Im Namen der Innovation, der Vernetzung und des heiligen Geistes

Mehr Kirchenaustritte, weniger Kirchensteuern. Die reformierte Kirche steht unter Druck, sich zu wandeln. Das versucht sie. Zum Beispiel mit dem Projekt Blickwechsel im Wylerquartier.

Pfarrer Tobias Rentsch fotografiert am Freitag, 12. April 2024 in Bern. (Hauptstadt / Manuel Lopez)
In der Markuskirche im Wylerquartier finden ab dem 19. April Techno-Partys, Konzerte und Theater statt. (Bild: Manuel Lopez)

Es ist Freitagabend. Vor dem Eingang zur Markuskirche bei der gleichnamigen Station des 20er-Busses im Wyler stehen zwei Personen in Sicherheitsuniformen. Aus dem Inneren tönt laute Musik. Doch es ist weder Orgelmusik noch Kirchengesang. Es ist dröhnender Techno. Das kann irritieren, ist aber erst der Anfang. Solche Partys sind in den nächsten Wochen in der Kirche noch öfter geplant. 

Mit dem Projekt Blickwechsel zieht nun eine zweite Zwischennutzung – nach dem Restaurant-Pop-Up im Winter – in die Markuskirche ein, bis sie ab September 2024 umgebaut wird. Ab Freitag, dem 19. April bis Ende Juni sind Barbetrieb, Yoga, Techno-Partys, Konzerte oder Filmabende geplant. Zudem nutzt das Theaterfestival Auawirleben im Mai die kirchlichen Räume für seine Veranstaltungen. 

Architekturstudierende der Berner Fachhochschule und Lernende Hochbauzeichner*innen der Gibb Berufsfachschule haben hier bis im Juli Unterricht. Einige davon leben für diese Zeit sogar als WG im Kirchgemeindehaus. Ausserdem ist das Integrationsprojekt Mazay jeden Dienstag einquartiert und die Quartierkommission Dialog Nordquartier beteiligt sich am Projekt.

Die Nähe zur Architektur ist kein Zufall. Präsident der Kirchgemeinde Johannes und Markus und Mitinitiator von Blickwechsel ist Marco Ryter, pensionierter Architekt und ehemaliger Dozent an der Fachhochschule Bern. «Das Projekt soll für die Menschen im Quartier sein. Wir haben es bewusst in die Hände anderer Organisationen gegeben, damit nicht nur die Kirche im Zentrum steht», sagt er. 

Solche Veranstaltungen in einer Kirche mögen auf den ersten Blick erstaunen. Es ist aber nicht das einzige unkonventionelle Projekt, das in den Räumen oder von Mitgliedern der reformierten Kirche entsteht. Und zeigt: Die reformierte Kirche will sich wandeln, um mit neuen Angeboten wieder näher an die Menschen zu kommen. 

Vernetzung und Förderung

Die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn haben die Initiative ergriffen und 2021 das Projekt Kirche in Bewegung lanciert. Innovative Projekte sollen über einen sogenannten Erprobungsfonds gefördert werden, den die Reformierten Kirchen mit einem Betrag von 1,2 Millionen Franken speisen.

«Mit Kirche in Bewegung wollen wir Erprobungsräume für Projekte schaffen, die sich nicht an die gewohnten Rahmenbedingungen einer Kirchgemeinde halten müssen, wie zum Beispiel, dass jeden Sonntag eine Predigt stattfindet.» Das sagt Franziska Huber, die Kirche in Bewegung mitgegründet hat. Sie gehört zum Gremium, das Entscheidungsträger*innen berät, welche Projekte aus der Perspektive von Innovation und Kirchenentwicklung unterstützungswürdig sind. Unter den Erprober*innen sind zum Beispiel das Dock8 in Holligen, das alte Pfarrhaus in Muri, eine Coiffeuse mit selbstbestimmten Preisen, ein Seelsorgeangebot für Unternehmer*innen oder eine Ritualagentur. Das Projekt Blickwechsel von Marco Ryter gehört (noch) nicht dazu.

