Wie das Klimaurteil Bern betrifft
Netto Null bis 2050: Das schreibt die Berner Verfassung vor. Das Urteil der Klimaseniorinnen erinnert an dieses Ziel. Die Berner Behörden haben den Weckruf noch nicht gehört.
Die Klimaseniorinnen haben Recht erhalten. Die Schweiz unternimmt zu wenig, um die Klimaerhitzung zu bekämpfen und ihre Bevölkerung vor deren Auswirkungen zu schützen.
Die Schweiz verletzt zwei Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK): Das Recht auf Privat- und Familienleben und das Recht auf ein faires Verfahren. Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag. Die Bundesversammlung hat die EMRK 1974 genehmigt und die Schweiz hat sich somit verpflichtet, die Konvention einzuhalten und die Gerichtsurteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) umzusetzen.
Bund, Kantone und Gemeinden haben sich also daran zu halten. Folglich auch Stadt und Kanton Bern. Wie wirkt sich das Urteil auf ihre Klimapolitik aus?
«Stadt und Kanton Bern sollten sich vom Urteil angesprochen fühlen», sagt Evelyne Schmid im Gespräch mit der «Hauptstadt». Sie ist Professorin für Völkerrecht an der Universität Lausanne und hat sich auf Menschenrechtsschutz spezialisiert. Das Urteil richte sich an «die Schweiz» als Staat – und die bestehe eben aus Bund, Kantonen und Gemeinden. «Es braucht alle, um auf Klimakurs zu kommen», so Schmid.
Stadt und Kanton sollten das Urteil lesen
Der EGMR schreibt nicht vor, wie die Schweiz das Urteil umsetzen muss. Er stellt die Vertragsverletzung vor, die Massnahmen zur Behebung des Problems bestimmt das Land selbst. Die Bundesverfassung regelt, welche Aufgaben der Bund übernimmt und welche die Kantone. Und die Kantone regeln jeweils, welche Aufgaben sie übernehmen und welche sie ihren Gemeinden, wozu auch die Städte gehören, überlassen.
In seinem Urteil hat sich der EGMR auch auf Wissen gestützt, das an der Universität Bern generiert worden ist. Mit einer sogenannten Drittparteiintervention haben zwölf Forschende eine Einschätzung der für das Urteil relevanten Fragen aus ihrem Fachgebiet abgegeben. Mitgewirkt haben Expert*innen aus den Bereichen Ethik, Epidemiologie, Klimawissenschaften, Ökonomie sowie Rechts- und Politikwissenschaften. Der EGMR hat der Berner Intervention zwei Paragraphen im Urteil gewidmet (Abschnitte 402/403). Das Urteil ist öffentlich und verfügbar auf Französisch und Englisch.
Im Idealfall studieren nun alle Kantone und Gemeinden das Urteil ernsthaft und überlegen sich, wie sie – im Rahmen ihrer Kompetenzen – einen Beitrag dazu leisten können, die Emissionen zu senken, so Evelyne Schmid. Weiter würde in dieser idealen Welt der Bund das 260 Seiten lange, in Jurist*innensprache verfasste Urteil auf eine für die Kantone verständliche Art zusammenfassen und zeigen, inwiefern kantonale Kompetenzen davon betroffen sind, also eine Art «Übersetzungsarbeit» leisten. «Am besten begleitet von Veranstaltungen, an denen die Akteur*innen zusammenkommen und sich austauschen.»
In einer nicht-idealen Welt fühlen sich kaum alle Kantone und Gemeinden angesprochen, mutmasst Schmid. In diesem Fall sollte der Bund den Kantonen Unterstützung bieten und dafür sorgen, dass sie aktiv werden. Bedeutsam sei auch das Engagement von Einzelpersonen: Mitarbeiter*innen in Verwaltungen hätten grossen Einfluss darauf, wie ambitioniert die Massnahmen der jeweiligen Kantone und Gemeinden ausfallen und wie konsequent sie umgesetzt werden, erklärt Schmid. Auch Parlamentarier*innen und die Zivilgesellschaft können wachsam sein und sich einbringen, falls «die Schweiz» zu wenig unternehme; was die Klimaseniorinnen bereits angekündigt haben. Das Ministerkomitee des Europarates wird die Umsetzung des Urteils überwachen und die Schweiz wird dort Bericht erstatten müssen.
Die Rechtsgrundlage ist vorhanden
Evelyne Schmid betont, dass sich Stadt und Kanton Bern bereits zu Klima-Zielen verpflichtet haben:
In der Verfassung des Kantons Bern steht, dass der Kanton 2050 Netto Null erreichen will. Die Bevölkerung hat diesem Ziel 2021 in einer Abstimmung deutlich zugestimmt.
Auch die Stadt Bern hat ein Netto Null-Ziel: 2045 soll sie es erreichen, so steht es im Klimareglement festgeschrieben. Angestrebt wird gemäss Gesetz sogar 2035. Ausserdem enthält das Klimareglement verbindliche Absenkpfade. Diese legen fest, in welchem Tempo die Stadt ihre Emissionen reduzieren muss.
Trotz dieser Ziele hat das Urteil bei den Berner Behörden noch nicht eingeschlagen.
