen, aber auch mit aggressiven Feldzügen trieb die Stadt Bern ihre Machtausdehnung voran. Sie übernahm die Ländereien kriselnder Adliger, eroberte aber mit eigenen Truppen zum Beispiel die Waadt. Die Stadtrepublik Bern reichte ab dem 16. Jahrhundert von Nyon bei Genf bis in den Aargau und gab mit Zürich den Ton in der Alten Eidgenossenschaft an.
Nur wenige Jahre vor der Französischen Revolution war in Bern kein Hauch von Demokratie erkennbar – im Gegenteil. Er treffe auf «eine der vollkommensten, wenn nicht die vollkommenste Aristokratie, die sich je in der Welt gefunden hat», schrieb der Göttinger Professor Christoph Meiners 1784 nach einem Besuch der barocken Berner Altstadt.
Die gnädigen Herren häuften einen immensen Reichtum an. Er speiste sich hauptsächlich aus den Abgaben, die Bauern vom Land der herrschenden Elite in der Stadt abzugeben hatten. Daneben füllte ein rigoroses Zollsystem die Kassen. Ebenso wie das bernische Staatsmonopol auf dem für die Bevölkerung unentbehrlichen Salz.
3 Auf dünnem Eis
Reich und riesig: Bern war eine Macht in Europa. Eine exklusive Gruppe von rund 80 Patrizier-Familien regierte die Stadtrepublik bis ins 18. Jahrhundert. Ihr gewaltiges Territorium liessen sie von Clanmitglieder verwalten, die als Landvögte von den zahlreichen Schlössern aus über das untertänige Land herrschten.
Moralisch bewegten sich die gnädigen Herren auf dünnem Eis. Ihre Einkünfte erwirtschafteten sie nicht nur aus der heimischen Landwirtschaft. Sondern auch aus Kriegsgewinnen und Offshore-Finanzgeschäften. Berns Aristokraten waren gewiefte Militärunternehmer. Sie schickten Tausende von Soldaten – meist Söhne armer Bauern – als Söldner in fremde Kriegsdienste und profitierten auf der friedlichen Insel Bern vom Säbelrasseln der europäischen Grossmächte.
Zudem agierte die Berner Aristokratie auf dem globalen Finanzmarkt. Sie spekulierte mit Aktien der britischen South Sea Company, die in den Sklavenhandel in Südamerika verwickelt war. Auch nach schweren Verlusten und einem Banken-Konkurs blieb bei den betuchten Bernern die «Bereitschaft erstaunlicherweise ungebrochen, in den Handel mit versklavten Menschen zu investieren», schreibt Historiker Martin Stuber.
Unter Druck geriet die schmale Berner Herrscherclique von innen. Im 17. Jahrhundert hätte ein Bauernaufstand vom Land das Regime des Stadtstaats Bern bei einem Haar gestürzt. Den liberalen Journalisten Samuel Henzi, der später mehr Demokratie und Machtbeteiligung forderte, liessen die bedrängten Patrizier sogar öffentlich köpfen.
Mit der militärischen Niederlage gegen die französischen Truppen in Fraubrunnen und im Grauholz kollabierte das Berner Ancien Régime im Frühjahr 1798 endgültig. Der Reformschub für Bern war unumkehrbar, schreibt Stuber: Die Untertanenverhältnisse wurden aufgehoben, und vor allem: Stadt und Land sollten gleichgestellt werden.
4 Verpasste Weichenstellungen
Was danach in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschah, könnte man als wilde Berner Lehrjahre der Demokratie bezeichnen. Das Land kämpfte verbissen um Machtgewinn, die Stadt fightete verzweifelt um Machterhalt.
Der Kanton hatte eine neue Gestalt. Beim Wiener Kongress 1815 verlor Bern den Aargau und die Waadt. Dafür erhielt er das ehemalige Fürstbistum Basel – im wesentlichen den heutigen Kanton Jura und den Berner Jura – mitsamt der Stadt Biel. Der Bilinguismus blieb Bern erhalten.
Interessant ist, dass die mental dynamischeren Landstädte Biel, Burgdorf und Langenthal die politische Modernisierung vorantrieben. Praktisch jede Siedlung im ehemaligen Untertanengebiet der Stadt Bern wurde zur selbständigen Gemeinde. So entstanden plötzlich mehrere Hundert Kleinstrepubliken – die Stadt Bern war nur noch eine von ihnen. Nach der liberalen Revolution von 1830/31 blieb der Stadt im neu gewählten Kantonsparlament nur noch ein Zehntel der Stimmen. Die Vorbehalte gegen die dominante Stadt Bern wurden in der DNA des Kantons Bern verankert.