Pfarrer Tobias Rentsch fotografiert am Freitag, 12. April 2024 in Bern. (Hauptstadt / Manuel Lopez)
Der «Töggelichaschte» darf im Kirchgemeindehaus der Markuskirche für die zweite Zwischennutzung bleiben. (Bild: Manuel Lopez)

Dass sich die Kirche in Bewegung bringen will, hat auch mit den rückläufigen Mitgliederzahlen und den damit verbundenen schwindenden Kirchenfinanzen zu tun. Franziska Huber sagt aber: «Hier in Bern sind wir verglichen mit anderen Kantonalkirchen noch stabil unterwegs.» Es sei aber wichtig zu agieren, bevor man nur noch reagieren könne. 

Missionieren optional

Wieviel Nähe zur Kirche ist nötig, damit ein Projekt von Kirche in Bewegung unterstützt wird? Für die Beurteilung der Beitragsgesuche haben Huber und ihre Kolleg*innen Leitplanken aufgestellt, die sich unter anderem um die im kirchlichen Kontext aufgeladenen Begriffe wie Mission und missionarisches Handeln drehen. 

Da Vielfalt erwünscht sei, würden die Rahmenbedingungen bewusst weit definiert, sagt Huber. Sie selbst vertrete eine offene, liberale Theologie. Sie wisse aber, dass es in der Landeskirche auch Menschen mit einer anderen Haltung gebe. «Oft haben die besonders engagierten Menschen ein Kirchen- oder Theologieverständnis, das enger ist als der landeskirchliche Durchschnitt.» Huber meint damit das, was man unter Freikirchen versteht.

Pionier*innen würden aber oft aus diesen Formen der Kirche kommen und deshalb seien Leitplanken mit einer gewissen Bandbreite wichtig. So werde dort etwa der Unterschied zwischen Mission und Missionieren umschrieben. Eine Mission hat praktisch jede Organisation oder Firma, auch die Kirche. Franziska Huber formuliert den Unterschied so: «Begeistert über das eigene Projekt und die Hoffnung reden, die einen trägt, ist toll. Aber Menschen vereinnahmen oder manipulieren, das geht nicht.»   

Derzeit gebe es bei den Projekten, welche Kirche in Bewegung fördere, ein ungefähres Gleichgewicht zwischen solchen mit einer sehr offenen, liberalen Theologie und anderen mit einer eher frommen, positiven. Die Innovationsgruppe sei sehr achtsam in Bezug auf unterschiedliche Glaubensstile. 

Unklare Aussichten

Ein positiver Effekt von Kirche in Bewegung sei, dass Kirchgemeinden durch diese Projekte mit Fragen in Berührung kämen, die sie bisher nicht gekannt hätten, sagt Huber. «Kirchgemeinden gehen auf diese Probleme und Fragen ein und entwickeln sich dadurch weiter.»

Die Veränderungen, die sich daraus ergeben, können nicht immer auf der Stufe einer Kirchgemeinde gelöst werden. Dazu bräuchte es auch Veränderungen auf der Ebene der Kantonalkirche. Huber nennt ein konkretes Beispiel: «Die Person X wohnt in Gümligen und zahlt dort Kirchensteuern. Sie fühlt sich aber der Metalchurch nahe. Diese befindet sich an einem anderen Ort und erhält auch nichts von den Kirchensteuern der Person X. Wenn X nun den Wunsch hätte, in der Metalchurch zu heiraten, stellt sich die Frage, ob die Metalchurch die Trauung kostenlos durchführt – oder ob sie für ihre Leistung  und die Raummiete eine Vergütung bekommt, obwohl X in Gümligen bereits Kirchensteuern bezahlt hat.»

Pfarrer Tobias Rentsch fotografiert am Freitag, 12. April 2024 in Bern. (Hauptstadt / Manuel Lopez)
Nach dem Umbau wird die Kirche leer sein und soll für Flohmärkte, Konzerte, einer Diskussionsrunden oder kirchliche Feiern genutzt werden. (Bild: Manuel Lopez)

Weil Menschen immer längere Arbeitswege auf sich nehmen und manchmal an mehreren Orten ihre Freizeit verbringen, stellt sich die Frage, ob es noch zeitgemäss sei, wenn jemand steuerrechtlich einer einzigen Kirchgemeinde angehöre. «Ich weiss noch nicht, wie eine künftige Lösung aussehen könnte, aber der Wille ist da, hier flexibler zu werden», sagt Huber. Die Kirche könne dies aber nicht im Alleingang regeln. Dazu müssten wohl einige staatliche und kirchliche Rechtsgrundlagen überarbeitet werden.  

