«Ich rede lieber von autoarm»
Sie will weniger Autos auf dem Bahnhofplatz und mehr Fahrräder in den Velostationen: SP-Gemeinderätin Marieke Kruit im Interview zur Stadtberner Verkehrspolitik.
Marieke Kruit, besitzen Sie ein Auto?
Nein. Ich habe kein Auto.
Warum nicht?
Früher, als ich im Berner Oberland wohnte, hatte ich natürlich eins. Ich wohnte an einem Ort, wo nur fünfmal am Tag ein Postauto fuhr. Als ich in die Stadt kam, merkte ich, dass ich nicht auf das Auto angewiesen bin. Es wurde eher lästig. Ich brauchte etwa einen Parkplatz. Da verzichtete ich auf das Auto – ich war sowieso schon mehrheitlich mit dem ÖV unterwegs. Auf das Velo stieg ich aber erst dank der Velooffensive und der damit besseren Veloinfrastruktur. Ich muss präzisieren: Ich bin nun mit einem E-Bike unterwegs.
Aber als Verkehrsdirektorin wissen Sie sicher, wie man als Autofahrer*in am besten durch die Stadt kommt. Autofahren sei in der Stadt mühsam, klagen Gewerbetreibende. Wie fährt ein*e Handwerker*in mit dem Auto von Holligen in die Lorraine?
Ich würde zuerst Richtung Inselspital und dann über den Bahnhofplatz.
Wie fährt ein 12-jähriges Kind von Holligen in die Lorraine?
Mit dem Velo oder mit dem ÖV.
Welchen Weg nimmt das Kind auf dem Velo?
Das Kind sollte auf einem Veloweg fahren. Die genaue Route dort habe ich gerade nicht im Kopf. Wir sind ja daran, diese auszubauen und zu verbessern.
Dann würden Sie also ein 12-jähriges Kind mit dem Velo über die Laupenstrasse und am Bahnhof vorbei in die Lorraine schicken?
Es kommt auf die Fahrkompetenz des Kindes an. Es würde wohl besser in Begleitung einer erwachsenen Person fahren.
Ein Auto kommt gut durch beim Bahnhof. Für ein 12-jähriges Kind auf dem Velo ist es hingegen eher heikel. Die Verkehrsinfrastruktur ist noch immer stark auf das Auto ausgerichtet.
Ja. Das ist im Moment noch so. Wir werden weiter in die Veloinfrastruktur investieren müssen. Aber wir sind auf gutem Weg. Es ist sehr viel gegangen, gerade wenn ich zurückdenke an die Zustände vor etwa dreissig Jahren, als ich in die Stadt Bern zog.
Unter Ihrer Vorgängerin Ursula Wyss ging der Umbau des Stadtverkehrs richtig voran. Gefühlt hat das politische Tempo wieder abgenommen. Wann ist Bern eine richtige Velo-Hauptstadt?
Unser Einsatz hat nicht abgenommen. Der Stadtrat hat kürzlich über die Velorouten in Berns Westen befunden. Das bringt eine deutliche Verbesserung. Auch mit kleinen Massnahmen wie etwa zwischen der Monbijoubrücke und dem Thunplatz schaffen wir eine bessere Situation für Velofahrer*innen. Wir verzeichnen in Bern eine Zunahme der Menschen, die das Velo nutzen. Unser Ziel ist eine gute Veloinfrastruktur für 8- bis 80-jährige.
Auch Velos sind zum Teil ein Ärgernis, etwa das wilde Parkieren rund um den Bahnhof. Bekommen Sie das mit dem 24h-Gratis-Parking in der Velostation in den Griff?
Wir haben noch immer zu wenig Veloparkplätze rund um den Bahnhof. Wir bräuchten 10’ 000, haben aber derzeit nur 5’000. Ein Schritt in diese Richtung ist die zusätzliche Velostation in der Welle 7. Die Abstimmungsbotschaft ist nun im Stadtrat. Teil davon ist auch der Pilot-Versuch mit dem 24-Stunden-Gratis-Parking in den Velostationen Postparc und Welle 7. Damit wollen wir eine Verlagerung von aussen nach innen erreichen. Der Gemeinderat will bei den Veloparkplätzen im Freien mehr Ordnung. Künftig kann man das Velo draussen im Bereich Schanzenstrasse/Hirschengraben nur drei Tage am Stück stehen lassen. Danach wird es weggeräumt.
