Geige oder Kind

Die Berner Violinistin Gwendolyn Masin geht gegen das Vereinbarkeitsproblem von Familie und Karriere in der klassischen Musik vor. Das von ihr gegründete Gaia-Musikfestival (2. bis 7. Mai) stellt Musiker*innen eine Kinderbetreuung zur Verfügung.

Gwendolyn Masin
Engagiert sich für bessere Vereinbarkeit von Kind und Karriere in der klassischen Musik: Gwendolyn Masin. (Bild: Danielle Liniger)

«Ich bin Berufsmusikerin und Mutter eines dreieinhalbjährigen Sohnes», sagt Gwendolyn Masin. Dass sie das in einem Atemzug sagt, ist in der klassischen Musik eine Seltenheit. «Uns fehlen Rollenmodelle», sagt sie, «Kinder zu bekommen und dann zu haben, bringt man mit dem glänzenden Soloauftritt auf der Bühne bis heute nicht zusammen.» 

Konzertviolinistin Masin (43), die seit 20 Jahren in Bern lebt, wirft diese Sätze nicht leichtfertig hin. Seit vier Jahrzehnten ist klassische Musik ihr Leben. Sie wurde in Amsterdam in eine Musiker*innenfamilie geboren, einen Teil ihrer Kindheit verbrachte sie in Südafrika, Ungarn und Irland. Mit drei Jahren begann sie Klavier zu spielen, mit fünf erhielt sie ihre erste Geige.

Sie studierte unter anderem am  Konservatorium Bern bei Igor Ozim, zu ihren Lehrer*innen gehörten aber auch die argentinisch-deutsche Violinistin Ana Chumachenco oder der Israeli Shmuel Ashkenasi. Gwendolyn Masin vertiefte sich in die Geschichte der klassischen Musik, sie doktorierte über die Pädagogik des Violinspiels und beschäftigt sich heute auch mit gesunder Ernährung für und Bewegungsmustern von Musiker*innen.

«Eine Unverschämtheit»

In einem Bereich sieht sie allerdings in der klassischen Musik null Bewegung: Bei der Vereinbarkeit von Familie und Karriere «stecken wir in ganz alten Bildern fest», sagt sie. Masin hat es auch selbst erlebt. 2019 habe sie ausländischen Konzertveranstaltern am Telefon von ihrer Schwangerschaft erzählt, kurz darauf seien ihr bereits vereinbarte, weit in der Zukunft liegende Engagements storniert  worden – ohne Begründung.

Offenbar habe man ihr nicht zugetraut, nach der Geburt wieder zur früheren Leistungsfähigkeit und Bühnenpräsenz zurückzufinden. Masin empfand es als Schlag ins Gesicht. «Ich hätte es akzeptieren können, wenn man mich nach einem misslungenen Auftritt nicht mehr engagiert. Aber so? Das war absurd, eine Unverschämtheit.»

Musik in Bern, Thun, Hilterfingen und Oberhöfen

Das Musikfestival Gaia, das vom 2. bis 7. Mai 2023 stattfindet, steht unter dem Titel «Folk Songs – Von Liebe und anderer Trunkenheit». An sechs Spielorten (Klösterli und Schloss Oberhofen, Kirche Hilterfingen, Stadtkirche Thun, Kirche Scherzlingen Thun, Yehudi Menuhin Forum Bern) finden sieben Konzerte statt. Das Festival hat 19 Musiker*innen aus 12 Nationen engagiert. Das Konzert im Menuhin Forum Bern (6. Mai, 19.30 Uhr) widmet sich dem kontroversen Thema der kulturellen Aneignung. Programm und Tickets gibt es hier. 

Bilder wie diejenigen der amerikanischen Pop-Sängerin Rihanna, die kürzlich beim Superbowl-Halbzeit-Event ihre Schwangerschaft sichtbar zelebrierte, sind in der klassischen Musik nicht vorstellbar. Oder kaum. Evgenia Asanova, Mezzo-Sopranistin beim Opernensemble von Bühnen Bern, ging für diese konservativen Verhältnisse schon recht weit, wenn sie sich auf Instagram mit Babybauch zeigte und kommentierte: My best role.   