Die Berner Kantonsregierung habe sich noch nicht damit beschäftigt, wie sich das Urteil auf den Kanton Bern auswirkt. Das teilt die Umweltdirektion auf Anfrage der «Hauptstadt» mit. Sie könne auch nicht abschätzen, wann das der Fall sein werde.
Ähnlich klingt es in der Stadt Bern: «Wir nehmen das Urteil zur Kenntnis», sagt Gemeinderat Reto Nause, Vorsteher der Umweltdirektion, gegenüber der «Hauptstadt». Und betont: «Wir haben den Eindruck, dass die Stadt sehr gut aufgestellt ist, was Klimaschutz und CO2-Reduktion betrifft. Ich gehe darum davon aus, dass das Urteil keine Folgen für die Stadt haben wird. Es kann uns aber bei den weiteren Anstrengungen zu einem wirkungsvollen Klimaschutz unterstützen.» Nause verweist auf die Absenkpfade im Klimareglement und dass er «zuversichtlich» sei, dass die Stadt diese einhalten werde.
Nauses Aussage ist zu bezweifeln: Der 2021 publizierte Controlling-Bericht zur Energie- und Klimastrategie 2025 zeichnet ein anderes Bild. Dieses Jahr erscheint ein neuer Controlling-Bericht. Und wie es aussieht, wird auch er zeigen, dass die Stadt ihren verbindlichen Zielen hinterherhinkt.
Künftige Generationen im Blick
Die Lücke zwischen Zielen und Massnahmen ist gross, nicht nur in der Stadt Bern. Evelyne Schmid mutmasst, dass das vielleicht auch daran liegt, dass viele Menschen das Ausmass des Problems nicht erfasst hätten oder es verdrängen. «Sie genossen das schöne Wetter der vergangenen Tage und denken womöglich, dass die paar Grad, die es wärmer ist, nicht schlimm sind.» Doch der Bericht des Weltklimarats zeige klar: Selbst in einer zwei Grad wärmeren Welt im Vergleich zur vorindustriellen Zeit sei es schwierig zu leben. Menschen und die Natur könnten sich nicht unendlich und so rasch an das veränderte Klima anpassen. Aktuell steuert die Welt auf eine Erwärmung von 2,7 Grad zu.
Wenn die Emissionen nicht sofort und drastisch reduziert werden, würden die Freiheiten künftiger Generationen und auch der künftigen Politik sehr stark eingeschränkt, so Schmid. Sie bezieht sich dabei auf ein Urteil des Deutschen Bundesverfassungsgericht: Es verpflichtete Deutschland dazu, sein Klimaschutzgesetz ambitionierter auszugestalten, um die Lebensgrundlagen künftiger Generationen zu schützen.
Bezogen auf die Berner Situation heisst das: «Wenn wir jetzt nicht ausreichend Klimamassnahmen ergreifen, sind der künftige Gesetzgeber und die künftigen Regierungsmitglieder in ihrem Handlungsspielraum stark beschnitten. Sie müssen dann ständig schauen, wie sie mit bröckelnden Bergen, Extremwetter und Wassermangel umgehen», warnt Evelyne Schmid.
Sie ist aber zuversichtlich, dass das Recht einen Beitrag leisten kann, die notwendigen Klimamassnahmen zu treffen. «Doch den einen, einzigen, Impuls, das Steuer umzureissen, gibt es nicht.» Essentiell findet sie auch, dass jeder einzelne Mensch umdenken muss: «Weiter wie bisher geht nicht. Aber es gibt viele Wege, wie wir alle klimaverträglich leben können.»
In Lausanne, wo sie lehrt, nenne man das «moins, c’est mieux» – gut leben mit viel weniger. «Solche Ideen werden schnell als Utopie abgetan. Aber es gibt Forschung dazu. Sie zeigt, dass innerhalb der planetaren Grenzen ein gutes Leben möglich ist. Wir müssen nicht in Höhlen zurückkehren. Sondern weniger konsumieren, die Arbeit anders verteilen, Technologien nutzen.»
Exekutiven sollen handeln
Evelyne Schmid schliesst nicht aus, dass das Urteil einige Organisationen motiviert, jetzt gegen Stadt, Kanton oder Bund zu klagen. Solche Verfahren dauern aber lange.
Schneller ginge es, wenn die Exekutivbehörden von selbst aktiv werden: «Ihr Spielraum ist beachtlich. Wenn sie bei all ihren Entscheidungen konsequent die Klimaverträglichkeit berücksichtigen, können sie viel erreichen.» Die Verpflichtungen dazu seien ja vorhanden: Das Klimareglement der Stadt Bern und der Verfassungsartikel des Kantons.
Gerade im Bereich der Finanzen sieht sie grosses Potenzial. Wenn Stadt und Kanton, wie im Klimaschutzartikel in der Berner Verfassung vorgesehen, ihre Finanzströme «auf eine klimaneutrale und gegenüber der Klimaveränderung widerstandsfähige Entwicklung» ausrichten, bewirke das viel. Und beide hätten es auch in der Hand, wie sie die Gebäude ihrer Verwaltung nutzen, mit welchen Fahrzeugen ihre Mitarbeitenden unterwegs sind oder wie konsequent sie im öffentlichen Beschaffungswesen die Nachhaltigkeit gewichtet.
Der Ball liegt bei den Behörden. Die Klimaseniorinnen und Evelyne Schmid beobachten das Spiel. Und auch die «Hauptstadt» bleibt dran.