Hemmschwelle – «Hauptstadt»-Brief #231
Samstag, 14. Oktober 2023 — die Themen: Wahlen; Brasserie Lorraine; Mutgeschichten; Solidaritätsbekundungen; Schuleröffnung; Sophie Hunger. Berner Kopf der Woche: Bojana Antovic.
In acht Tagen wird in der Schweiz gewählt. Die Nervosität unter den Parteien und Kandidierenden ist hoch. Und mir scheint es, als ob die Hemmschwelle, auf andere einzudreschen, gesunken wäre. Oft geht es darum, sich ins Rampenlicht zu drängen und andere in ein schlechtes Licht zu rücken.
Vielleicht kommt mein Eindruck daher, dass die Kämpfe in Echtzeit öffentlich stattfinden: ausgefochten auf Social Media, befeuert durch die traditionellen Medien. Eine Strategie ist es, dass man Kandidierende explizit nicht zur Wahl vorschlägt. So etwa bei den Berner SP-Migrant*innen, die SP-Frauen ohne Migrationshintergrund zur Streichung vorschlugen.
Besonders ins Auge gestochen ist mir ein Beitrag im «Schweizer Bauer» von letztem Samstag. Er sieht aus wie ein Artikel, auch wenn oben klein «Publireportage» vermerkt ist. Darin wird die bäuerliche Leserschaft explizit aufgefordert, auf ihre bürgerlichen Wahllisten unbedingt zweimal die grüne Kandidatin Christine Badertscher zu schreiben. Das Ziel: Badertscher soll mehr Stimmen als ihr Parteikollege Kilian Baumann erhalten, damit dieser seinen Sitz verliert. Denn laut Vorwahlumfragen werden die Grünen bei den Wahlen empfindliche Einbussen hinnehmen müssen. Baumann präsidiert die Kleinbauern-Vereinigung, die meist andere Meinungen vertritt als der grosse Bauernverband. «Wenn Sie Badertscher wählen, um Baumann abzuwählen, können Sie damit einen bedeutenden Beitrag zur Zukunft der Politik in der Schweiz leisten», steht da etwa.
Absender ist ein «Komitee politischer Vernunft». Auf Nachfrage des «Blick» wollte oder konnte der Verlagsleiter des «Schweizer Bauer» nicht sagen, wer hinter dem Inserat steckt.
Das ist alles zulässig. Es zeigt den anderen, schmutzigen Teil des Wahlkampfs. Nicht den, bei dem gut gelaunte Kandidierende am frühen Morgen Bonbons und Haferflocken an Pendler*innen verteilen. Sondern den, bei dem erbittert und mit allen Bandagen darum gekämpft wird, wer nach dem 22. Oktober im Bundeshaus bleiben oder dort einziehen wird. Hinterlistige Manöver gab es früher schon – nur fand das eher am Stammtisch statt und landete nicht 1:1 und in Echtzeit in der Öffentlichkeit.
Und das möchte ich dir mit ins Wochenende geben:
- Nochmals Wahlen: Mit den neuen Offenlegungspflichten für Politiker*innen müssen bei den anstehenden Wahlen Kampagnenbudgets über 50’000 Franken sowie Einzelspenden über 15’000 Franken bei der Eidgenössischen Finanzkontrolle deklariert werden. Der Berner SP-Kandidat Adrian Wüthrich bestätigt gegenüber der «Hauptstadt» eine Wahlkampfspende von 40’000 Franken von der Gewerkschaft Travailsuisse. Pikant: Offenlegen müsste er die Grossspende trotz der neuen Tranparenzregeln nicht.
- Brasserie Lorraine: Die Genossenschaftsbeiz Brasserie Lorraine hat einen Strafbefehl wegen Rassendiskriminierung erhalten, wie BZ/Bund berichten. Grund dafür ist, dass die Brasserie im vergangenen Sommer wegen Klagen über angebliche kulturelle Aneignung der weissen Reggae-Band Lauwarm ein Konzert abbrach. Der Strafbefehl ist nicht rechtskräftig und von der Brasserie Lorraine angefochten worden. Deshalb dürfte es demnächst vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland zu einer Verhandlung kommen. Zum Strafverfahren kam es aufgrund einer Anzeige der JSVP Kanton Bern, die sich dabei ausgerechnet auf die Anti-Rassismus-Strafnorm bezog.
- Schuleröffnung: Wenn am Montag die Schule nach den Herbstferien wieder beginnt, können 16 Oberstufenklassen der 7. bis 9. Klassen die neue Volksschule Baumgarten beziehen. Die Stadt Bern nutzt dort erstmals umgebaute Büroräumlichkeiten für Schulunterricht. Die zwei Bürotürme sind in den letzten Monaten dafür hergerichtet worden. Beispielsweise wurden Innenwände erstellt und Bodenbeläge versetzt. Bisher verfügten die zwei Türme über keinen Innenausbau. Erstmals für Bern gibt es im Baumgarten Atelierunterricht: Neben Inputräumen können die Schüler*innen in direkt angrenzenden Lernateliers individuell arbeiten.