Es sei ein Hohn, dass die klassische Musik keinen entspannteren Umgang mit der Mutterschaft finde, sagt Gwendolyn Masin. Vor allem, wenn man bedenke, dass Liebe, Leidenschaft und Sehnsucht die grossen Themen seien. Aber jahrhundertelang waren Frauen als Protagonistinnen abwesend – ausser sie gaben die Muse. «Mit meiner Generation begann sich das zwar langsam zu ändern», sagt Masin. Aber nur wenige der grossen Sologeigerinnen sind auch Mütter oder wenn sie es wie etwa Anne-Sophie Mutter tatsächlich sind, spielt das im öffentlichen Bild keine Rolle.

Gwendolyn Masin
Bietet Musiker*innen Kinderbetreuung: Festivalgründerin Masin. (Bild: Danielle Liniger)

«Es hat sich ein Absolutismus zementiert, den ich fast nicht aushalte», sagt Gwendolyn Masin: «Er heisst: Entweder Geige oder Kind.» Das sei keine übertriebene Zuspitzung, sondern eine Grundsatzfrage, um die angesichts der Strukturen im klassischen Musikbusiness keine Frau herumkomme – als Stargeigerin genauso wenig wie als zweite Violine in einem Symphonieorchester. Während der Auftrittszeiten, die normalerweise am Abend und am Wochenende sind, gibt es keine Kita, die geöffnet hat.

Kann ich mir eine private Kinderbetreuung leisten — oder frisst diese mehr als die Gage weg, die ich erspiele? An diesem ökonomischen Dilemma würden, so Masin, auch heute noch zahlreiche Musikerinnen-Laufbahnen scheitern: «Und wir stehen im Jahr 2023.» Es sei widersinnig, junge Menschen in erstklassigen Lehrgängen zu Solist*innen auszubilden, sie dann aber mit dem Vereinbarkeitsproblem allein zu lassen. «Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, warum nicht längst mehr Druck auf die Veranstalter*innen ausgeübt wird, elterngerechte Strukturen zu schaffen.»

Die Sorge, ob das Kind in guten Händen ist, begleitet Musiker*innen auf die Bühne, wo solche Gedanken keinen Platz haben dürften. «Als Musiker oder Musikerin auf der Bühne steht man unter mehrfachem und unmittelbarem Leistungsdruck», sagt Masin, «man spielt fürs Publikum, aber natürlich immer auch für das nächste Engagement.»

Anstoss für Reform von innen

Sie selbst zählt in der Kinderbetreuung auf ihren Mann, der nicht Musiker ist, sowie an den Nachmittagen auf eine private Betreuerin. «Ich bin als Musikerin auch selbstständige Unternehmerin, es gibt keinen Tag in der Woche, an dem ich mich nicht mit Musik beschäftige.» Das Bild, dass Künstler*innen viel Zeit hätten, stimme überhaupt nicht.

Masin kennt das Problem nicht nur als auftretende Künstlerin, sondern auch als Veranstalterin. 2009 gründete sie das Gaia Musikfestival, dem sie heute als künstlerische Leiterin vorsteht. «Ich habe in den vergangenen Jahren mehrfach kurzfristige Absagen hinnehmen müssen, weil Musikerinnen keine Lösung für die Betreuung ihres Kindes fanden», sagt sie.

Deshalb handelt sie jetzt. Während des diesjährigen Festivals engagiert Masin erstmals eine Kinderbetreuerin, die sich nicht nur um die Kinder von ihr und der Festivaldirektorin kümmert, sondern auch um diejenigen auftretender Musiker*innen.

Klar, das sei ein erster Schritt, aber «jemand muss was tun, ich will ein Zeichen setzen», sagt Masin. Sie hofft, dass ihre Initiative wahrgenommen wird und grössere Festivals inspiriert. «Damit sich wirklich etwas ändert für Eltern, die Musiker*innen sind, müssen wir beginnen, das System von innen zu reformieren.»

Gwendolyn Masin
Gwendolyn Masin lehnt sich gegen rückwärtsgewandte Strukturen im Klassik-Business auf. (Bild: Danielle Liniger)
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