Ostermundigen Spezial

«Hauptstadt» goes Ostermundigen

BäreTower, Grossbaustelle Bahnhof, Trendquartier Oberfeld: Ostermundigen wird städtischer. Und gehört vielleicht bald zu Bern. Was bewegt die Gemeinde? Wo sind die Bruchlinien? Die «Hauptstadt»-Redaktion zieht für eine Woche nach Ostermundigen.

Bahnhof Ostermundigen mit Hauptstadt-Fahne
Zwischen BLS-Zug und BäreTower: Die «Hauptstadt» arbeitet im Kulturbahnhof. (Bild: Jana Leu)

Eine Frau betritt die Schalterhalle des Bahnhofs Ostermundigen und blickt sich fragend um. «Kann ich hier kein Libero-Abo kaufen?», fragt sie dann. Nein. Diese Zeiten sind vorbei. Die BLS hat die Filiale letztes Jahr geschlossen.  

Ostermundigen verändert sich derzeit rasant. In den vergangenen Wochen zogen die Mieter*innen in den 100 Meter hohen BäreTower beim Bahnhof ein. Das Bürogebäude auf der anderen Seite des Bahndamms wurde im letzten Herbst eröffnet. 560 Mitarbeitende des TCS arbeiten dort. Der Bahnhof selbst wird ab 2024 umgebaut als Teil eines 400 Millionen Franken teuren Grossprojekts der SBB. Nördlich des Bahnhofs werden die Bundesbahnen einen Gleistunnel Richtung Zollikofen bauen – zur Entflechtung des Güterverkehrs. Ebenfalls 2024 soll der Bau der Tramlinie Bern-Ostermundigen beginnen. 

Auch politisch ist die Gemeinde, die lange mit finanziellen Problemen kämpfte, im Aufbruch. Sie setzt mit dem Projekt «O’mundo» eine fortschrittliche Ortsplanungsrevision um mit dem Ziel, entlang der zentralen Bernstrasse die städtische Entwicklung zu forcieren, um in den Quartieren den Dorfcharakter erhalten zu können. Gleichzeitig befindet sich die Gemeinde in Fusionsverhandlungen mit der Stadt Bern, zu denen sich die Stimmberechtigten Mitte 2023 äussern können. 

Kulturbahnhof Ostermundigen, Mai 2022
Statt Billets gibts nun Kaffee und Bier. Gestern wurde der Kulturbahnhof Ostermundigen eröffnet. (Bild: Jana Leu)

Auf gesellschaftliche Fragen sucht die Agglomerationsgemeinde neue Antworten. Der Ausländer*innenanteil in Ostermundigen ist mit 31 Prozent fast doppelt so hoch wie der Schnitt im Kanton Bern (16,6 Prozent); die Sozialhilfequote beträgt 7 Prozent (Kanton Bern: 4,3 Prozent). 2023 startet Ostermundigen mit einem Versuch, mehr Geld in die Sozialarbeit zu investieren, um Sozialhilfebezüger*innen besser betreuen zu können. Ziel ist es, die Integrationschancen zu erhöhen, damit langfristig weniger Menschen auf Sozialhilfe angewiesen sind.

Agglomerationen sind die Städte der Zukunft, die noch nicht fertig gebaut sind, hält der Städteverband fest. Ostermundigen kann man als aussagekräftiges Beispiel dafür sehen, als lokales Labor, das seine eigene Formel für den Wandel vom Dorf zur Stadt erprobt, dem keine Agglomerationsgemeinde ausweichen kann.

Wie verändert sich Ostermundigen und was macht das mit den Menschen, die dort leben? Aus was besteht Ostermundigens Identität? Wie werden Konflikte entschärft und wo entstehen die nächsten? Das sind Fragen, denen wir nachgehen wollen, wenn wir die Redaktion der «Hauptstadt» für eine Woche nach Ostermundigen verlegen.     

