Eine Hommage an die frühen Lyrikerinnen
Barbara Traber setzt mit ihrem neuen Buch «Sie sind noch da» sechs Schriftstellerinnen, mit denen sie befreundet war, ein Denkmal. Und lädt zur Entdeckung von zu wenig beachteten Frauen ein.
«Der Wert von Frauenlyrik wurde lange gering geschätzt», sagt die Autorin Barbara Traber. «Man muss sie entdecken.» Eben hat sie ihr neuestes Werk veröffentlicht. «Sie sind noch da» ist eine Hommage an sechs Schweizer Schriftstellerinnen, die fast vergessen wurden.
Seit den 1970er Jahren forscht Barbara Traber über Schweizer Schriftstellerinnen – damals noch in den Zettelkästen der Nationalbibliothek. Über 40 Jahre beschäftigten sie ihre «Hobby-Recherchen», wie die 82-Jährige im Vorwort schreibt. Immer wieder flossen diese Recherchen in ihre journalistischen und literarischen Arbeiten ein.
So veröffentlichte sie 1980 den Band «Bernerinnen» mit Porträts von 40 Frauen aus sieben Jahrhunderten, die sich dank ihres besonderen Engagements im sozialen oder wissenschaftlichen Bereich hervortaten. Sie sammelte historische Reiseliteratur von Frauen wie Katharina Kaufmann oder Lina Bögli, für welche die Verlagswelt damals nicht offen war und die viel später als «Neuentdeckungen» gefeiert wurden. Traber arbeitete auch an der erweiterten Neuausgabe des Gesamtwerks von Maria Lauber mit.
Verse wie Stofffalten
In ihren «biographischen Skizzen» der sechs Schweizer Frauen, die sie literarisch begleitet haben, wählt Barbara Traber einen persönlichen Zugang. Die Porträts erzählen von Freundschaft, von Nähe und Distanz und auch von der Unmöglichkeit, das Gegenüber jemals ganz zu erfassen. Einmal erkennt die Autorin erst im Nachhinein die Dimension der seelischen Not der Freundin, die sich in ihrer Dichtung spiegelte.
Das Porträt über Radka Donnell (1928–2013) spricht von der Fragilität einer Künstlerin und Dichterin, die künstlerisch ihr schweres Kindheitstrauma bewältigte und am Ende ihres Lebens doch wieder von ihm heimgesucht wurde. Die bulgarische Quiltkünstlerin fand lange ein Zuhause im Zürcher Niederdorf. Traber formuliert ihre Erinnerungen in Briefform, unsicher, ob sie auch das Private erzählen darf; die spätere Demenz des Lebenspartners, vor der die Freundin in die USA flüchtete, dorthin, wo sie sich in ihrer Jugend zur Künstlerin und Kunsttherapeutin ausbilden liess.
Liest man die erste Strophe eines Gedichts aus Donnells Lyrikband «Die ‹Goldberg-Variationen›», versteht man sofort Trabers Faszination für die ein Dutzend Jahre ältere, zierliche Frau, «mit kurzem, dunklem Haar und auffallend grossen, braunen Augen voller Wärme und Herzlichkeit»: «mit diesem schweren / alten bügeleisen / glühenden kohlen drin / und einem schiffskiel / vorn fahr ich / über die hemden die / über seinem herzen erst / zu brennen beginnen (…)». Traber ist begeistert von der Form des Gedichtbandes: eine Aria und 30 lyrische Variationen in Anlehnung an Bachs «Aria mit 30 Veränderungen».
Eine Kindheit voller Bücher und Musik
Von ihrem Vater, der Lehrer war, erbte Traber die Liebe zur Musik. Er war leidenschaftlicher Geiger im Thuner Symphonieorchester, wo sie als Kind auch Yehudi Menuhin begegnete. Als Schülerin beriet Barbara Traber die Leser*innen in der Gemeindebibliothek. Wegen den wirtschaftlich schlechten Aussichten entschied sie sich gegen eine Lehre als Buchhändlerin und absolvierte die Handelsschule in Bern. Ein Glück, wie sich herausstellen sollte. Nach bestandenem Diplom und einer ersten Stelle in Genf reiste sie nach London, wo sie Privatsekretärin des späteren bulgarischen Nobelpreisträgers Elias Canetti wurde – in dieser Begegnung liegen auch die Wurzeln für das spätere Interesse an der bulgarischen Herkunft Radka Donnells.
Traber teilt die Abenteuerfreude und den Pioniergeist ihrer porträtierten Frauen. Nach dem Aufenthalt in London wird sie Botschaftssekretärin in Nigeria, worüber sie erst letztes Jahr ein Buch publizierte: «Nigeria – ich komme». Als Sekretärin beim Radio in der Abteilung Unterhaltung produzierte sie in der Freizeit literarische Musiksendungen, was vom damaligen Radio-Direktor nicht lange geduldet worden sei, wie sie erzählt.