Hier gehe es aber vorerst darum, innovative Projekte zu entdecken und zu fördern. Diese definieren laut Huber ihr Engagement und ihr Ziel selbst. Innovation bringe aber immer auch Unsicherheit mit sich, sagt sie. «Der Fonds fördert neue Formen kirchlicher Präsenz, aber wie sich das schlussendlich entwickelt, wissen wir nicht genau.» Es sei auch nur bedingt vorhersehbar, inwiefern es gelinge, ein Projekt unter dem breiten Kirchendach zu integrieren.  

Die studierte Theologin hat für die Initiative eine Management-Weiterbildung gemacht. Das zeigt sich auch an ihrer Wortwahl, wenn sie von Innovationen und Vernetzung sowie vom Erproben, Entwickeln und Implementieren der Projekte spricht. 

Kirche als Eventlokal

Franziska Huber ist nicht die einzige, die Wirtschaftsvokabular nutzt. Kirchenratspräsident Marco Ryter spricht in wirtschaftlichen Kategorien über den Umbau der Markuskirche: Er sieht «grosses Potenzial» im zentralen Standort der Kirche. Er will nach dem Umbau Synergien nutzen, dass zum Beispiel nicht nur eine Trauung in der Kirche stattfindet, sondern das ganze anschliessende Fest auf dem Areal ermöglicht wird. Deshalb werde in die neue Markuskirche ein Bistro mit Gewerbeküche eingebaut. Auch Vereine könnten so ihren Stammtisch im kirchlichen Bistro oder in einem abgetrennten Bereich organisieren. «Wir müssen vom Produkt aus denken», argumentiert Ryter. Kirchen als Bauten seien Werkzeuge.

Aus theologischer Sicht spreche nichts dagegen, wirtschaftlicher zu denken, findet Tobias Rentsch, Pfarrer der beiden reformierten Kirchen im Berner Nordquartier. «Die Kirche wird in Zukunft auf Einnahmen neben den Kirchensteuern angewiesen sein.» Sein Hauptargument ist die Verkündigung des Evangeliums: «Wir glauben, dass Gott alle Menschen liebt, deshalb sollen alle Menschen geliebt werden». Das drücke sich zum Beispiel so aus, dass sich auch sozial gefährdete Menschen im Bistro ohne Konsumzwang treffen können.

Pfarrer Tobias Rentsch fotografiert am Freitag, 12. April 2024 in Bern. (Hauptstadt / Manuel Lopez)
Pfarrer Tobias Rentsch würde sich auch nach dem Umbau über Techno in der Kirche freuen. (Bild: Manuel Lopez)

Trotzdem sei klar, dass nicht alle Menschen, die die Kirche bisher besucht haben, die Zwischennutzung oder den Umbau gutheissen. Weil sie einen religiösen Bezug zu den Räumen hätten: «Menschen wurden hier getauft, gehen in den Gottesdienst, haben geheiratet oder jemanden beerdigt.» Aber letztlich seien die Räume aus reformierter Sicht wie jeder andere Raum. Man dürfe sie für viele unterschiedliche Projekte nutzen, sagt Rentsch.

Nicht alle Menschen fänden das Gleiche gut. Wichtig ist Rentsch aber, dass verschiedene Meinungen Platz haben. Wir müssen den Menschen genau gleich zuhören, die das Bewährte mögen, wie auch denen mit neuen Ideen. «Der Austausch verschiedener Meinungen und Ansichten kann Gräben kleiner machen und vielleicht sogar schliessen», sagt er.

Gleichzeitig gehe es ihm weder bei der Zwischennutzung noch bei der Umstrukturierung der Kirche darum, neue Kircheneintritte zu generieren. «Ich stehe nicht am Morgen auf und denke, heute muss ich die Kirche retten.» Es sei geplant, die Zwischennutzung im Sommer zu evaluieren um herauszufinden, welche Wirkung die Veranstaltungen auf die Quartierbewohner*innen hatten. 

Wie stark die Kirche in Bewegung bleibt und ob es auch nach dem Umbau wieder Techno in der Kirche geben wird, wird sich also noch zeigen. Pfarrer Rentsch würde sich jedenfalls darüber freuen.

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