Der liberale Aufbruch revolutionierte die Stadt Bern in ihrem Innern. Man musste sich der Frage stellen, wie man die Patrizier, denen das eben erst zerschlagene Alte Bern quasi im Privatbesitz gehört hatte, in die junge Demokratie integrieren soll. Bern löste das Dilemma, in dem es die Einwohner- und die Burgergemeinde nebeneinander bestehen liess. Die Burgergemeinde, Rechtsnachfolgerin des Alten Bern, erhielt die Äcker und Felder ausserhalb der Aareschleife. Als die Stadt wuchs, wurde dieser Boden lukratives Bauland – und die Burgergemeinde reich. Sie reinvestiert bis heute ihre Millionengewinne in Berns Kultur- und Gesellschaftsleben.
Die politische Umbruchzeit war begleitet durch ausserordentliches Wachstum. Zwischen 1764 und 1850 verdoppelte sich die Bevölkerung von 200‘000 auf 410‘000, bezogen auf die heutigen Kantonsgrenzen. Grundlage war die Modernisierung der Landwirtschaft, bei der Bern europaweit führend war. Die Düngerlücke, die über Jahrhunderte die Entwicklung blockiert hatte, wurde mittels stickstoffbindenden Futterpflanzen und effizienter Jauchewirtschaft überwunden. Dies ermöglichte den Durchbruch der Kartoffel und den Boom der Berner Talkäsereien.
Trotz politischer Dynamik verpasste Bern aber wirtschaftlich langfristig den Anschluss. Die Berner Patrizier fremdelten mit unternehmerischem Denken. Sie erliessen 1747 gar ein Gesetz, das es den herrschenden Geschlechtern verbot, sich an kaufmännischen oder industriellen Unternehmen zu beteiligen.
Deshalb etablierte sich in Bern keine unternehmerische Tradition. Das rächte sich, als die Industrialisierung richtig anlief. Die Berner Regierung sah in der Eisenbahn – einem grossen Fortschrittstreiber – «ein notwendiges Übel», wie Historiker Christian Lüthi schreibt. Ehe sich Bern versah, war Zürich der Hauptknotenpunkt im schweizerischen Eisenbahnnetz. Das Bevölkerungswachstum blieb von da an konstant unter dem nationalen Schnitt zurück. Früher florierende Regionen wie das Emmental stagnierten, das Napfgebiet wurde zur ländlichsten Region der Schweiz.
1848 wurde Bern als Bundesstadt zum Sitz der Landesregierung gewählt, musste sich aber verschulden, um den ersten Teil des Bundeshauses bauen zu können. Das ohnehin schon prosperierende Zürich erhielt hingegen die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) zugesprochen, die zu einem wichtigen Standortfaktor wurde.
5 Land der SVP
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kämpfte Bern mit grosser Armut. Die Stadt Bern führte als erste europäische Gemeinde eine Arbeitslosenversicherung ein. Zugleich wurden in keinem anderen Kanton mehr Kinder verdingt als in Bern.
Doch der Kanton Bern überwand «seine bisherige Zurückhaltung gegenüber neuen Technologien», schreibt Christian Lüthi. Die Elektrifizierung setzte Bern unter Strom. In der Matte entstand das erste Turbinenkraftwerk in einer Schweizer Stadt. Mit dem unbernisch riskant finanzierten Bau des Lötschbergtunnels koppelte sich Bern mit der BLS verspätet an den anschwellenden europäischen Güter- und Personenverkehr an.
Die Stadt Bern erwachte wieder und entwickelte sich – wie Biel oder Burgdorf – zu einer urbanen Modernisierungsinsel. Das heizte den Stadt-Land-Gegensatz neu an, aber auch denjenigen zwischen Bewahren und Erneuern. Zugezogene waren es häufig, die Berner Unternehmen gründeten, die Spinnerei Felsenau zum Beispiel oder die Uhrenmanufakturen im Südjura. Alteingesessene Berner Familien investierten selten in neue Wirtschaftszweige, schreibt Historiker Lüthi. Innovation überliess man im Kanton Bern gern dem Staat.
1917 wurde das Berner Bierhübeli zum Schauplatz der politischen Geschichte. Der Berner Bauernführer Rudolf Minger rief die Gründung der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) aus, die sich 1971 in SVP umbenannte. Es war eine ländliche Berner Gegenreaktion auf Industrialisierung und Verstädterung. Der dominierende Berner Freisinn lief in den Hammer. Bereits bei den ersten Wahlen, an denen die BGB teilnahm, holte sie auf Kosten des Freisinns die Hälfte der Sitze im Grossen Rat. Die konservative Partei blieb bis heute die stärkste Kraft in der Berner Politik.