In dieser Zeit beginnt Traber ein Journalistik-Studium in Freiburg und lernt ihren künftigen Mann und die Liebe ihres Lebens, den Troubadour Markus Traber, kennen. Er führt die Zytglogge-Buchhandlung, wo sie regelmässig die feministische Zeitschrift «Die schwarze Botin» bestellt. Sie heiraten bald und führen zusammen die Zytglogge-Buchhandlung. Anschliessend machen sie sich mit ihrem «Büro für fast alles» selbständig. Die Erinnerungen an ihren 2010 verstorbenen Mann hält sie 2022 im Buch «Markus Traber. Ohne Rücksicht auf Verluste» fest.
Pionierin der Modern Mundart
Als ihre Tochter zur Welt kommt, entdeckt sie die Mundartliteratur für sich. Zu dieser Zeit erscheint auch ihr erster Roman «Nebenzeit». Es folgen weitere Romane und Krimis, Erzähl- und Gedichtbände auf Mundart, literarische Reportagen, Biografien und französische Übersetzungen. Dabei liegt ihr besonders die Mundart am Herzen. Kein Wunder also, widmet Traber das erste Porträt ihres Buchs der Mundartdichterin Gertrud Burkhalter (1911–2000) aus Pieterlen, die sie als noch nicht 40-Jährige kennenlernt – für Traber neben Maria Lauber die bedeutendste Mundartdichterin des 20. Jahrhunderts.
Traber gibt einen berührenden Einblick in das Schaffen dieser zerbrechlichen Dichterin, die als Bibliothekarin in Oerlikon arbeitete und 1981 erst spät, mit 70 Jahren, den Literaturpreis der Schweizerischen Schillerstiftung und ein Jahr darauf einen Literaturpreis des Kantons Bern erhielt. Mit messerscharfem Verstand und lautmalerischem Gespür komprimiert Burkhalter Gefühle und Beobachtungen zu wenigen Zeilen und lässt in «modern mundart»-Gedichten Humorbomben zünden: «e Chlapf / e Chlupf / e Chlapf / ke Chlupf / nume no Chlepf (…). Barbara Traber lädt ein, die enorme Bandbreite von Burkharts Stimmungs-Klaviatur zu entdecken und damit auch ein Berndeutsch, das viele Nuancen und Schattierungen kennt, die weit über unsere Alltagssprache hinausgehen.
Beeindruckend ist auch die Beschreibung der Bundeshausjournalistin Lys Wiedmer-Zingg (1923-2014), für die bis ans Lebensende das Motto gegolten habe: «Wenn du nicht selbst etwas bewegst, bewegt es niemand für dich.» So hatte sie sich als schielende 14-Jährige selbst eine Augenoperation organisiert, indem sie dem Chefarzt gedroht habe: Wenn er das Schielen nicht wegoperiere, springe sie zum Fenster hinaus. Als fast 90-Jährige publizierte sie die Autobiographie «Missglückter Dressurakt»: «ein Querschnitt durch beinahe ein Jahrhundert exemplarisches Frauenleben, nah am Puls der Politik». Leider erzielte das Buch nicht die erhoffte Aufmerksamkeit. Nichtsdestotrotz plante Lys Wiedmer-Zingg ihre letzten Tage bis ins letzte Detail: «Noch bin ich unterwegs; meine grosse Wahlverwandtschaft, meine Freunde, quer durch die Generationen, geben mir das Gefühl, dass ich immer noch unterwegs bin und dass mir darum so viele kostbare Dinge entgegenkommen», schrieb sie in ihrer Autobiographie. Auch Barbara Traber sagt von sich: «Ich habe immer noch Stoff zum Schreiben.»
Trabers Porträts setzen Frauenfreundschaft und Solidarität selbst ein Denkmal und verdeutlichen auch die Ungerechtigkeit bei der Verteilung von Ruhm und Ehre. Die geschilderten Lebensgeschichten werfen unweigerlich die Frage auf: Was wäre gewesen, wenn diese Frauen zu Lebzeiten für ihr Schreiben mehr Aufmerksamkeit bekommen hätten?
In einem Essay zeigt Traber die Rezeptionsgeschichte von Schweizer Dichterinnen im 18. und 19. Jahrhundert auf. Das mag erklären, warum auch spätere Dichterinnen lange um Aufmerksamkeit kämpfen mussten. Bis ins 20. Jahrhundert fanden sie kaum Einzug in die Geschichtsbücher und frühen Anthologien. Sie wurden von der Literaturwissenschaft verleugnet, wie Barbara Traber herausarbeitet.
In der «Geschichte der schweizerischen Literatur» aus dem Jahr 1910 stösst sie auf die folgende Bemerkung: «In der modernen deutschen Schweiz fehlen auch die Schriftstellerinnen nicht, allein über Gedichte und unterhaltende Novellen kommen sie selten hinaus, obschon sich einzelne ziemlich breitmachen.»
Barbara Traber gräbt einige dieser zu Unrecht vergessenen Lyrikerinnen aus und ermuntert zum Entdecken und Weiterforschen.
Barbara Traber:«Sie sind noch da», Neptun Verlag, 2025.
Lesung: Sonntag, 2. November, 11.00 bis 12.15 Uhr, Ono Bern.
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