Expedition – «Hauptstadt»-Brief #26

Samstag, 7. Mai 2022 – die Themen: Ostermundigen, Dini Mueter isch hässig, FC Breitsch, Gasausstieg, Finanzskandal Vechigen, Habibi Bern. Der Berner Kopf der Woche: Regula Rytz.

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(Bild: Marc Brunner, Buro Destruct)

Ende der 1980er-Jahre lebte ich für ein paar Jahre in einem Block in Ostermundigen, nahe beim Bahnhof, in einer Wohngemeinschaft mit wechselnder Besetzung. Im Treppenhaus sah man den (stets wohlwollenden) Nachbar*innen an, dass sie mitunter staunten, wer da am Morgen alles aus unserer kleinen Wohnung rauskam.

Ich studierte damals Geografie. Wir beschäftigten uns unter anderem mit der kriselnden Stadt, wegen ihrer grossen Verkehrs- und Sozialprobleme. Die Menschen zogen in die Agglomeration, weil die ein besseres, ruhigeres, saubereres Leben versprach. Wir fragten uns: Kann schlaue Stadtplanung Lebensqualität schaffen, damit sich Menschen dort wohlfühlen, wo sie wohnen? 

Lorraine, Breitsch und Länggasse sind heute hippe Wohnquartiere mit hoher Lebensqualität. So hip, dass Menschen, die auf günstigen Wohnraum angewiesen sind, verdrängt werden. Wie kann vielfältiges, gutes, cooles städtisches Leben entstehen? Diese Frage stellt sich nicht mehr in, sondern um Bern.

In Ostermundigen zum Beispiel.

Eben noch galt Ostermundigen als verarmt, jetzt plötzlich als neue Boomtown mit Hochhausturm. Ostermundigen ist auf der Suche nach seiner eigenen Mischung, wieviel Stadt es werden und wieviel Dorf es bleiben will. Weil: Längst nicht alle wollen Städter*in sein. «Erstaunlicherweise wird das Gefühl, kein Städter oder keine Städterin zu sein, oft schon nahe der offiziellen Stadtgrenzen ausgedrückt», sagte mir Markus Freitag, Professor für politische Soziologie an der Universität Bern, unlängst. 

Stadt? Dorf? Agglo? Die «Hauptstadt» beschäftigt sich die ganze kommende Woche mit Ostermundigen. Wir möchten nicht nur über Ostermundigen schreiben, sondern vor allem mit Ostermundiger*innen reden. Deshalb wird unsere Redaktion ab Montag im eben eröffneten Kulturbahnhof in der ehemaligen Schalterhalle arbeiten.

Wir wollen unseren Aufenthalt auch nutzen, um uns mit dir, liebe Hauptstädterin, lieber Hauptstädter, persönlich auszutauschen. Wir laden dich am Donnerstag, 12. Mai, 19 Uhr, zum Feierabendbier in den Kulturbahnhof ein. Wenn du jetzt schon weisst, dass du dabei sein möchtest, schicke uns doch kurz ein Mail. Selbstverständlich bist du auch unangemeldet willkommen.

Ich freue mich auf die «Hauptstadt»-Expedition ins aufbrechende Ostermundigen. Sie erinnert mich an meine persönliche Aufbruchstimmung, als nicht immer klar war, wer die Nacht in unserer WG verbracht hatte.

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Sunntigsspaziergang, Brunngasse. (Bild: Florian Born)

Und das möchte ich dir ins Wochenende mitgeben:

Hässige Mutter: Morgen Sonntag ist Muttertag, und für diesen hat sich das Modelabel Hässig, das die beiden Berner Raphael Szabo und Nassim Khlaifi betreiben, etwas Besonderes ausgedacht. Zusammen mit der feministischen Lobbygruppe Eidgenössische Kommission dini Mueter (EKdM) und der Berner Kreativagentur Hella Studio haben sie T-Shirts und Poster mit dieser Botschaft produziert: DINI MUETER ISCH HÄSSIG! Frauen sind besonders am Muttertag hässig, weil die Gleichstellungs-Anliegen des Frauenstreiks nach wie vor unerfüllt sind. Dampfablassen kann frau (und mann) beim Vorbestellen eines «Hässig»-T-shirts (ab morgen Sonntag), vom Kaufbetrag geht ein Teil an die EKdM.

«Breitsch»-Boom: Heute Samstag nachmittag um 16 Uhr bestreitet der FC Breitenrain auf dem Spitz sein erstes von fünf Spielen, in denen es um den Aufstieg in die Challenge League geht. Das Quartier wird beben. Mein Kollege Philip Schären beschreibt im Gespräch mit Andri Rüegsegger, was es für das «Breitsch»-Feeling bedeuten würde, nach dem Aufstieg plötzlich im riesigen Wankdorfstadion zu spielen.  