«Hauptstadt» zieht in den Kulturbahnhof

Die «Hauptstadt» will Ostermundigen besser verstehen. Darum verlegen wir unsere Redaktion für eine Woche in den eben eröffneten Kulturbahnhof Ostermundigen. Wir arbeiten vor Ort, gehen an das Frühlingskonzert des Musikgesellschaft, laufen die Grenze zur Stadt Bern ab und bitten den Gemeindepräsidenten zum Interview. Wie dieses Recherche-Projekt und die «Hauptstadt» generell bei den Abonnent*innen und Leser*innen ankommen, wollen wir diese Woche herausfinden und laden am Donnerstag um 19 Uhr zum «Hauptstadt»-Bier im Kulturbahnhof in Bahnhof Ostermundigen. 

Die grosse politische Frage, die in Ostermundigen über allem schwebt, ist die nach der Fusion mit der Stadt Bern. Sie wäre für Ostermundigen das Ende einer relativ kurzen Phase der Eigenständigkeit, denn bis 1983 war das Dorf eine sogenannten Viertelsgemeinde von Bolligen. Ob die Fusion aber gelingt, ist unklar. Die Stimmung unter den Polit-Interessierten im Dorf ist derzeit eher skeptisch. Das zeigte auch ein Partizipationsanlass Anfang April. Gerade jetzt, wenn Ostermundigen mit dem umtriebigen Gemeindepräsident Thomas Iten einen Aufschwung erlebe, sei doch der falsche Zeitpunkt für eine Fusion, finden einige. 

Das Gemeindeparlament, das 2020 ohne Gegenstimme Ja sagte zu den Kooperations-Verhandlungen, zeigt sich aktuell unzufrieden über die Stadt Bern, weil diese Ostermundigen keinen zusätzlichen Sitz im Gemeinderat zugestehen will, auch nicht für eine Übergangsphase. Die Stadt ist gegen einen solchen Spezialsitz, da so die politischen Mehrheiten nicht mehr abgebildet würden. Viele Mundinger Gemeindepolitiker*innen finden aber, dass Ostermundigen ohne eigenen Gemeinderat nicht gut vertreten wäre.

Ausstellung im Kulturbahnhof Ostermundigen, Mai 2022
Ostermundiger Kunst: Ausstellung in der Bahnwärterwohnung. (Bild: Jana Leu)

Diese Vertretungsfrage dürfte am Ende für die Volksabstimmung zur Fusion am 18. Juni 2023 nur eines von vielen Entscheidkriterien sein. Es geht auch darum, zu wem sich die Menschen in dieser Gemeinde mit sehr vielen Zuzüger*innen zugehörig fühlen; zu Ostermundigen oder zur Stadt Bern, in der sich viele Mundiger*innen täglich bewegen. Es wird aber auch darum gehen, was sich für die Bürger*innen praktisch ändert: Wieviel Steuern zahlen sie, wie oft wird der Abfall geholt, werden die Strassen gewischt oder was zahlen die Vereine fürs Vereinslokal? 

Noch sind die Verhandlungen nicht zu Ende, noch sind die Meinungen nicht gemacht.

Im Kulturbahnhof verlässt die ein Billett suchende Frau unverrichteter Dinge die Schalterhalle. Dann gehe sie für das Abo halt zum Bahnhof Bern, sagt sie noch. Es komme oft vor, dass die Leute ein Billett wollten, sagt René Gygax, Vorstandsmitglied des  Kulturbahnhofs Ostermundigen. Er hat die wieder eröffneten Räume mit weiteren Vereinsmitgliedern eingerichtet. Auch die erste Ausstellung des Kulturforums in der ehemaligen Bahnwärterwohnung im ersten Stock wurde diese Woche fertiggestellt. Gestern Abend war Vernissage, heute Samstag sind der Bahnhof und die Ausstellung ab 15 Uhr geöffnet. Jetzt kann man im Kulturbahnhof zwar keine Billette kaufen, aber immerhin einen Kaffee oder ein Bier.

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In einer früheren Version des Artikels hiess es fälschlicherweise: «In diesem Monat ziehen die Mieter*innen in den 100 Meter hohen BäreTower beim Bahnhof ein.» Die meisten Mieter*innen sind aber schon im April eingezogen.

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