«Wir rennen von einer existenziellen Krise in die nächste»
Wie kann die Stadt Bern eine klimafreundliche Ernährung fördern? Lukas Fesenfeld forscht zu nachhaltigen Ernährungssystemen – und kennt die Antworten.
Die Ernährung ist für knapp einen Drittel der Umweltbelastung in der Schweiz verantwortlich. Ihr Einfluss ist also ähnlich stark wie der des Wohnens und der Mobilität. Was auf den Teller kommt, hat eine grosse Wirkung darauf, wie stark sich die Klimakrise zuspitzt. Über 30 Wissenschaftler*innen haben im Februar einen Leitfaden herausgegeben mit Empfehlungen an die Politik. Sie zeigen Wege, wie das Ernährungssystem im Einklang mit den globalen Nachhaltigkeitszielen gestaltet werden könnte. Geleitet hat das Projekt Lukas Fesenfeld, Politökonom an der Universität Bern und der ETH Zürich.
Lukas Fesenfeld, gemäss Ihrer Forschung sollen die Menschen bis 2030 halb so viel Fleisch, Eier und Milchprodukte konsumieren wie heute. Wie soll das gehen?
Zum Beispiel können Restaurants ihr Angebot anpassen. Eine Studie hat gezeigt, dass der Konsum pflanzlicher Lebensmittel um 80 Prozent gestiegen ist, nachdem eine öffentliche Kantine das Angebot pflanzlicher Lebensmittel verdoppelt hat.
Essen ist mit Emotionen verbunden. Bei Eingriffen in das Angebot kommt schnell die Angst auf, dass die Freiheit eingeschränkt werde.
Viele Menschen sind offen, ihre Ernährungsgewohnheiten zu verändern. Und zwar unabhängig von der Generation, das zeigt die Forschung. Wenn ich beobachte, dass meine Mitarbeiter*innen oder Familienmitglieder das Vegi-Gericht wählen, bin ich eher dazu geneigt, es ihnen gleichzutun. Ausserdem ist es eine Illusion, zu glauben, dass der Staat heute den Individuen die komplette Freiheit lässt in Sachen Lebensmittel.
Wie meinen Sie das?
Der Staat setzt die Rahmenbedingungen für das Ernährungssystem. Zum Beispiel beeinflusst er das Angebot durch Regulationen, Steuern sowie Subventionen für Produktion und Werbung. Wegen dieser Rolle ist der Staat der zentrale Akteur für die Umwandlung des Ernährungssystems.
Die Stadt Bern erarbeitet gerade ihre neue Energie- und Klimastrategie, die ab 2025 gültig ist. Sie soll auch Ziele bezüglich Ernährung enthalten. Was kann eine Stadt wie Bern zu einem nachhaltigen Ernährungssystem beitragen?
Städte sind wichtig, weil dort viele Menschen leben. Da kann eine positive Dynamik entstehen. Ausserdem sind Städte nahe am Lebensalltag der Bevölkerung und haben so einen direkteren Kontakt zu den Menschen als zum Beispiel der Bund.
Konkret: Welche Massnahmen schlagen Sie der Stadt Bern vor?
Der grösste Hebel liegt in der Ausser-Haus-Verpflegung. Bei den eigenen Betrieben wie Kantinen und Kitas können die Städte direkt Einfluss nehmen auf das Angebot. Etwa, wie anfangs erwähnt, indem sie den Anteil pflanzlicher Lebensmittel erhöhen. Weil tierische Produkte subventioniert werden, kann das im Moment zum Teil noch Mehrausgaben bedeuten. Doch auch da gibt es einen Spielraum. Wenn zum Beispiel saisonale Produkte auf dem Speiseplan stehen, können pflanzliche Menüs günstiger sein als tierische.
Im letzten Jahr hat der Berner Stadtrat eine Motion abgelehnt, die genau das forderte: vegetarische und vegane Gerichte in den städtischen Gastro-Betrieben.