Die Schraube wird also angezogen bei den Velofahrer*innen, die um den Bahnhof Platz beanspruchen.
Wir ziehen nicht die Schraube an, sondern präsentieren in den Velostationen Postpark und Welle 7 ein hervorragendes Angebot.
Seit Anfang 2021 führt die SP-Gemeinderätin Marieke Kruit die Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün. Vor ihrer Wahl in die Regierung war die 54-jährige Psychologin sieben Jahre im Berner Stadtrat und arbeitete in leitenden Funktionen psychiatrischen Diensten in Thun und im Obberaargau.
Expert*innen fordern schon länger eine Verkehrswende: weg vom motorisierten Individualverkehr (MIV) hin zu mehr Platz für Fussgänger*innen und Velos. Wie stark werden Sie den Autoverkehr in den kommenden Jahren reduzieren?
Wir haben klare Vorgaben im Stadtentwicklungskonzept. Daran müssen wir arbeiten. Wir wollen die nachhaltige Mobilität fördern. Der Anteil des MIV am Gesamtverkehr soll bis 2030 von 43 Prozent auf 30 Prozent sinken
Erreicht man so die Kilmaziele, die sich die Stadt Bern gesetzt hat?
Ja, davon sind wir überzeugt. Das Wichtigste ist, dass wir attraktive Alternativen zur Verfügung stellen.
Die wären?
Ein guter ÖV und eine gute Infrastruktur für Fussgänger*innen und Velofahrer*innen. Zudem sollten wir zunehmend auf kombinierte Mobilität setzen.
Was bedeutet kombinierte Mobilität?
Alle Verkehrsmittel zur Verfügung haben, aber keines besitzen. Das geschieht etwas mit einem Veloverleihsystem, einem ausgebauten ÖV und Car-Sharing wie zum Beispiel Mobility.
All das ist heute schon da.
Wir müssen es besser und einfacher miteinander verknüpfen. Der Kunde und die Kundin sollten das alles mit einer App buchen und kombinieren können.
Wer bietet diese App an?
Darüber diskutieren wir mit anderen Städten und Transportunternehmen. Es braucht da sicher die Städte. Neben der App müssten wir auch einen Platz schaffen, wo all diese Sharing-Angebote zentral und einfach nutzbar sind.
Wo wird in Bern dieser Platz sein?
Derzeit prüfen wir Standorte. Wir beabsichtigen, bis Ende Jahr einen solchen Mobilitäts-Ort zu präsentieren.
Bern ist schon lange links-grün regiert und trotzdem dominieren Autos die Stadt noch weitgehend. Viele linke Politiker*innen haben den Verkehr bisher als Teil einer Wachstumspolitik gesehen und ausgebaut. Für eine echte Verkehrswende braucht es aber das Gegenteil. Wie macht Bern das Autofahren in der Stadt für Privatpersonen unattraktiver?
Für mich ist es wichtig, die Leute von einem guten Angebot zu überzeugen. Das ist wirkungsvoller und nachhaltiger, als sie zu etwas zwingen zu wollen. Es braucht aber eine gewisse Lenkungswirkung. Früher stand der Autoverkehr im Zentrum, heute werden zusätzliche Bedürfnisse an den öffentlichen Raum gestellt. Wir bauen darum Spuren und Parkplätze ab.
Der Ausbau des Autobahn-Anschlusses Wankdorf widerspricht der rot-grünen Verkehrspolitik. Warum ist der Gemeinderat dafür?
Es ist ein Projekt des Bundesamts für Strassen. Ich bin gegen einen grossflächigen Ausbau der Autobahn. Aber die Schnittstellen zur Stadt müssen geklärt werden. Zum Schutz der Quartiere müssen wir verhindern, dass es massive Staus auf der Autobahn gibt. Sonst kommt es zu Ausweichverkehr.
