Im Rausch der Pilze
Pilzler*innen erleben einen fantastischen Herbst. Vor der Pilzkontrolle bei der Feuerwehr Viktoria bilden sich Schlangen wie sommers vor der Gelateria di Berna. Ein Augenschein.
Eine Stinkmorchel! Pilzkontrolleurin Iris Marthaler hat sichtlich Freude, als sie den kugelförmigen, weissen Pilz in einem Korb findet, den ihr ein Vater, der mit seinem kleinen Sohn im Wald war, auf den Tisch stellt. Im Innern des runden Pilzkopfs befindet sich, eingebettet in eine feuchte Masse, das sogenannte Hexenei, das natürlicherweise erbärmlich stinkt, wenn es im Wachstum nach aussen stösst. Erwischt man den Pilz aber richtigen Moment, ist das gebratene Hexenei für Pilzfreaks eine Delikatesse.
Im vorliegenden Fall empfiehlt Marthaler, die Stinkmorchel im Kompost zu entsorgen. Zu gross sei die Gefahr, dass das Hexenei zu Hause nicht mundet. Sondern stinkt.
Die Szene spielt sich am Donnerstagabend im Atemschutzlokal der ehemaligen Feuerwehr Viktoria im Breitenrainquartier ab. Dort hat sich die städtische Pilzkontrolle einquartiert, sie ist täglich geöffnet von 18 bis 19 Uhr (am Wochenende von 17 bis 18 Uhr).
Iris Marthaler ist die Ruhe und Freundlichkeit selbst. Mit sicherer Hand fischt sie vergammelte, ungeniessbare und – selten – giftige Pilze aus den präsentierten Funden und liefert nebenbei praktische Zubereitungstipps. Es gibt Pilze, die man 20 Minuten kochen muss, ehe man sie auftischen kann. Gut zu wissen, wenn man einen solchen nach Hause trägt.
Totentrompete im Fokus
Unter den Pilzler*innen im Kontrolllokal herrscht eine respektvolle, ja bedächtige Atmosphäre. Sorgfältig werden unter den Augen der Anwesenden die Trouvaillen zur Kontrolle ausgebreitet. Es ist, als wolle man der Diversität des komplexen Lebewesens Pilz, das für das Gedeihen des Waldes unentbehrlich ist, Tribut zollen. Auch als Laie ist man augenblicklich fasziniert, wenn die Vielfalt an Formen, Farben und Grössen unter dem künstlichen Licht so konzentriert hervortritt.
Gleichzeitig blickt man in lauter wache Augen. Die Lernbegierde ist mit Händen zu greifen. Grosses Interesse wecken unter den Anwesenden die Totentrompeten, so genannt wegen ihrer gräulich-schwarzen Färbung und ihrer trompetenartigen Hohlform. Man findet sie derzeit reichlich. Erfahrene Pilzler*innen wissen, was zu tun ist: Sie trocknen sie oder füllen in ihrer Tiefkühltruhe den Vorrat nach, damit die Versorgung langfristig gewährleistet ist. Wer weiss, was das nächste Jahr bringt.
«Wir erleben derzeit einen Boom aus mehreren Richtungen», sagt Monika Ackermann, ihrerseits Pilzkontrolleurin. Sichtbarstes Indiz: Die Warteschlange vor der Pilzkontrolle hat in den letzten Wochen praktisch jeden Tag rekordmässige Gelateria-di-Berna-Ausmasse erreicht. Am Tag, als die «Hauptstadt» zu Besuch war, regnete es während der Öffnungszeit in Strömen, was die Pilzler*innen nicht davon abhielt, draussen in der Schlange zu warten.
Explosion im Herbst
Die täglich einstündige Betriebszeit der Pilzkontrolle reicht nie und nimmer mehr aus. Teilweise seien 50 Personen mit ihren Pilzfunden angestanden, berichtet Monika Ackermann. Anstatt um 19 Uhr, haben die Kontrolleur*innen regelmässig erst um 21 Uhr Arbeitsschluss. Das knapp zehnköpfige Team der Pilzkontrolleur*innen, die ihre Ausbildung selber bezahlen und von der Stadt im Stundenlohn angestellt sind, ist laut Ackermann derzeit daran, sich so zu organisieren, dass pro Schicht zwei Personen anwesend sein können.