Die Forderung, ausschliesslich vegetarische oder vegane Gerichte anzubieten, ist zu radikal und aus meiner Sicht politisch nicht schlau. Ausserdem ist es wissenschaftlich betrachtet gar nicht notwendig, dass wir alle Veganer*innen werden.
Sondern?
Man kann den Anteil pflanzlicher Produkte erhöhen, indem man zum Beispiel bei einer Bolognese weniger Fleisch verwendet. Ausserdem gibt es sogenannte Blended Products: Burger etwa, die aus pflanzlichen und tierischen Produkten bestehen. Der Einsatz und die Entwicklung von solchen Produkten sind längst noch nicht ausgeschöpft.
Gibt es weitere Möglichkeiten, wie Städte auf das Ernährungsverhalten ihrer Einwohner*innen einwirken können?
Sie können zum Beispiel Schulgärten einrichten und gemeinsam mit dem Kanton schauen, dass in den Lehrplänen Wissen zu nachhaltiger Ernährung verankert ist. Oder zivilgesellschaftliche Netzwerke wie Ernährungsforen fördern.
Welche Rolle spielen Informationskampagnen?
Wie die Forschung zeigt, sind sie nur bedingt wirkungsvoll. Plakate im öffentlichen Raum können eine allgemeine Stimmung transportieren. Wirkungsvoller sind Massnahmen, die nahe am Alltag der Menschen sind. Ich denke da an Infoblätter auf Tischen in Restaurants. Oder an interaktive Bildschirme, die zeigen, wie sich das Essverhalten in der Kantine über die Monate entwickelt hat. Wenn der Anteil pflanzlicher Gerichte zugenommen hat, zeigt das, dass sich die Norm wandelt. Das kann einen positiven Spirit signalisieren, der zu noch mehr Veränderungen animiert.
In Ihrem Leitfaden schlagen Sie einen Fahrplan bis 2030 vor, unterteilt in vier Phasen. Wie sehen diese aus?
Bis 2025 sollte ein Transformationsfonds eingerichtet sein. Er könnte sich aus privaten und öffentlichen Geldern speisen und Anpassungen entlang der ganzen Wertschöpfungskette finanzieren. Zum Beispiel Landwirt*innen beim Umstieg von der Fleisch- auf die Hülsenfrüchteproduktion unterstützen oder bei der Installation von Agro-Photovoltaik.
Und weiter?
Ab 2025 sollten Lenkungsabgaben und andere regulatorische Massnahmen eingeführt werden, zum Beispiel eine CO2-Steuer. Zudem sollte der Handel stärker in die Pflicht genommen werden und fairere Preise für Produzierende zahlen. Dank der gezielten Förderung aus dem Transformationsfonds in der ersten Phase kann zudem der Widerstand gegen solche Massnahmen reduziert werden.
Fehlen noch Phase drei und vier.
In der dritten Phase, ab 2026, stehen agrarpolitische Massnahmen an. Klimaschädigende Subventionen müssen umgelenkt werden; die pflanzenbasierte Produktion stärker gefördert und die Tierbestände reduziert werden. Zudem sollen die Bäuer*innen in diesem umfassenden Transformationsprozess finanziell und sozialpolitisch unterstützt werden. In der letzten Phase würden bestehende Massnahmen verschärft. Zum Beispiel könnte der CO2-Preis steigen.
Der Zeitplan ist ambitioniert. Wie zuversichtlich sind Sie, dass die Politik all diese Massnahmen bis 2030 umsetzt?
Bundesrat Guy Parmelin hat gesagt, dass er mit den Empfehlungen einverstanden ist. Aber er will sie erst ab 2030 schrittweise einführen. Diese Zeit haben wir nicht. Wir rennen von einer existenziellen Krise in die nächste. Wenn nun Landwirt*innen unmittelbar mit Dürren zu kämpfen haben, wird der Handlungsdruck sichtbar. Das könnte die Politik zum raschen Handeln bewegen. Umso früher wir handeln, umso mehr Handlungsspielraum haben wir und umso günstiger wird es für uns alle.