Seit dem Auftritt der BGB auf dem politischen Parkett um 1918 «hat die wirtschaftliche Dynamik im Kanton stark nachgelassen», bilanziert Historiker Lüthi. Inwiefern zwischen der Vormacht der SVP und der Berner Stagnation ein Zusammenhang besteht, sei bisher wissenschaftlich nicht untersucht.
Es gibt aber Hinweise, dass die BGB den wirtschaftlichen Kriechgang mitbeeinflusste: In den 1940er-Jahren trieb der Kanton Bern die Ambition voran, in Utzenstorf bei Kirchberg einen internationalen Flughafen zu bauen. Heftige, von der BGB orchestrierte Proteste der lokalen Bauern – «Pflug oder Flugzeug? Kornkammer oder Steppe?» – versenkten das Vorhaben. Der wichtigste Interkontinental-Flughafen der Schweiz entstand später in Zürich-Kloten.
6 Krisen und Kreativität
In den Boomjahren nach dem Zweiten Weltkrieg hielt sich Bern wirtschaftlich vorerst im Mittelfeld der Kantone. Allerdings: Die anschwellende Automobilität verschärfte das innerbernische Ungleichgewicht zwischen städtischen und ländlichen Kantonsteilen, obschon Bern den Strassenbau bis in die hintersten Winkel forciert hatte. Zugleich nahm die die Abwanderung von qualifiziertem Personal ins dynamischere Zürich zu.
Zudem wurde der Kanton mit einer epochalen Serie von Krisen und Rückschlägen konfrontiert. 1978 verlor Bern nach jahrzehntelangem Ringen die drei nördlichen Bezirke des Juras an den neuen Kanton, dem Anfang 2026 nun auch noch die Gemeinde Moutier folgt. Nach riskanten Kreditvergaben ging 1991 die Spar- und Leihkasse Thun in Konkurs, ein Jahr später stand die Berner Kantonalbank wegen waghalsiger Immobilienfinanzierungen am Abgrund. Deren Rettung schwächte die Wirtschaftskraft des Kantons über ein Jahrzehnt lang.
Bereits 1984 hatte ein gewaltiger Finanzskandal das kartellartige Dreigestirn der Berner Politik – SVP, FDP und SP – erschüttert. Der Revisor Rudolf Hafner wies nach, dass sich die Berner Regierung in der Kantonskasse bedient hatte. Sie versuchte so, Abstimmungskämpfe zu beeinflussen, ein Regierungsrat liess sogar sein privates Luxusautos auf Staatskosten reparieren. Bei den Wahlen 1986 verlor die FDP ihre beiden Regierungsratssitze an die neue, linksliberale Freie Liste. Mit Leni Robert kam erstmals eine Frau in die Kantonsregierung. Seither können sich die ehemals dominanten Parteien SVP, FDP und SP ihrer Sache etwas weniger sicher sein.
Ein Kontrast zum wankenden Kanton war in jener Zeit die kreative Kraft in der Gesellschaft. In Biel entstand 1975 im Gaskessel das erste autonome Jugendzentrum der Schweiz, dem die Reitschule in Bern erst 1987 folgte. In der Mundart-Popmusik etablierte Bern eine generationenübergreifende Dynastie, die von Mani Matter über Polo Hofer, Züri West, Patent Ochsner bis ins Hip-Hop-Zeitalter zu Steff la Cheffe, Lo & Leduc sowie neuerdings Soukey und Z The Freshman reicht.
Im Vergleich der Kantone rutschte Bern ab den 1990er-Jahren aus dem Mittelfeld ab. Wegen unterdurchschnittlichem Bevölkerungswachstum verlor Bern sukzessive mehrere Sitze im Nationalrat. Der Kanton bezieht heute jährlich über eine Milliarde Franken aus dem nationalen Finanzausgleich. Das innere Gleichgewicht hält Bern mit einem schwer durchschaubaren innerkantonalen Finanzausgleich.
Paradoxerweise wurde die ab 1992 rot-grün regierte Hauptstadt Bern zum Motor des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels und Stabilisator im bürgerlich dominierten Kanton Bern.
*Jürg Steiner ist mit Stefan von Bergen Co-Autor des Buchs «Wie viel Bern braucht die Schweiz?» (Stämpfli, 2012), in dem sie die Entwicklung des Kantons Bern seit 1798 aus journalistischer Sicht herausgearbeitet haben.
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