Gas-Ausstieg: Der Berner Stadtrat nötigt den Gemeinderat, bei Energie Wasser Bern (ewb) auf einen sofortigen Ausstieg aus russischem Erdgas zu pochen. Er überwies einen Vorstoss, obschon die Stadtregierung erklärt hatte, ihr Einfluss auf die Wahl der Gas-Herkunft sei gering. 

Vechiger Finanzskandal: Der fristlos entlassene Finanzverwalter von Vechigen, der sich mit gefälschten Unterschriften im Namen der Gemeinde ein Darlehen von vier Millionen Franken erschlichen hatte, verspekulierte das Geld an der Börse, wie er selber zuerst dem Portal Bern-Ost erzählt hat. Darlehensgeberin war die Gemeinde Ittigen.  In einer lesenswerten Recherche fragen sich Bund/BZ, was an der Gemeinde hängen bleibt – und ob die Rechnungsrevisor*innen zur Rechenschaft gezogen werden könnten.

PS: Nächste Woche liegen frühsommerliche Temperaturen über Bern. Da ist es sicher nicht falsch, Gaumen, Herz und Ohr mit orientalischer Üppigkeit zu erfreuen. Vor wenigen Wochen haben Ahmed al-Haidari und Alexis Jörg an der Scheibenstrasse 44 im Wylerquartier das Restaurant Habibi Bern eröffnet, in dem es arabisch laut zu und hergeht. Kulinarische Spezialität: Mezze, das orientalische Vorspeisefestival, nach dem in der Regel kein Gedanke mehr an eine Hauptspeise aufkommt. Muhammara, Shakshuka, Matbucha – und was mich besonders begeisterte: die unglaubliche Randencrème. Yalla! 

Der Berner Kopf der Woche: Regula Rytz

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An der Sondersession von Montag bis Mittwoch kommender Woche wird Regula Rytz (60) letztmals im Nationalrat sitzen. Danach beendet die grüne Leaderin ihre Karriere als nationale Politikerin, sie wird Delegierte bei den europäischen Grünen und übernimmt das Präsidium der Entwicklungsorganisation Helvetas.

In der Laufbahn von Regula Rytz spiegelt sich der Wandel der Grünen von der handgestrickten Oppositionsgruppe zur professionellen politischen Kraft mit intaktem Machtbewusstsein. Sie wurde 1993 die erste bezahlte Sekretärin des Grünen Bündnisses (GB), wenige Wochen, nachdem die Rot-Grün-Mitte-Koalition die Wahlen in der Stadt Bern gewonnen hatte und Therese Frösch erste grüne Gemeinderätin geworden war.

Rytz arbeitete im Sekretariat an der Neubrückstrasse 17 vis-à-vis der Reitschule. Natürlich bestand ihre Arbeit darin, grüne Lokalpolitik zu konzeptionieren. Aber angesichts des baulichen Zustands der Räumlichkeiten stellte sie gelegentlich auch Mäusen nach oder renovierte Fensterrahmen. Eines Morgens fand sie gar einen schnarchenden Einbrecher vor, der an den Tresor gewollt, sich dann aber an den Schnapsflaschen gütlich getan hatte, die von der letzten Fete herumstanden. 

2004 wurde Regula Rytz als Nachfolgerin von Therese Frösch in den Stadtberner Gemeinderat gewählt, 2011 kam sie in den Nationalrat. Als Präsidentin der Grünen ertrug sie bei den nationalen Wahlen 2015 unangenehme Sitzverluste ihrer Partei, vier Jahre später feierte sie mit dem grünen Wahlsieg ihren grössten Triumph. Darauf liess sie sich – in der eigenen Partei nicht unumstritten – sogar auf eine Bundesratskandidatur ein, scheiterte aber klar. 2003 gehörte Rytz zu den Initiant*innen des Vereins «Bern neu gründen», der Gemeindefusionen in der Agglo Bern aufs Tapet brachte, als sich noch niemand daran die Finger verbrennen wollte. Jetzt steht das Thema mit dem Fusionsprojekt Bern-Ostermundigen oben auf der lokalen Prioritätenliste.

Prominenten Politiker*innen fällt es oft schwer abzutreten. Plötzlich fallen öffentliches und mediales Interesse weg. Regula Rytz, diszipliniert bis in die Fingerspitzen, erlebte man öffentlich nie unvorbereitet. Auch jetzt nicht.

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