In der Stadt hat es noch viele mehrspurige Strassen, wie zum Beispiel die Laupenstrasse. Innerhalb der Stadt erscheinen sie unsinnig. Sollten Sie da nicht schneller abbauen?
An vielen Orten haben wir Spuren abgebaut, weitere folgen. Zu beachten ist, dass der ÖV flüssig fahren kann, es keinen Ausweichverkehr ins Quartier gibt oder die Verkehrssicherheit beeinträchtigt wird.
Die Stadt will die Parkplätze um die Hälfte reduzieren. «Bund/BZ» rechneten Ihnen kürzlich vor, es dauere noch 56 Jahre, bis das Realität werde, wenn der Abbau im gleichen Tempo wie bis anhin weitergehe.
Der Grund sind die vielen Einsprachen. Deshalb müssen wir Blockaden möglichst vermeiden, um vorwärts zu kommen.
In der Länggasse hat das Verwaltungsgericht die Einsprachen aber abgeschmettert.
Die Verfahren verzögern die Projekte. Und wir haben sehr viele Einsprachen. Meine Vorgehensweise ist darum, zu erklären, warum die Parkplätze abgebaut werden sollen. Ich will die Leute mitnehmen in diesem Prozess. Ich habe auch das Gespräch mit dem Gewerbe intensiviert und hoffe nun auf eine Reduktion der Einsprachen.
Sie gelten mittlerweile schon fast als Gewerbe-Versteherin. Die Wirtschaftsverbände lobten Sie kürzlich wieder. Bestimmt wissen Sie, wo dem Gewerbe verkehrstechnisch der Schuh drückt.
Eine Malermeisterin muss in der Stadt dort parkieren können, wo sie gerade arbeitet. Mit der Änderung der Parkierung in der unteren Altstadt wird sich die Situation für die Handwerker*innen verbessern, da weniger private Autos herumstehen werden.
Kann man denn auch in anderen Quartieren die Parkplatz-Situation fürs Gewerbe verbessern?
Wir sollten zunehmend die Parkplätze vom öffentlichen in den privaten Raum verlegen. Es gibt eigentlich genug privaten Parkraum. Das nimmt den Druck weg vom öffentlichen Raum und gibt mehr Platz für kurzfristiges Parkieren.
Was ist das ideale Tempolimit in der Stadt?
Der Verkehr soll fliessen, möglichst wenig Lärm produzieren und möglichst sicher sein. Das ist in der Regel bei Tempo 30 der Fall. In den Quartieren bei Tempo 20.
Warum verordnen Sie nicht einfach Tempo 30 auf dem ganzen Stadtgebiet?
Auf zwei Drittel des Verkehrsnetzes gelten Tempo 30 oder weniger. Da sind wir im Vergleich zu anderen Städten weit. Auch bei Tempo 30 gibt es Einsprachen. Wenn wir schrittweise arbeiten, kommen wir rascher ans Ziel.
Auf der Laupenstrasse und am Bahnhof vorbei gilt Tempo 50. Das macht doch mitten in der Stadt keinen Sinn.
Wir gehen Schritt für Schritt. Bereits heute ist es in der Stadt wegen der Verhältnisse kaum möglich, mehr als 30 Stundenkilometer zu fahren.
Aber erlaubt es ist noch. Darum können die jungen Herren mit ihren Sport-Boliden rund um den Bahnhof aggressiv und laut beschleunigen. Diesem Ärgernis könnte man mit tieferen Tempolimits auch begegnen.
Darum werden wir zunehmend Abschnitte beruhigen.
Oft hört man, der ÖV werde durch Tempo 30 langsamer. Ist das in Bern ein Problem?
Wir analysieren das mit Bernmobil in einem Pilotprojekt und schauen dann, ob es flankierende Massnahmen für den ÖV braucht.
Die «Hauptstadt» hat den Bahnhofplatz mit einer Video-Animation vom Verkehr entrümpelt. Würde es Sinn machen, den Bahnhofplatz autofrei zu machen?
Die Frage ist: Was verstehen Sie unter autofrei?
Der MIV müsste weg.