Ein Grund für den Boom ist der aus Pilzler*innensicht krasse Herbst. Nach dem trockenen Sommer sei mit den Niederschlägen im nach wie vor warmen September das Pilzwachstum «richtiggehend explodiert», sagt Monika Ackermann. Man stolpert in den Wäldern förmlich über Pilze, teilweise kann man sie ernten fast wie auf Feldern. Grenzen setzt vor allem die geltende Mengenbeschränkung von zwei Kilogramm Pilze pro Person und Tag, die man maximal im Wald ernten darf.
Nicht nur die blosse Menge an Pilzen ist diesen Herbst aussergewöhnlich, sondern auch deren Vielfalt, präzisiert Monika Ackermann. Teilweise seien im Einzugsgebiet um die Stadt Bern Pilzarten aufgetaucht, die man hier bis jetzt kaum gesehen habe. Der giftige Pantherpilz zum Beispiel, den man bisher nur in höheren Lagen antraf.
Diversität bei Pilzen…
Diese Veränderung der Pilzpopulation fordert selbstredend auch die Kontrolleur*innen heraus. Belastet einen im Pilzkontroll-Job die Angst, einen giftigen Pilz zu übersehen und mit nach Hause zu geben? «Nein», sagt Monika Ackermann, «das passiert uns nicht. Wir kontrollieren so, dass wir stets ruhig schlafen können. Im Zweifelsfall sortieren wir lieber einmal einen Pilz zu viel aus.»
Wenn Kontrolleur*innen einen giftigen Pilz finden, einen grünen Knollenblätterpilz etwa, dann sei das quasi ein Erfolgserlebnis: «Das gibt für die Anwesenden gleich praktischen Anschauungsunterricht», sagt Monika Ackermann, «alle hören gebannt zu.»
…und bei Sammler*innen
Das ist ein wichtiger Aspekt, weil sich nicht nur die Vielfalt der Pilzarten verändert, sondern auch die Diversität derjenigen, die sie sammeln. «Seit der Pandemie beobachten wir eine starke Zunahme junger bis sehr junger Menschen, die in die Pilze gehen», sagt Monika Ackermann. Sie hat, wenn sie mit ihnen im Gespräch ist, den Eindruck, dass dies Ausdruck einer Facette des Trends zu regionalen Produkten, vegetarischer oder gar veganer Ernährung oder urban Gardening ist.
Um es salopp auszudrücken: Es gibt wohl kaum ein günstigeres und pflegeleichteres hochwertiges Nahrungsmittel als einen selbst gesammelten Pilz. Wachsen tut er gratis und ohne menschliches Zutun, auch die hochqualifizierte Pilzkontrolle ist als Service public kostenfrei. Investieren muss man bloss einen Waldspaziergang und etwas Zeit beim Anstehen für die Kontrolle.
Monika Ackermann rät, die Pilzkontrolle auf jeden Fall aufzusuchen. Von den zahlreichen Pilzbestimmungs-Apps fürs Smartphone hält sie nicht viel. «Die Gratis-Apps sind zu ungenau und die zahlungspflichtigen zu wissenschaftlich», sagt sie. Neueinsteiger*innen empfiehlt sie, mit erfahrenen Pilzler*innen mitzugehen. Bei gemeinsamen Touren entwickle man ein Gefühl und ein Auge für Pilze – und dem Umfeld, in dem sie sich entwickeln.
Was man bei aktuellen Pilzler*innenboom nicht ausser Acht lassen darf: Das sorgfältige Sammeln beeinträchtigt laut Untersuchungen des Eidgenössischen Forschungsinstitut für Wald, Schnee und Landschaft die Pilzflora nicht negativ. Hingegen stehen die Naturräume, in denen Pilze gedeihen, ständig unter Druck.