Im Leitfaden steht, dass die Ernährungssicherheit bedroht ist. Gilt das auch für die Schweiz?
Der Nährstoff- und Kalorienbedarf der Bevölkerung in der Schweiz ist noch nicht unmittelbar bedroht. Aber bei einzelnen Produkten kann es auch jetzt schon vorkommen, dass sie nicht immer verfügbar sind. Während Corona und durch den Krieg in der Ukraine wurde sichtbar, wie sensibel die Schweiz auf Veränderungen in der internationalen Wertschöpfungskette reagiert.
Da nützt es auch wenig, dass die Schweiz ein reiches Land ist.
Der Wohlstand der Schweiz basiert auf funktionierendem Handel. Wenn die Ernährungssicherheit im Ausland gefährdet ist, besteht die Gefahr, dass der internationale Handel einbricht. Und die Schweiz kann längst nicht ihren ganzen Bedarf ohne Importe decken. Ausserdem nehmen Dürren, Wassermangel, Extremwetterereignisse und Pandemien bei Mensch und Tier zu. Das alles hat direkten Einfluss auf die Nahrungsproduktion. Perspektivisch wird so auch die Ernährungssicherheit in der Schweiz gefährdert.
Gerade ist die Unterschriftensammlung für eine Initiative angelaufen, die einen Selbstversorgungsgrad von 70 Prozent fordert. Könnte das eine Lösung sein?
Ich müsste mich genauer mit der Initiative befassen, um das sagen zu können. Generell haben Initiativen Vor- und Nachteile: Sie können ein Thema auf die Agenda bringen. Häufig greifen sie aber zu kurz. Je nach Ausgestaltung können sie zu unerwarteten Konsequenzen führen, weil sie das strategische Ineinandergreifen von verschiedenen Massnahmen entlang der Wertschöpfungskette nicht berücksichtigen.
Was halten Sie von der Grundidee, den Selbstversorgungsgrad zu erhöhen? Gemäss den Initiant*innen würde so die Fläche für den Anbau pflanzlicher Lebensmittel steigen und die Tierbestände würden zurückgehen.
Auch wenn er wichtig ist, sollte der Selbstversorgungsgrad nicht die einzige Messgrösse sein. Denn das kann dazu führen, dass noch mehr Pestizide einsetzt werden, um die Produktion zu steigern. Kurzfristig mag die inländische Produktion so steigen, mittelfristig würde sie aber sinken, weil die Böden kaputt sind. Es führt nichts daran vorbei: Der Konsum muss sich fundamental verändern.
Angenommen Sie sind politischer Entscheidungsträger. Welche Massnahme würden Sie morgen einführen?
Ein sogenanntes Zukunftsgremium, wie wir es auch in unserem Leitfaden vorschlagen. Das wäre ein Gremium, das über die Legislaturperiode hinaus arbeiten würde. Darin vertreten wären alle zentralen Akteur*innen entlang der Wertschöpfungskette: Umwelt- und, Gesundheitsorganisationen, Konsumentenschützer*innen, Produzent*innen, Gewerbler*innen und so weiter. Gewählt würde es vom Parlament, damit es demokratisch legitimiert wäre.
Was wäre die Aufgabe dieses Gremiums?
Die zentralen Akteur*innen würden gemeinsam einen konkreten Handlungspfad entwickeln für die Transformation des Ernährungssystems. Es braucht einen Ort, wo die Akteur*innen vertrauensvoll verhandeln und praxisnahe Lösungen erarbeiten können. Sonst werden Entscheide getroffen, die wenig langfristig gedacht und politisch nicht tragfähig sind – und am Leben vorbeigehen.