- Solidaritätsbekundungen: Die Stadt Bern hat am Donnerstag- und Freitagabend die israelische Fahne auf den Zytglogge projiziert. Es handle sich um eine bewusste Solidaritätsbekundung der Stadt Bern mit Israel, hiess es auf Nachfrage der «Hauptstadt» bei der Stadt Bern. Zuvor hatten bürgerliche Parteien der Stadt Bern von der Stadtregierung gefordert, dass sie sich mit Israel solidarisch zeige. Heute Nachmittag findet auf der Berner Schützenmatte zudem eine Demonstration unter dem Titel «Solidarität mit Palästina» statt. Die Stadt hat die Kundgebung bewilligt, da keine Hinweise auf einen radikalen Hintergrund der Organisator*innen vorliegen würden.
- Mutgeschichten: «Zivilcourage bewegt – das Prinzip Brunschvig» heisst der neue theatrale Rundgang des Theaters an der Effingerstrasse, der heute Premiere feiert. Er dauert gut 1,5 Stunden und führt über knapp zwei Kilometer durch die Innenstadt, vom Theater an der Effingerstrasse bis in die Heiliggeist-Kirche. Dabei wird die Geschichte des mutigen jüdischen Berner Anwalts Georges Brunschvig (1908-1973) erzählt, der sich sein Leben lang für Menschenrechte eingesetzt hat und Anwalt beim damaligen Berner Prozess war, auf den die «Hauptstadt» diesen Sommer ausführlich zurückgeschaut hat. Ich war bei einem Probelauf dabei und finde: Gerade solche Mutgeschichten tun jetzt gut.
Bojana Antovic hat sich ein Tuch um die Haare geschlungen. Es ist noch früh, aber sie steht bereits seit Stunden in der Backstube. Vor ihr liegen diverse Brote, aber auch Focaccia und zudem die weltbesten Kardamom-Bullar. Wobei manche jetzt widersprechen würden: noch viel besser sind die Zitrone-Mohn-Buns.
An der Rezeption des ehemaligen Bundesamts für Landwirtschaft am Eigerplatz kann man jetzt an drei Tagen die Woche Brot kaufen. Bojana Antovic bäckt mit Sauerteig, sie nennt ihre Bäckerei Micro-Bakery, weil sie so klein ist. Antovic ist eigentlich Pianistin, Konzerte gibt sie immer noch. Doch ihre Tätigkeit als Klavierlehrerin hat sie aufgegeben, in dieser Zeit formt und backt sie nun.
Das Ganze startete vor über drei Jahren in ihrer Wohnstube in der Länggasse. Es war Lockdown, alle Konzerte abgesagt, Antovic hatte plötzlich viel Zeit zum Brotbacken. Es war schon vorher ihr Hobby gewesen, nun aber ermunterten Nachbar*innen sie, die Backwaren auch zu verkaufen. Bis heute gibt es den Verkaufsstand am Samstagmorgen an der Gesellschaftsstrasse in der Länggasse. «Le Bread» wurde geboren.
Und «Le Bread» wird grösser. Vor einem Jahr zog die wohl kleinste Bäckerei der Stadt Bern in die Rezeption ein. Insgesamt 11 Quadratmeter zum Backen. Über den Sommer machte Antovic ein Crowdfunding, um auch einen angrenzenden Raum zu mieten und die Backstube noch mehr zu erweitern. Längst bestreitet sie einen Teil ihres Lebensunterhalts mit der Bäckerei. Musikerin wird sie immer bleiben. «Was beides verbindet, ist die Leidenschaft», sagt sie. Sie spielt weiterhin in mehreren klassischen Ensembles – unter anderem mit ihrem Partner Julien Paillard (Akkordeon). Auch Paillard ist oft zupackend in der Backstube anzutreffen.
Heute Abend wird die neue Backstube offiziell eingeweiht. Natürlich geben die beiden dabei ein Konzert. Musik und Backen, das geht bei ihnen gut zusammen.
PS: Heute ist der Herbst endlich da. Und was würde da besser passen, als ein neues Album von Sophie Hunger? «Cinéma» besteht aus Filmmusik, die sie in den letzten zehn Jahren aufgenommen und komponiert hat. Viel Melancholie, viel Stimmung, ein wenig Pathos, sehr wenig Stimme. Für mich persönlich der Soundtrack für dieses Wochenende.