Was ist mit Gewerbe und ÖV?
Autofrei hiesse autofrei. Sie würden offenbar gewisse Autos noch zulassen.
Ich rede lieber von autoarm statt von autofrei. Es ist momentan nicht möglich, diese zentrale Verkehrsachse völlig zu schliessen.
Wie würde ein autoarmer Bahnhofplatz aussehen?
Wir hätten möglichst keinen motorisierten Individualverkehr. Wir haben aber den ÖV, Velos und Fussgänger*innen. Und wir müssten schauen, was dies für Auswirkungen für Handwerker*innen und Taxis hätte, aber auch auf die umliegenden Quartiere. Was dies konkret bedeutet, muss eingehend geprüft und aufgezeigt werden. Aber sicher: Man könnte viel machen mit dem Platz. Wir sind dazu mit den umliegenden Gemeinden in der Regionalkonferenz im Gespräch, weil es eine zentrale Verkehrsachse ist.
Wann ist ein autoarmer Bahnhofplatz möglich?
Sicher nicht in den nächsten zwei bis drei Jahren.
Und dann gibt es künftig direkt am Bahnhof Platz für einen Standort für kombinierte Mobilität?
Zum Beispiel. Zürich nutzt ja für seine Zürimobil-Stationen zentrale, sehr gut vom ÖV erschlossene Plätze.
Diesen Sommer wurde durch die Hitze die klimagerechte Gestaltung des öffentlichen Raums hochaktuell. Sie haben als Parlamentarierin 2019 in einem Vorstoss konkrete Massnahmen zur Entsiegelung von Asphaltflächen gefordert, um die Stadt grüner und hitzeverträglicher zu machen. Nun sind Sie an den Schalthebeln. Welche Ideen Ihrer Liste haben Sie schon umgesetzt?
Wir räumen Klimaanpassungsmassnahmen hohe Priorität ein. Die konkrete Liste von damals habe ich gerade nicht mehr präsent.
Sie wollten zum Beispiel die Tramschlaufe Fischermätteli begrünen.
Wir konnten bereits erste Projekte umsetzen und denken Klimaanpassung nun von Anfang an mit. Generell kann ich sagen: Die Vernetzung mit anderen Städten ist wichtig.
Warum muss man für eine Begrünung der eigenen Stadt mit anderen Städten sprechen?
Weil wir bei vielen Fragen noch ganz am Anfang stehen und wir voneinander profitieren können. Es geht aber nicht nur um Begrünung. Entsiegelung reicht zum Teil auch schon. Die Versickerung des Wassers ist zudem wichtig. Und auch die Frage, wie wir mit unseren Bäumen umgehen. Diesen geht es wegen der Hitze nicht gut. Wir überprüfen derzeit bei jedem Projekt, ob wir nachbessern können. Oft wurde in letzter Zeit der sanierte Eigerplatz als schlechtes Beispiel erwähnt.
Wie würden Sie den Eigerplatz heute gestalten?
Wir würden sicher mehr unversiegelte Fläche einplanen. Beim Umbau im Breitenrain konnten wir mit zusätzlichen Entsiegelungen eine Verbesserung erreichen. Wir arbeiten auch eng mit der Universität Ber n zusammen. Das Monitoring der Uni zeigt, dass schon viel erreicht wurde. Wir schauen nun bei jedem Projekt ämterübergreifend, welche Klimamassnahmen möglich sind. Die grosse Herausforderung sind nun Bären- und Waisenhausplatz. Da müssen wir abwägen, welche Massnahmen im Unesco-Perimeter möglich sind.
Muss der Denkmalschutz zurückstehen, wenn es ums Klima geht? Wir müssen gute Kompromisse finden. Wir haben Klima-Hotspots in der Stadt Bern, brauchen aber auch kleine Projekte an vielen Orten. Wir müssen das Thema Biodiversität sichtbarer machen. Wir sind darum stolz auf den Preis der Binding-Stiftung, den Stadtgrün für das Projekt «Natur braucht Stadt» erhalten hat. Und auch die Bevölkerung kann viel beitragen zur Biodiversität auf den Balkonen und in den Gärten.